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Fabian Lamp: Soziale Arbeit zwischen Umverteilung und Anerkennung

Rezensiert von Prof. Dr. Günter J. Friesenhahn, 08.11.2007

Cover Fabian Lamp: Soziale Arbeit zwischen Umverteilung und Anerkennung ISBN 978-3-89942-662-5

Fabian Lamp: Soziale Arbeit zwischen Umverteilung und Anerkennung. Der Umgang mit Differenz in der sozialpädagogischen Theorie und Praxis. transcript (Bielefeld) 2007. 256 Seiten. ISBN 978-3-89942-662-5. 25,80 EUR. CH: 43,00 sFr.

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Hintergrund und Zielsetzung

Womit haben wir es in der Sozialen Arbeit am ehesten zu tun?  Seit nunmehr hundert Jahren gibt es mannigfaltige, sich z.T. widersprechende Antworten im Hinblick auf den Objektbereich, die wissenschaftstheoretische Ausrichtung, Praxisfelder und die Funktion in der Gesellschaft, die Soziale Arbeit hat oder haben soll. Diskurse haben sich abgewechselt, manchmal auch überlagert, sicherlich immer vom Willen getragen, es besser zu machen als es war. Sozialwissenschaftliche Theorien fußen auf dem und im gesellschaftlich-historisch Kontext,  sie müssen sich darauf beziehen können und das heißt dann auch, dass sie Veränderungen der gesellschaftlichen Praxis aufnehmen. 

Die derzeitige gesellschaftliche Entwicklung verweist auf eine Zunahme von Pluralität und Vielfalt. Diese Entwicklung betrifft unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche. Die Vielfalt von Lebenswelten, Lebensformen, Lebensentwürfen ist auf der individuellen Ebene für einige mit neuen Entfaltungsformen und Entwicklungsperspektiven, mit einer veränderten Chance auf gesellschaftliche Teilhabe verbunden. Auf der gesellschaftspolitischen Ebene berühren Ausdifferenzierungsprozesse aber immer auch Machtstrukturen, Diskriminierungen, Ausgrenzungen und Exklusion.

Wenn man historische Entwicklungen in den Blick nimmt, geht es nicht immer um dramatische Veränderungen, sondern auch um die Erinnerung und ggf. Neuakzentuierung  von "traditionellen" Sachverhalten, Problembereichen und Herausforderungen. Bekanntermaßen hilft ein Perspektivwechsel, die Dinge in neuem  Licht zu sehn. Ein solcher Perspektivwechsel liegt mit dem Buch von Fabian Lamp vor. Dabei darf das erkenntnistheoretische Potenzial der Kategorie "Differenz" für die Soziale Arbeit schon länger als entdeckt gelten. Burkhard Müller hatte - ohne dies so zu benennen - 1993 einen "Vorentwurf" zur differenzsensiblen Sozialen Arbeit vorgelegt und die Geschichte der Sozialen Arbeit aus unüblicher  Perspektive interpretiert. Seine These lautete, dass im Kontext der Industrialisierung die fremden Lebensweisen "Anlass für die Entstehung der sozialen Arbeit waren. Der Umgang mit den Fremden (Arme, Behinderte, Ausgegrenzte etc), die Intervention in ihre Lebenslage, war nicht nur eine bzw. die 'soziale Frage', sondern eine sittlich-religiöse. Soziale Arbeit hatte immer die Aufgabe, den Fremden zu helfen und die Kontrolle über die Fremden und Andersartigen zu gewährleisten". Müller ging davon aus, dass interkulturelle und nicht soziale Konflikte und ihre Lösung am Anfang der Sozialen Arbeit standen (vgl. Müller 1993). Es geht dann (weniger) um  sozialpolitische Befriedung in sozialen, materiellen Notlagen als um sozialkulturelle Anerkennung von fremden Lebensformen und -entwürfen.

Seitdem hat sich diese Perspektive durch die Soziale Arbeit durchgeschlängelt und dabei konzeptionsrelevante Spuren im Hinblick auf die  Thematisierung von Vielfalt und Anerkennung von Verschiedenheit hinterlassen.

