Fabian Lamp: Soziale Arbeit zwischen Umverteilung und Anerkennung
Rezensiert von Prof. Dr. Günter J. Friesenhahn, 08.11.2007
Fabian Lamp: Soziale Arbeit zwischen Umverteilung und Anerkennung. Der Umgang mit Differenz in der sozialpädagogischen Theorie und Praxis. transcript (Bielefeld) 2007. 256 Seiten. ISBN 978-3-89942-662-5. 25,80 EUR. CH: 43,00 sFr.
Hintergrund und Zielsetzung
Womit haben wir es in der Sozialen Arbeit am ehesten zu tun? Seit nunmehr hundert Jahren gibt es mannigfaltige, sich z.T. widersprechende Antworten im Hinblick auf den Objektbereich, die wissenschaftstheoretische Ausrichtung, Praxisfelder und die Funktion in der Gesellschaft, die Soziale Arbeit hat oder haben soll. Diskurse haben sich abgewechselt, manchmal auch überlagert, sicherlich immer vom Willen getragen, es besser zu machen als es war. Sozialwissenschaftliche Theorien fußen auf dem und im gesellschaftlich-historisch Kontext, sie müssen sich darauf beziehen können und das heißt dann auch, dass sie Veränderungen der gesellschaftlichen Praxis aufnehmen.
Die derzeitige gesellschaftliche Entwicklung verweist auf eine Zunahme von Pluralität und Vielfalt. Diese Entwicklung betrifft unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche. Die Vielfalt von Lebenswelten, Lebensformen, Lebensentwürfen ist auf der individuellen Ebene für einige mit neuen Entfaltungsformen und Entwicklungsperspektiven, mit einer veränderten Chance auf gesellschaftliche Teilhabe verbunden. Auf der gesellschaftspolitischen Ebene berühren Ausdifferenzierungsprozesse aber immer auch Machtstrukturen, Diskriminierungen, Ausgrenzungen und Exklusion.
Wenn man historische Entwicklungen in den Blick nimmt, geht es nicht immer um dramatische Veränderungen, sondern auch um die Erinnerung und ggf. Neuakzentuierung von "traditionellen" Sachverhalten, Problembereichen und Herausforderungen. Bekanntermaßen hilft ein Perspektivwechsel, die Dinge in neuem Licht zu sehn. Ein solcher Perspektivwechsel liegt mit dem Buch von Fabian Lamp vor. Dabei darf das erkenntnistheoretische Potenzial der Kategorie "Differenz" für die Soziale Arbeit schon länger als entdeckt gelten. Burkhard Müller hatte - ohne dies so zu benennen - 1993 einen "Vorentwurf" zur differenzsensiblen Sozialen Arbeit vorgelegt und die Geschichte der Sozialen Arbeit aus unüblicher Perspektive interpretiert. Seine These lautete, dass im Kontext der Industrialisierung die fremden Lebensweisen "Anlass für die Entstehung der sozialen Arbeit waren. Der Umgang mit den Fremden (Arme, Behinderte, Ausgegrenzte etc), die Intervention in ihre Lebenslage, war nicht nur eine bzw. die 'soziale Frage', sondern eine sittlich-religiöse. Soziale Arbeit hatte immer die Aufgabe, den Fremden zu helfen und die Kontrolle über die Fremden und Andersartigen zu gewährleisten". Müller ging davon aus, dass interkulturelle und nicht soziale Konflikte und ihre Lösung am Anfang der Sozialen Arbeit standen (vgl. Müller 1993). Es geht dann (weniger) um sozialpolitische Befriedung in sozialen, materiellen Notlagen als um sozialkulturelle Anerkennung von fremden Lebensformen und -entwürfen.
Seitdem hat sich diese Perspektive durch die Soziale Arbeit durchgeschlängelt und dabei konzeptionsrelevante Spuren im Hinblick auf die Thematisierung von Vielfalt und Anerkennung von Verschiedenheit hinterlassen.