  • Seibel/Schäfer/Jung haben in "Managing Diversity" (1994) interdisziplinäre Ansätze und Verbindungen zwischen Sozialpädagogik und Sozialwirtschaft/Economie Sociale aufblitzen lassen.
  • Annedore Prengel hat die interkulturelle, die Gender- und die Integrations- Perspektive unter der Leitvorstellung der "Pädagogik der Vielfalt" (1995) gebündelt.
  • Hafeneger/Schenkenbourg/Scherr haben in der "Pädagogik der Anerkennung" (2002) das Thema insbesondere mit der  Jugendarbeit verknüpft.
  • Forschungsprojekte  wie z. B. "Difference troubles"  verankern dieses Thema zunehmend in der Aus -und Weiterbildung von Padagog/innen (vgl. Sielert 2002; http://www.sielert.uni-kiel.de/forschung/heterogenitaet.htm)
  • .
  • Im Sammelband von Kleve/Koch/Müller "Differenz und Soziale  Arbeit" (2003) kommen die Autoren/innen zu dem Ergebnis, dass der kompetente Umgang mit Verschiedenheit und  Differenz zu den herausragenden Herausforderungen gehöre, die sich in komplexen modernen Gesellschaften stellen. Sie müssten von Sozialarbeitern kompetent bearbeitet werden können.
  • Das hessische Sozialministerium (2003)  versuchte mit der Tagung "Diversity" Verantwortliche in Politik und Verwaltung für verhaltens- und Einstellungsveränderungen zu sensibilisieren.
  • Michael  Stuber (2004) postuliert die Anerkennung von Vielfalt als gewinnorientiertes und ethisch vertretbares  Unternehmensprinzip.
  • Pincus (2006) legt eine systematisch-pragmatische englischsprachige  Einführung vor, mit deren Hilfe die Kerndimensionen von Diversity im Hinblick auf die amerikanische Gesellschaft erschlossen und analysiert werden können aber auch auf andere Kontexte übertragen werden kann.
  • Hubertus Schröer (2006) und Hahn (2007) haben kritisch darauf hingewiesen, dass Entwicklungen bzw. die Adaption  von Diversity-Konzepten für den Bereich der Sozialen Arbeit immer von machtanalytischen und ethischen Reflexionen begleitet werden müssen.

In all diesen Publikationen geht es vereinfacht gesagt immer um die Thematisierung, Analyse und Überbrückung von materieller und/oder kultureller Ungleichheit und Verschiedenheit. Diesem Sachverhalt korrespondiert als Lösungsstrategie die sozialpolitische Umverteilung einerseits und die ethische Forderung nach sozialkultureller Anerkennung anderseits. Kompetent werden und bleiben Sozialarbeiter/innen, wenn sie differenzsensible Perspektiven einnehmen und diese handlungswirksam werden lassen.

Dieser  kurze Streifzug macht zumindest zweierlei deutlich: Es gibt für dieses Diskursfeld noch keine klare Terminologie und  es geht nicht mehr entweder um materielle Ungleichheit oder kulturelle Verschiedenheit, sondern um die Verschränkung der Perspektiven. Diese Verschränkung  ist nicht auf nationale Perspektiven zu reduzieren, sondern weist vielfältige transkulturelle Bezüge auf. Schierup/Hansen/Castles (2006) sprechen in diesem, europäisch akzentuierten Zusammenhang von "Dual Crisis" und kennzeichnen damit die Tatsache, dass der Umbau  des  Wohlfahrtstaates, d.h. die  Verschiebung des Koordinatensystem im Hinblick  auf die Zuständigkeit für die soziale Sicherung zusammenfällt mit einer zunehmenden Ethnisierung sozialer Beziehungen, die bis zum offenen Rassismus reichen. "In the ongoing battle for the consolidation of European integration, an official rhetoric of citizenship and solidarity faces multiple and increasingly racialized process of social exclusion of which the leading political elites are well aware. It expresses a serious dilemma ( S. 5).

Aufbau und Inhalt

Vor diesem Hintergrund nimmt uns Lamp auf eine differenzsensible Zeitreise durch das "sozialpädagogische Jahrhundert" (Thiersch) mit. Sein  Ansatzpunk: Differenzen und Verschiedenheit lassen sich nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum verorten, sondern bedürfen der Klärung in einem historisch-gesellschaftlichen Kontext. Begriff und Konzept der Differenz verlangen geradezu danach, den Komplementärbegriff zu benennen: Gleichheit - und dieser  Begriff rückt nahe an die Frage der Gerechtigkeit heran. 

Lamp identifiziert die folgenden Differenzverhältnisse, die für die  Soziale Arbeit  seit ihrer Entstehung  bis heute von Bedeutung sind.

  • Die  Differenz von arm und reich oder anders : von Bürgertum und  Proletariat, von Kapital und Arbeit  im sozialökonomischen Klassensystem.
  • Die Differenz der Generationen
  • Die Geschlechterdifferenz
  • Die Differenz von Normalität und Abweichung

"Die Differenz   kann aus der Sicht der Sozialen Arbeit  gleichsam als  Urdifferenz  in dem Sinne gekennzeichnet werden, als der Sozialen Arbeit  gesellschaftlich die Aufgabe zugewiesen  wird, zwischen Individuum und Gesellschaft zu vermitteln…" (Lamp 2007, S. 13).

  • Die Differenz zwischen zugewanderter und einheimischer Bevölkerung .
  • Zusätzlich zur Spannungslinie  der ethnischen Herkunft ist in dieses Konfliktfeld  verstärkt die  Spannungslinie  verschiedener Religionen eingewoben.

Lamp schließt sich  Thiersch und Böhnisch an und kommt zu der Aussage , dass aus der Sicht der  Sozialen Arbeit Diversity in zweifacher Weise zu managen sei, nämlich als "Arbeit an der Schaffung gerechter Zugänge zu Ressourcen der Lebensgestaltung wie zur Erreichung  gesellschaftlich  anerkannter Ziele und Integrationswege". In der Zusammenfassung   heißt dies: "Im sozialpädagogischen Zielpunkt der Schaffung von Zugangsgerechtigkeit müssen also zum Einen die sozialstrukturelle  Seite, also die Frage nach der sozialökonomischen Verteilung gesellschaftlicher Güter, sowie die Lebenslagen der  Personen reflektiert werden.

Zum anderen darf die interaktionistische Seite der Gleichheit und Gerechtigkeit, die Anerkennung im Sinne des Respekts vor der Eigenheit des Anderen, gerade in pädagogischen Kontexten, nicht vernachlässigt werden" (a.a.O., S. 14). Es geht darum, "differenzsensibel" zu werden und angemessen   zu handeln. Daraus ergeben sich für die Soziale Arbeit eine Reihe von Anforderungen. Entsprechende Kenntnisse über  Differenzdiskurse, die die Gesellschaft strukturieren (Ungleichheit und Ausgrenzung, Abweichung und Normalität, Nähe und Fremdheit) müssen nachgezeichnet werden können und auch in ihrer Konstruiertheit und Veränderbarkeit  erkannt werden. Es geht letztlich darum, "die Wirkmächtigkeit und die herrschaftlichen  Wirkungen dieser Konstruktionen auf das Individuum zu reflektieren. Eine Hierarchisierung von Differenz  ist damit nicht verbunden. Es kann nicht zwangsläufig von vornherein für alle Theorie und Praxisfelder der Sozialen Arbeit eine wesentliche Leitdifferenz, etwa die Differenz der Sozialen Ungleichheit ausgemacht werden, unter die die anderen Differenzverhältnisse subsumiert werden können" ( a.a.O., S. 206). Dies erfordert eine  Haltung, die Anerkennung als Querschnittsthema in verschiedenen pädagogischen Handlungsfeldern begreift  und dies, muss von Pädagoginnen und Pädagogen systematisch erlernt werden" (Lamp  2007, S. 176).