- Seibel/Schäfer/Jung haben in "Managing Diversity" (1994) interdisziplinäre Ansätze und Verbindungen zwischen Sozialpädagogik und Sozialwirtschaft/Economie Sociale aufblitzen lassen.
- Annedore Prengel hat die interkulturelle, die Gender- und die Integrations- Perspektive unter der Leitvorstellung der "Pädagogik der Vielfalt" (1995) gebündelt.
- Hafeneger/Schenkenbourg/Scherr haben in der "Pädagogik der Anerkennung" (2002) das Thema insbesondere mit der Jugendarbeit verknüpft.
- Forschungsprojekte wie z. B. "Difference troubles" verankern dieses Thema zunehmend in der Aus -und Weiterbildung von Padagog/innen (vgl. Sielert 2002; http://www.sielert.uni-kiel.de/forschung/heterogenitaet.htm) .
- Im Sammelband von Kleve/Koch/Müller "Differenz und Soziale Arbeit" (2003) kommen die Autoren/innen zu dem Ergebnis, dass der kompetente Umgang mit Verschiedenheit und Differenz zu den herausragenden Herausforderungen gehöre, die sich in komplexen modernen Gesellschaften stellen. Sie müssten von Sozialarbeitern kompetent bearbeitet werden können.
- Das hessische Sozialministerium (2003) versuchte mit der Tagung "Diversity" Verantwortliche in Politik und Verwaltung für verhaltens- und Einstellungsveränderungen zu sensibilisieren.
- Michael Stuber (2004) postuliert die Anerkennung von Vielfalt als gewinnorientiertes und ethisch vertretbares Unternehmensprinzip.
- Pincus (2006) legt eine systematisch-pragmatische englischsprachige Einführung vor, mit deren Hilfe die Kerndimensionen von Diversity im Hinblick auf die amerikanische Gesellschaft erschlossen und analysiert werden können aber auch auf andere Kontexte übertragen werden kann.
- Hubertus Schröer (2006) und Hahn (2007) haben kritisch darauf hingewiesen, dass Entwicklungen bzw. die Adaption von Diversity-Konzepten für den Bereich der Sozialen Arbeit immer von machtanalytischen und ethischen Reflexionen begleitet werden müssen.
In all diesen Publikationen geht es vereinfacht gesagt immer um die Thematisierung, Analyse und Überbrückung von materieller und/oder kultureller Ungleichheit und Verschiedenheit. Diesem Sachverhalt korrespondiert als Lösungsstrategie die sozialpolitische Umverteilung einerseits und die ethische Forderung nach sozialkultureller Anerkennung anderseits. Kompetent werden und bleiben Sozialarbeiter/innen, wenn sie differenzsensible Perspektiven einnehmen und diese handlungswirksam werden lassen.
Dieser kurze Streifzug macht zumindest zweierlei deutlich: Es gibt für dieses Diskursfeld noch keine klare Terminologie und es geht nicht mehr entweder um materielle Ungleichheit oder kulturelle Verschiedenheit, sondern um die Verschränkung der Perspektiven. Diese Verschränkung ist nicht auf nationale Perspektiven zu reduzieren, sondern weist vielfältige transkulturelle Bezüge auf. Schierup/Hansen/Castles (2006) sprechen in diesem, europäisch akzentuierten Zusammenhang von "Dual Crisis" und kennzeichnen damit die Tatsache, dass der Umbau des Wohlfahrtstaates, d.h. die Verschiebung des Koordinatensystem im Hinblick auf die Zuständigkeit für die soziale Sicherung zusammenfällt mit einer zunehmenden Ethnisierung sozialer Beziehungen, die bis zum offenen Rassismus reichen. "In the ongoing battle for the consolidation of European integration, an official rhetoric of citizenship and solidarity faces multiple and increasingly racialized process of social exclusion of which the leading political elites are well aware. It expresses a serious dilemma ( S. 5).