Lamp weist aber auch darauf hin,  wie nachhaltig der deutsche Idealismus und vor allem Hegel  die Struktur unseres Denkens bis heute beeinflusst haben. "Der Verstand setzt, um Dinge erkennen zu können, einen  abstrakten begrifflichen Gegensatz, eine binäre Opposition. Diese binäre Opposition stellt die Grundlage des Nachdenkens darüber dar,  wie die Welt und  die in der Welt befindlichen Phänomene geordnet sind. Nun bleibt das dialektische Denken aber nicht beim Erkennen der binären Opposition stehe, sondern versucht, aus beiden Seiten, ganz im Sinne des monistischen  Denkens eine  neue Einheit herzustellen" (a.a.O., S. 46). Kurzum: es geht immer um Homogenisierung und Eindeutigkeit, um die Herstellung einer  klaren Ordnung.

Welche Bedeutung die "Ordnung der Dinge", die versuchte Auflösung der  Heterogenität für die Sozialpädagogik hatte und hat, macht Lamp in  unterschiedlichen Zeitfenstern

  • Die Situation an der Schwelle zum 20. Jahrhundert
  • Soziale Arbeit im Nationalsozialismus
  • Die Differenzreflexion in der Sozialpädagogik nach 1968 und in ausgewählten Diskursanalysen 
  • Die Bedeutung  von Differenzen in der  Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit
  • Differenzsensible  Konzepte: Die Heterogenität als Ausgangspunkt sozialwissenschaftlicher Reflexion

deutlich, bevor er zum  Resümee ansetzt.

Wie so oft bei Zeiteinteilungen fragt man sich auch hier: was passierte  eigentlich  zwischen 1945 und 1968 in der Sozialen Arbeit? Der in der Fußnote auf S. 67 versteckte Hinweis, man möge bei Helga Marburger (Theorien und Konzepte der Sozialpädagogik; 1979) nachlesen,  überbrückt diese Phase galant. Der  Wechsel von der historischen zur theoretischen  Perspektive erläutert der Autor so: Um 1990 haben sich "die einzelnen pädagogischen Handlungs- und Theoriefelder (.) ausdifferenziert und untereinander  häufig in theoretischer und praktischer Hinsicht befruchtet. Aus diesem Grund wird in der Folge der bisher bestrittene Pfad der historischen Analyse verlassen. Es werden nicht die einzelnen Differenzen in ihrer sozialpädagogischen Reflexion analysiert, sondern es werden die  wesentlichen theoretischen Entwicklungen der Sozialen Arbeit beschrieben und untersucht, wie sie sich innerhalb dieser Theorierichtung der Differenzreflexion vollzieht"( S. 119). In diesem Zeitrahmen  verändert sich die Sichtweise, eine Veränderung die bis heute  verstärkt  anhält. In den Worten des Autors: "Eine wesentliche gesellschaftliche, und deswegen auch für die Sozialpädagogik relevante Entwicklung, ist damit bereits angesprochen: die steigende Anzahl von relevanten Differenzverhältnissen  verweist auf das Phänomen  der Pluralisierung  von Lebenswelten…" (Lamp 2007, S. 69), "das Verhältnis von Abweichung und Normalität beginnt sich zu bewegen" (a.a.O., S. 92), "durch das  Erscheinen verschiedener Subkulturen und durch das  Hinterfragen gesellschaftlicher Normen durch die  verschiedenen sozialen Bewegungen, begann sich das  Verhältnis von Normativität und Normalität zu flexibilisieren"( a.a.O., S. 99).  "Das Auseinanderfallen  von Normativität und Normalität bedeutet für die Soziale Arbeit, dass ihr fortan weniger klare, auch einschränkende, Muster von Normalität zur Verfügung stehen, aus denen unmittelbar pädagogische Zielsetzungen abgeleitet werden können. … Durch die nun festzustellenden Dominanz des flexiblen  Normalismus werden die  Handlungsspielräume  des Individuums und damit potenziell seine  Teilhabechancen erweitert" (a.a.O.,  S. 117).  Für die Soziale Arbeit bedeutet diese Verschiebung, dass  sie die ihr auferlegten Kontrollfunktion zugunsten von Hilfe akzentuieren kann, "denn  die Tatsache, dass  nicht mehr  auf die vorgegeben Normativität zurückgegriffen werden kann und muss, entlastet die Soziale Arbeit zumindest partiell von ihren kontrollierenden Tätigkeiten" (ebd.). Die Lebenswelt der Adressaten, ihre Bewältigungsstrategien, ihre Bemühungen einen gelingenderen Alltag zu gestalten kommen damit in den Blick. Es geht letztlich darum, beim Blick auf das Individuum dem "Eigenrecht des  Klienten gerecht zu werden. Mit anderen Worten: es ist der  Versuch der Lebensweltorientierung , dem Aspekt der  Anerkennung (kursiv im Original, GJF) gerecht zu werden (a.a.O,  S. 137). Es gelte in der lebensweltorientierten Perspektive, die Vielfalt lebensweltlicher Erfahrungen anzuerkennen und das eventuell Fremde auch als  fremdes  stehen zu lassen.

Diese Argumentationsstruktur  unterfüttert der Autor  mit einer Vielzahl von Belegen aus  unterschiedlichen Bereichen, in denen Differenz eine entscheidende Rolle spielte: zum Beispiel Jugend und Delinquenz, Sexualerziehung, Sozialpsychiatrie, Behindertenpädagogik, interkulturelle Pädagogik.  Fundiert werden dabei die  wissenschaftstheoretischen Bezugspunkte, die Lamp vor allem  in der Kritischen Theorie erkennt, ausgebreitet. Und in deren Fundament   sieht    der Autor  allerdings  eine  Engführung, die es zu überwinden  gelte.

Zu Beginn des  letzten Kapitels "Differenzsensible Konzepte" heißt es dementsprechend: "Die Lebensweltorientierte Soziale Arbeit  reflektiert…Differenzverhältnisse vor allem in Rückbezug auf die politisch-ökonomischen Verhältnisse im Kapitalismus. Es stehen mithin vor allem jene Differenzverhältnisse im Mittelpunkt, die durch ein oben und unten gekennzeichnet sind, die also die sozioökonomischen Ungleichheiten kennzeichnen. … Die Soziale  Arbeit gerät damit in die Gefahr, durch die enge diskursive Bindung an den Sozialstaat, vor diesem Hintergrund  sie bis  zum Ende  des 19. Jahrhunderts entstand , an den sie materiell zur Zeit ihrer Expansion in den 1970er Jahren so eng gebunden war und dies bis heute noch ist, in überwiegend defensiver Weise neoliberale politische Entwicklungen anzuprangern, die sie selbst nur begrenzt imstande ist, aufzuhalten" (a.a.O., S. 143).

Lamp präsentiert im Folgenden  kurz und prägnant große (breitenwirksame) und engmaschigere Diskurse, die die neue Zielorientierung der Sozialen Arbeit in den Blick nehmen: die zweidimensionale Konzeption von Gerechtigkeit, die Anerkennung als Komplementärbegriff zur Umverteilung versteht.

Die Postmoderne hat den Abschied von der Eindeutigkeit und die Unhintergehbarkeit von Pluralität postuliert, Konzepte der Dekonstruktion haben die Zufälligkeit von vermeintlich feststehender Normalität entlarvt ("was sozial konstruiert wurde, kann auch dekonstruiert werden", a.a.O., S. 154). Die Cultural Studies  betonen , dass  Kulturen  in sich nie homogen   und "allseits Hybridisierungen und  kulturelle Interferenzen zu erwarten sind" (a.a.O., S. 158). Die Pädagogik der Vielfalt verbindet die  Anerkennung  der Differenz mit  der Hoffnung, …"in der Erziehung am Abbau  von Hierarchien  zu arbeiten. Indem sie sich gegen  Behindertendiskriminierung, Frauenfeindlichkeit und  Ausländerfeindlichkeit, auch Rassismus wendet, sind sie einer emanzipatorischen  Pädagogik verpflichtet" (a.a.O., S. 174) und das  Diversity Management betont, dass Unterschiede für ein Unternehmen nutzbar gemacht werden können und sollen. Schließlich fordert die Inclusive Education  auf "der Basis von sozialer Gerechtigkeit allgemeine Teilhabeberechtigung  und Partizipation in inklusive Beschulung  aller Kinder" (a.a.O., S. 187).