Aufbau und Inhalt
Vor diesem Hintergrund nimmt uns Lamp auf eine differenzsensible Zeitreise durch das "sozialpädagogische Jahrhundert" (Thiersch) mit. Sein Ansatzpunk: Differenzen und Verschiedenheit lassen sich nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum verorten, sondern bedürfen der Klärung in einem historisch-gesellschaftlichen Kontext. Begriff und Konzept der Differenz verlangen geradezu danach, den Komplementärbegriff zu benennen: Gleichheit - und dieser Begriff rückt nahe an die Frage der Gerechtigkeit heran.
Lamp identifiziert die folgenden Differenzverhältnisse, die für die Soziale Arbeit seit ihrer Entstehung bis heute von Bedeutung sind.
- Die Differenz von arm und reich oder anders : von Bürgertum und Proletariat, von Kapital und Arbeit im sozialökonomischen Klassensystem.
- Die Differenz der Generationen
- Die Geschlechterdifferenz
- Die Differenz von Normalität und Abweichung
"Die Differenz kann aus der Sicht der Sozialen Arbeit gleichsam als Urdifferenz in dem Sinne gekennzeichnet werden, als der Sozialen Arbeit gesellschaftlich die Aufgabe zugewiesen wird, zwischen Individuum und Gesellschaft zu vermitteln…" (Lamp 2007, S. 13).
- Die Differenz zwischen zugewanderter und einheimischer Bevölkerung .
- Zusätzlich zur Spannungslinie der ethnischen Herkunft ist in dieses Konfliktfeld verstärkt die Spannungslinie verschiedener Religionen eingewoben.
Lamp schließt sich Thiersch und Böhnisch an und kommt zu der Aussage , dass aus der Sicht der Sozialen Arbeit Diversity in zweifacher Weise zu managen sei, nämlich als "Arbeit an der Schaffung gerechter Zugänge zu Ressourcen der Lebensgestaltung wie zur Erreichung gesellschaftlich anerkannter Ziele und Integrationswege". In der Zusammenfassung heißt dies: "Im sozialpädagogischen Zielpunkt der Schaffung von Zugangsgerechtigkeit müssen also zum Einen die sozialstrukturelle Seite, also die Frage nach der sozialökonomischen Verteilung gesellschaftlicher Güter, sowie die Lebenslagen der Personen reflektiert werden.
Zum anderen darf die interaktionistische Seite der Gleichheit und Gerechtigkeit, die Anerkennung im Sinne des Respekts vor der Eigenheit des Anderen, gerade in pädagogischen Kontexten, nicht vernachlässigt werden" (a.a.O., S. 14). Es geht darum, "differenzsensibel" zu werden und angemessen zu handeln. Daraus ergeben sich für die Soziale Arbeit eine Reihe von Anforderungen. Entsprechende Kenntnisse über Differenzdiskurse, die die Gesellschaft strukturieren (Ungleichheit und Ausgrenzung, Abweichung und Normalität, Nähe und Fremdheit) müssen nachgezeichnet werden können und auch in ihrer Konstruiertheit und Veränderbarkeit erkannt werden. Es geht letztlich darum, "die Wirkmächtigkeit und die herrschaftlichen Wirkungen dieser Konstruktionen auf das Individuum zu reflektieren. Eine Hierarchisierung von Differenz ist damit nicht verbunden. Es kann nicht zwangsläufig von vornherein für alle Theorie und Praxisfelder der Sozialen Arbeit eine wesentliche Leitdifferenz, etwa die Differenz der Sozialen Ungleichheit ausgemacht werden, unter die die anderen Differenzverhältnisse subsumiert werden können" ( a.a.O., S. 206). Dies erfordert eine Haltung, die Anerkennung als Querschnittsthema in verschiedenen pädagogischen Handlungsfeldern begreift und dies, muss von Pädagoginnen und Pädagogen systematisch erlernt werden" (Lamp 2007, S. 176).