Lamp führt diese doch sehr unterschiedlichen   Ansätze  für die Soziale Arbeit zusammen. Im Rekurs auf die Systemtheorie wird klar, dass die Konstruktion einer in sich eindeutigen, geschlossenen  Theorie der Gesellschaft unmöglich wird. Differenz  und nicht Eindeutigkeit wird der Ausgangspunkt der Theoriebildung. 

Was auf theoretische Ebene nachvollziehbar ist,  erweist sich für pädagogische Praxis indes als sperrig. Konkret: Auf welches Ziel soll man in pädagogischen Kontexten verweisen bzw. verpflichten, wenn alles auch ganz anders sein könnte? Schlechte  Aussichten für Pädagogen - auch wenn der Autor versöhnlich formuliert: "Normativität und Normalität  sind gleichwohl in der  Dekonstruktion nicht einfach verschwunden" (a.a.O.; S. 197).

Soweit, so gut  kann man hier sagen und  weiterfragen: Welche Folgerungen ergeben sich aus dieser differenzsensiblen Analyse für die Soziale Arbeit? Die letzten  rund 20 Seiten gehören der Beantwortung dieser Frage. Wichtig dabei ist dem Autor "ein Problembewusstsein in Bezug auf Differenz, Heterogenität, Hybridität und Vielfalt  sowohl in ihrer chancenreichen Dimension der Verwirklichung  eines eigenen  Lebens als auch in der Dimension neu entstehender Exklusionsrisiken" ( a.a.O.; S. 203). Es geht darum, weder die sozialstrukturelle  Dimension der  sozialökonomischen Verteilung gesellschaftlicher Güter noch die interaktions-theoretische Dimension der  Gleichheit - die Anerkennung im Sinne des Respekts vor der Eigenheit des Anderen - in pädagogischen Kontexten zu vernachlässigen.

"Ausgangspunkt für die Ausbildung einer differenzsensiblen Haltung bleibt dabei der Respekt vor der jeweiligen  Inszenierung des Einzelnen." ( a. a. O ., S. 155).

Um zu klären, wo die differenzsensible Perspektive ansetzen kann und wie sie umgesetzt werden soll, richtet der Autor am Ende seinen Blick auf folgende  Bereiche:

  • das Soziale  Feld bzw. die Gesellschaft
  • das Individuum
  • die Adressaten
  • die Fachkräfte
  • die sozialen Beziehungen
  • die Institutionen der Sozialen Arbeit
  • die  wissenschaftliche Disziplin Soziale Arbeit.

Das Anerkennen der Verschiedenheit setzt insbesondere  die Erkenntnis voraus, dass der eigene Blick auf das Gegenüber immer vorstrukturiert ist durch eigene Handlungslogiken, Vorerfahrungen und Wissensbestände" ( a.a.O., S.212).

Zur Umsetzung der differenzsensiblen  Perspektive empfiehlt  Lamp die Etablierung eines transnationalen Blicks sowie eine  vermehrte  interdisziplinäre Orientierung  (vgl. a.a.O., S. 224). "Wenn Soziale Gerechtigkeit  auf die  Gestaltung von alltäglichen Lebensverhältnissen zielt. und als Zugangsgerechtigkeit konkretisiert wird, bedarf es  von pädagogischer Seite  einer vorausgehenden Analyse, die verschlossene  Zugänge zu Ressourcen der Lebensgestaltung  identifiziert… Die in dieser  vorgestellten  differenzsensiblen Konzepte  liefern der Sozialen Arbeit  dafür eine wertvolle Reflexionshilfe" (a.a.O., S. 225).

Fazit

Lamps Buch macht klar: Diversity beginnt sich als neues interdisziplinäres  Paradigma zu etablieren. In seinem grundlegenden Verständnis steht das Diversity Konzept in der Tradition einer positiven Anthropologie. Und so ist aus Lamps sozialpädagogischer Sicht konsequent, die Hoffnung auf eine Veränderung durch pädagogische Interventionen nicht aufzugeben. Die Wertschätzung des Individuums in seiner Einzigartigkeit steht im Vordergrund. Eine Konsequenz aus dieser Sichtweise ist die Schärfung des Blicks für die konstruierten Differenzlinien in unserer Gesellschaft. Kategorien wie etwa Kultur, Geschlecht oder Klasse sind nur vermeintlich naturhaft und unveränderbar.

Vor dem Hintergrund gesellschaftlich vorherrschender Diskurse wird eine klare Ordnung allerdings immer wieder zwanghaft durchzusetzen versucht, indem die unterschiedlichen Realitäten ausgeblendet und Positionen verallgemeinert werden. Lamps Buch hilft dabei, sich nicht in  der vermeintlichen Eindeutigkeit  zu verfangen.

Zusätzliche Literatur

  • Hafeneger, Benno/Henkenborg, Peter/Scherr, Albert (Hrsg.) (2002): Pädagogik der  Anerkennung. Schwalbach: Wochenschau-Verlag
  • Hahn, Kathrin (2007): Vielfalt und Differenz aus der Perspektive der Sozialen  Arbeit. In: sozialmagazin 3/2007, S. 20-27
  • Hessisches Sozialministerium (2003): Diversity. Dokumentation der Fachtagung  des Hessischen Sozialministeriums am 25.April 2003 in Wiesbaden. http://www.sozialnetz-hessen.de/homosexualitaet/FachtagDiv/Fachtag_Diversity.html
  • Jung, Rüdiger, H/Schäfer, Helmut M./Seibel, Friedrich W.(Hrsg.) (1994): Vielfalt gestalten - Managing Diversity. Frankfurt: IKO-Verlag
  • Kleve, Heiko/Koch;Gerd/Müller, Matthias(Hrsg.) (2003): Differenz und Soziale Arbeit . Sensibilität im Umgang mit dem Unterschiedlichen. Berlin: Schibri Verlag
  • Müller, Burkhard (1993): Das Soziale und die Fremden. In: neue praxis 1-2/1993, S.1-11
  • Pincus, Fred, L. (2006): Understanding Diversity. An introduction to Class, Race, Gender & Sexual Orientation. Boulder and London: Lynne Riemer Publishers
  • Prengel, Annedore (1995): Pädagogik der Vielfalt. Opladen: Leske und Budrich
  • Schierup, Carl-Ulrik/Hansen,Peo/Castles, Stephen (2006): Migration, Citizenship, and the European Welfare State. New York: Oxford University Press
  • Schröer,  Hubertus (2006): Diversity. Vielfalt gestalten. In:  Soziale Arbeit und Migration 1/2006, S, 60-68
  • Sielert, Uwe (2002): Differences Troubles - Anerkennungskultur als Basis  einer  Pädagogik der Vielfalt. In: Ministerium  für Justiz, Frauen, Jugend- und Familie des Landes Schleswig-Holstein (Hrsg): Pädagogik der Vielfalt. Konzepte gegen Diskriminierung und ihre praktische Umsetzung. Dokumentation eines Fachtages  vom 21. März 2002 in Kiel im Rahmen des Projektes Difference Troubles,
  • Stuber, Michael ( 2004): Diversity. Das Potenzial von Vielfalt nutzen - den Erfolg durch Offenheit steigern. Neuwied: Luchterhand

Rezension von
Prof. Dr. Günter J. Friesenhahn
Professor für European Community Education Studies im Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Koblenz

Es gibt 2 Rezensionen von Günter J. Friesenhahn.

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Zitiervorschlag
Günter J. Friesenhahn. Rezension vom 08.11.2007 zu: Fabian Lamp: Soziale Arbeit zwischen Umverteilung und Anerkennung. Der Umgang mit Differenz in der sozialpädagogischen Theorie und Praxis. transcript (Bielefeld) 2007. ISBN 978-3-89942-662-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/5126.php, Datum des Zugriffs 11.12.2024.


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