Lamp weist aber auch darauf hin, wie nachhaltig der deutsche Idealismus und vor allem Hegel die Struktur unseres Denkens bis heute beeinflusst haben. "Der Verstand setzt, um Dinge erkennen zu können, einen abstrakten begrifflichen Gegensatz, eine binäre Opposition. Diese binäre Opposition stellt die Grundlage des Nachdenkens darüber dar, wie die Welt und die in der Welt befindlichen Phänomene geordnet sind. Nun bleibt das dialektische Denken aber nicht beim Erkennen der binären Opposition stehe, sondern versucht, aus beiden Seiten, ganz im Sinne des monistischen Denkens eine neue Einheit herzustellen" (a.a.O., S. 46). Kurzum: es geht immer um Homogenisierung und Eindeutigkeit, um die Herstellung einer klaren Ordnung.
Welche Bedeutung die "Ordnung der Dinge", die versuchte Auflösung der Heterogenität für die Sozialpädagogik hatte und hat, macht Lamp in unterschiedlichen Zeitfenstern
- Die Situation an der Schwelle zum 20. Jahrhundert
- Soziale Arbeit im Nationalsozialismus
- Die Differenzreflexion in der Sozialpädagogik nach 1968 und in ausgewählten Diskursanalysen
- Die Bedeutung von Differenzen in der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit
- Differenzsensible Konzepte: Die Heterogenität als Ausgangspunkt sozialwissenschaftlicher Reflexion
deutlich, bevor er zum Resümee ansetzt.
Wie so oft bei Zeiteinteilungen fragt man sich auch hier: was passierte eigentlich zwischen 1945 und 1968 in der Sozialen Arbeit? Der in der Fußnote auf S. 67 versteckte Hinweis, man möge bei Helga Marburger (Theorien und Konzepte der Sozialpädagogik; 1979) nachlesen, überbrückt diese Phase galant. Der Wechsel von der historischen zur theoretischen Perspektive erläutert der Autor so: Um 1990 haben sich "die einzelnen pädagogischen Handlungs- und Theoriefelder (.) ausdifferenziert und untereinander häufig in theoretischer und praktischer Hinsicht befruchtet. Aus diesem Grund wird in der Folge der bisher bestrittene Pfad der historischen Analyse verlassen. Es werden nicht die einzelnen Differenzen in ihrer sozialpädagogischen Reflexion analysiert, sondern es werden die wesentlichen theoretischen Entwicklungen der Sozialen Arbeit beschrieben und untersucht, wie sie sich innerhalb dieser Theorierichtung der Differenzreflexion vollzieht"( S. 119). In diesem Zeitrahmen verändert sich die Sichtweise, eine Veränderung die bis heute verstärkt anhält. In den Worten des Autors: "Eine wesentliche gesellschaftliche, und deswegen auch für die Sozialpädagogik relevante Entwicklung, ist damit bereits angesprochen: die steigende Anzahl von relevanten Differenzverhältnissen verweist auf das Phänomen der Pluralisierung von Lebenswelten…" (Lamp 2007, S. 69), "das Verhältnis von Abweichung und Normalität beginnt sich zu bewegen" (a.a.O., S. 92), "durch das Erscheinen verschiedener Subkulturen und durch das Hinterfragen gesellschaftlicher Normen durch die verschiedenen sozialen Bewegungen, begann sich das Verhältnis von Normativität und Normalität zu flexibilisieren"( a.a.O., S. 99). "Das Auseinanderfallen von Normativität und Normalität bedeutet für die Soziale Arbeit, dass ihr fortan weniger klare, auch einschränkende, Muster von Normalität zur Verfügung stehen, aus denen unmittelbar pädagogische Zielsetzungen abgeleitet werden können. … Durch die nun festzustellenden Dominanz des flexiblen Normalismus werden die Handlungsspielräume des Individuums und damit potenziell seine Teilhabechancen erweitert" (a.a.O., S. 117). Für die Soziale Arbeit bedeutet diese Verschiebung, dass sie die ihr auferlegten Kontrollfunktion zugunsten von Hilfe akzentuieren kann, "denn die Tatsache, dass nicht mehr auf die vorgegeben Normativität zurückgegriffen werden kann und muss, entlastet die Soziale Arbeit zumindest partiell von ihren kontrollierenden Tätigkeiten" (ebd.). Die Lebenswelt der Adressaten, ihre Bewältigungsstrategien, ihre Bemühungen einen gelingenderen Alltag zu gestalten kommen damit in den Blick. Es geht letztlich darum, beim Blick auf das Individuum dem "Eigenrecht des Klienten gerecht zu werden. Mit anderen Worten: es ist der Versuch der Lebensweltorientierung , dem Aspekt der Anerkennung (kursiv im Original, GJF) gerecht zu werden (a.a.O, S. 137). Es gelte in der lebensweltorientierten Perspektive, die Vielfalt lebensweltlicher Erfahrungen anzuerkennen und das eventuell Fremde auch als fremdes stehen zu lassen.
Diese Argumentationsstruktur unterfüttert der Autor mit einer Vielzahl von Belegen aus unterschiedlichen Bereichen, in denen Differenz eine entscheidende Rolle spielte: zum Beispiel Jugend und Delinquenz, Sexualerziehung, Sozialpsychiatrie, Behindertenpädagogik, interkulturelle Pädagogik. Fundiert werden dabei die wissenschaftstheoretischen Bezugspunkte, die Lamp vor allem in der Kritischen Theorie erkennt, ausgebreitet. Und in deren Fundament sieht der Autor allerdings eine Engführung, die es zu überwinden gelte.
Zu Beginn des letzten Kapitels "Differenzsensible Konzepte" heißt es dementsprechend: "Die Lebensweltorientierte Soziale Arbeit reflektiert…Differenzverhältnisse vor allem in Rückbezug auf die politisch-ökonomischen Verhältnisse im Kapitalismus. Es stehen mithin vor allem jene Differenzverhältnisse im Mittelpunkt, die durch ein oben und unten gekennzeichnet sind, die also die sozioökonomischen Ungleichheiten kennzeichnen. … Die Soziale Arbeit gerät damit in die Gefahr, durch die enge diskursive Bindung an den Sozialstaat, vor diesem Hintergrund sie bis zum Ende des 19. Jahrhunderts entstand , an den sie materiell zur Zeit ihrer Expansion in den 1970er Jahren so eng gebunden war und dies bis heute noch ist, in überwiegend defensiver Weise neoliberale politische Entwicklungen anzuprangern, die sie selbst nur begrenzt imstande ist, aufzuhalten" (a.a.O., S. 143).
Lamp präsentiert im Folgenden kurz und prägnant große (breitenwirksame) und engmaschigere Diskurse, die die neue Zielorientierung der Sozialen Arbeit in den Blick nehmen: die zweidimensionale Konzeption von Gerechtigkeit, die Anerkennung als Komplementärbegriff zur Umverteilung versteht.
Die Postmoderne hat den Abschied von der Eindeutigkeit und die Unhintergehbarkeit von Pluralität postuliert, Konzepte der Dekonstruktion haben die Zufälligkeit von vermeintlich feststehender Normalität entlarvt ("was sozial konstruiert wurde, kann auch dekonstruiert werden", a.a.O., S. 154). Die Cultural Studies betonen , dass Kulturen in sich nie homogen und "allseits Hybridisierungen und kulturelle Interferenzen zu erwarten sind" (a.a.O., S. 158). Die Pädagogik der Vielfalt verbindet die Anerkennung der Differenz mit der Hoffnung, …"in der Erziehung am Abbau von Hierarchien zu arbeiten. Indem sie sich gegen Behindertendiskriminierung, Frauenfeindlichkeit und Ausländerfeindlichkeit, auch Rassismus wendet, sind sie einer emanzipatorischen Pädagogik verpflichtet" (a.a.O., S. 174) und das Diversity Management betont, dass Unterschiede für ein Unternehmen nutzbar gemacht werden können und sollen. Schließlich fordert die Inclusive Education auf "der Basis von sozialer Gerechtigkeit allgemeine Teilhabeberechtigung und Partizipation in inklusive Beschulung aller Kinder" (a.a.O., S. 187).
Lamp führt diese doch sehr unterschiedlichen Ansätze für die Soziale Arbeit zusammen. Im Rekurs auf die Systemtheorie wird klar, dass die Konstruktion einer in sich eindeutigen, geschlossenen Theorie der Gesellschaft unmöglich wird. Differenz und nicht Eindeutigkeit wird der Ausgangspunkt der Theoriebildung.
Was auf theoretische Ebene nachvollziehbar ist, erweist sich für pädagogische Praxis indes als sperrig. Konkret: Auf welches Ziel soll man in pädagogischen Kontexten verweisen bzw. verpflichten, wenn alles auch ganz anders sein könnte? Schlechte Aussichten für Pädagogen - auch wenn der Autor versöhnlich formuliert: "Normativität und Normalität sind gleichwohl in der Dekonstruktion nicht einfach verschwunden" (a.a.O.; S. 197).
Soweit, so gut kann man hier sagen und weiterfragen: Welche Folgerungen ergeben sich aus dieser differenzsensiblen Analyse für die Soziale Arbeit? Die letzten rund 20 Seiten gehören der Beantwortung dieser Frage. Wichtig dabei ist dem Autor "ein Problembewusstsein in Bezug auf Differenz, Heterogenität, Hybridität und Vielfalt sowohl in ihrer chancenreichen Dimension der Verwirklichung eines eigenen Lebens als auch in der Dimension neu entstehender Exklusionsrisiken" ( a.a.O.; S. 203). Es geht darum, weder die sozialstrukturelle Dimension der sozialökonomischen Verteilung gesellschaftlicher Güter noch die interaktions-theoretische Dimension der Gleichheit - die Anerkennung im Sinne des Respekts vor der Eigenheit des Anderen - in pädagogischen Kontexten zu vernachlässigen.
"Ausgangspunkt für die Ausbildung einer differenzsensiblen Haltung bleibt dabei der Respekt vor der jeweiligen Inszenierung des Einzelnen." ( a. a. O ., S. 155).
Um zu klären, wo die differenzsensible Perspektive ansetzen kann und wie sie umgesetzt werden soll, richtet der Autor am Ende seinen Blick auf folgende Bereiche:
- das Soziale Feld bzw. die Gesellschaft
- das Individuum
- die Adressaten
- die Fachkräfte
- die sozialen Beziehungen
- die Institutionen der Sozialen Arbeit
- die wissenschaftliche Disziplin Soziale Arbeit.
Das Anerkennen der Verschiedenheit setzt insbesondere die Erkenntnis voraus, dass der eigene Blick auf das Gegenüber immer vorstrukturiert ist durch eigene Handlungslogiken, Vorerfahrungen und Wissensbestände" ( a.a.O., S.212).
Zur Umsetzung der differenzsensiblen Perspektive empfiehlt Lamp die Etablierung eines transnationalen Blicks sowie eine vermehrte interdisziplinäre Orientierung (vgl. a.a.O., S. 224). "Wenn Soziale Gerechtigkeit auf die Gestaltung von alltäglichen Lebensverhältnissen zielt. und als Zugangsgerechtigkeit konkretisiert wird, bedarf es von pädagogischer Seite einer vorausgehenden Analyse, die verschlossene Zugänge zu Ressourcen der Lebensgestaltung identifiziert… Die in dieser vorgestellten differenzsensiblen Konzepte liefern der Sozialen Arbeit dafür eine wertvolle Reflexionshilfe" (a.a.O., S. 225).
Fazit
Lamps Buch macht klar: Diversity beginnt sich als neues interdisziplinäres Paradigma zu etablieren. In seinem grundlegenden Verständnis steht das Diversity Konzept in der Tradition einer positiven Anthropologie. Und so ist aus Lamps sozialpädagogischer Sicht konsequent, die Hoffnung auf eine Veränderung durch pädagogische Interventionen nicht aufzugeben. Die Wertschätzung des Individuums in seiner Einzigartigkeit steht im Vordergrund. Eine Konsequenz aus dieser Sichtweise ist die Schärfung des Blicks für die konstruierten Differenzlinien in unserer Gesellschaft. Kategorien wie etwa Kultur, Geschlecht oder Klasse sind nur vermeintlich naturhaft und unveränderbar.
Vor dem Hintergrund gesellschaftlich vorherrschender Diskurse wird eine klare Ordnung allerdings immer wieder zwanghaft durchzusetzen versucht, indem die unterschiedlichen Realitäten ausgeblendet und Positionen verallgemeinert werden. Lamps Buch hilft dabei, sich nicht in der vermeintlichen Eindeutigkeit zu verfangen.
Zusätzliche Literatur
- Hafeneger, Benno/Henkenborg, Peter/Scherr, Albert (Hrsg.) (2002): Pädagogik der Anerkennung. Schwalbach: Wochenschau-Verlag
- Hahn, Kathrin (2007): Vielfalt und Differenz aus der Perspektive der Sozialen Arbeit. In: sozialmagazin 3/2007, S. 20-27
- Hessisches Sozialministerium (2003): Diversity. Dokumentation der Fachtagung des Hessischen Sozialministeriums am 25.April 2003 in Wiesbaden. http://www.sozialnetz-hessen.de/homosexualitaet/FachtagDiv/Fachtag_Diversity.html
- Jung, Rüdiger, H/Schäfer, Helmut M./Seibel, Friedrich W.(Hrsg.) (1994): Vielfalt gestalten - Managing Diversity. Frankfurt: IKO-Verlag
- Kleve, Heiko/Koch;Gerd/Müller, Matthias(Hrsg.) (2003): Differenz und Soziale Arbeit . Sensibilität im Umgang mit dem Unterschiedlichen. Berlin: Schibri Verlag
- Müller, Burkhard (1993): Das Soziale und die Fremden. In: neue praxis 1-2/1993, S.1-11
- Pincus, Fred, L. (2006): Understanding Diversity. An introduction to Class, Race, Gender & Sexual Orientation. Boulder and London: Lynne Riemer Publishers
- Prengel, Annedore (1995): Pädagogik der Vielfalt. Opladen: Leske und Budrich
- Schierup, Carl-Ulrik/Hansen,Peo/Castles, Stephen (2006): Migration, Citizenship, and the European Welfare State. New York: Oxford University Press
- Schröer, Hubertus (2006): Diversity. Vielfalt gestalten. In: Soziale Arbeit und Migration 1/2006, S, 60-68
- Sielert, Uwe (2002): Differences Troubles - Anerkennungskultur als Basis einer Pädagogik der Vielfalt. In: Ministerium für Justiz, Frauen, Jugend- und Familie des Landes Schleswig-Holstein (Hrsg): Pädagogik der Vielfalt. Konzepte gegen Diskriminierung und ihre praktische Umsetzung. Dokumentation eines Fachtages vom 21. März 2002 in Kiel im Rahmen des Projektes Difference Troubles,
- Stuber, Michael ( 2004): Diversity. Das Potenzial von Vielfalt nutzen - den Erfolg durch Offenheit steigern. Neuwied: Luchterhand
Rezension von
Prof. Dr. Günter J. Friesenhahn
Professor für European Community Education Studies im Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Koblenz
Es gibt 2 Rezensionen von Günter J. Friesenhahn.
Zitiervorschlag
Günter J. Friesenhahn. Rezension vom 08.11.2007 zu:
Fabian Lamp: Soziale Arbeit zwischen Umverteilung und Anerkennung. Der Umgang mit Differenz in der sozialpädagogischen Theorie und Praxis. transcript
(Bielefeld) 2007.
ISBN 978-3-89942-662-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/5126.php, Datum des Zugriffs 11.12.2024.
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