Hans-Ludwig Kröber, Dieter Dölling et al. (Hrsg.): Handbuch der forensischen Psychiatrie, Band 3. Psychiatrische Kriminalprognose und Kriminaltherapie
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 21.10.2007
Hans-Ludwig Kröber, Dieter Dölling, Norbert Leygraf (Hrsg.): Handbuch der forensischen Psychiatrie, Band 3. Psychiatrische Kriminalprognose und Kriminaltherapie. Steinkopff Verlag (Heidelberg) 2006. 453 Seiten. ISBN 978-3-7985-1442-3. 99,95 EUR.
Thema
Herausgeber und Verlag verfolgen mit dem Handbuch der Forensischen Psychiatrie ein ehrgeiziges Projekt: in fünf Bänden soll der gesamte wissenschaftliche Bereich der Forensischen (gerichtlichen) Psychiatrie, von den kriminologischen Aspekten, über strafrechtliche und psychopathologische Grundlagen bis hin zur Kriminalprognose und eine umfassende Darstellung der kriminaltherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten der aktuelle Wissenstand zum Fachgebiet erfasst und dargestellt werden. Da die juristische Nachfrage nach kriminalprognostischen Gutachten in den letzten zehn Jahren enorm gestiegen ist, erscheint der vorliegende Band, der in der Ordnung des Gesamtplans des fünfbändigen Handbuchs die Ordnungsnummer 3 trägt zeitlich als erster Band. Eng verknüpft mit der Frage der Prognose sind Überlegungen zu Therapieverfahren und - formen: welche Behandlungsansätze sind bei welchen Deliktformen und Störungsbildern erfolgreich, wie wirkt sich das auf die Rückfallwahrscheinlichkeit eines konkreten Täters aus? Entsprechend werden Grundlagen und Methoden der Kriminalprognose und die Praxis der Begutachtung, daneben Grundlagen der Behandlung im psychiatrischen Maßregelvollzug, in Sozialtherapie und Regelvollzug, sowie spezifische Tätergruppenbezogene Behandlungsansätze vorgestellt. Zur Vertiefung der Auseinandersetzung mit der Thematik werden abschließend Behandlungsansätze aus, und die Vollzugspraxis in Großbritannien, USA/Kanada und in den Niederlanden beschrieben.
Herausgeber und Autoren
Die Herausgeber des Handbuchs der Forensischen Psychiatrie sind prominente Wissenschaftler und Praktiker auf dem Gebiet der Forensischen Psychiatrie.
- H.-L. Kröber leitet das Institut für Forensische Psychiatrie der Charité in Berlin,
- N. Leygraf das entsprechende Institut der Universität Essen, womit zwei der vier deutschen Lehrstühle für forensische Psychiatrie in Deutschland vertreten sind.
- D. Dölling leitet das Institut für Kriminologie der juristischen Fakultät der Universität Heidelberg, womit die kriminologische Perspektive des Fachgebiets gut repräsentiert ist,
- H. Sass ist seit Jahren Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Aachen, versiert in Behandlungs- und Begutachtungsfragen.
Die Herausgeber engagieren sich seit Jahren in der wissenschaftlichen Forschung. Für die einzelnen Unterkapitel des Handbuchs konnten namhafte PraktikerInnen des Fachgebiets (u. a. R. Egg, N. Konrad, F. Pfäfflin und U. Kröger) gewonnen werden, deren fachliche Kenntnis das Handbuch zusätzlich aufwertet.
Aufbau
Band 3 des Handbuchs ist in drei Bereiche gegliedert:
- Im ersten Abschnitt widmen sich Dahle und Kröber (beide Institut für Forensische Psychiatrie der Charité - Universitätsklinik Berlin) dem Bereich der Kriminalprognose.
- Im zweiten Abschnitt werden dann allgemeine Grundlagen und spezielle Behandlungssettings der stationären und ambulanten Kriminaltherapie vorgestellt.
- Dieser Abschnitt endet mit internationalen Perspektiven und gibt Einblicke in die Behandlungssituation in England, USA/Kanada und in den Niederlanden.
Zu Abschnitt 1 - Kriminalprognose
Grundlagen und Methoden der Kriminalprognose
Kapitel 1 (Dahle) führt in die Grundlagen und Methoden der Kriminalprognose ein. Kriminalprognosen als Annahmen über das zukünftige strafrechtsrelevante Verhalten eines Menschen, der bereits einschlägig in Erscheinung getreten ist, beeinflussen die Rechtsprechung in erheblichem Maße. In einer Reihe von rechtlichen Vorschriften wird auf die Notwendigkeit einer Kriminalprognose hingewiesen, etwa wenn die Gefährlichkeit eines Straftäters eingeschätzt werden muss, um eine spezielle Unterbringungsform (Maßregelvollzug) zu verhängen, oder Entscheidungen über eine vorzeitige Entlassung aus lebenslanger Haft treffen zu können. Sachverständige die in diesen Zusammenhängen Aussagen über die (künftige) Gefährlichkeit eines Straftäters treffen, treten als "Gehilfen des Rechtsanwenders" auf. Daneben spielen kriminalprognostische Überlegungen außerhalb des Strafrechts eine Rolle, etwa bei der Entscheidung bzgl. psycho- und sozialtherapeutischer Behandlungsmaßnahmen. Um dieser wichtigen Rolle in Strafrechts- und Behandlungsfragen gerecht werden zu können, hatte sich, so Dahle, der rechtspsychologische und -psychiatrische Bereich der Kriminalprognostik, auch wegen des besonderen Interesses der Öffentlichkeit im Zusammenhang mit (fehlerhaften) Prognoseaussagen in den letzten zehn Jahren stark zu entwickeln, so dass nun von einer "Prognosewissenschaft" als "angewandte Wissenschaft" gesprochen werden kann. Zur Anwendung kommen dabei Erkenntnisse aus der Verhaltenstheorie, der Kriminaltheorie, der Entscheidungs- und Motivationspsychologie, Beiträgen der Statistik (sog. "Basisraten" bzgl. einzelner Deliktgruppen), soziologische Aspekte wie Alter und Lebenslage, spezielle Tat-, Täter- und Situationsmerkmale, sowie die Einschätzung von Behandlungseffekten. Dahle führt in diesem Kapitel jeweils kurz in die einzelnen Bereiche ein, belässt es aber bei knappen Hinweisen auf den jeweiligen fachwissenschaftlichen Hintergrund. Ziel des Kapitels ist die Vermittlung einer "prognostischen Grundhaltung", einer bewussten Entscheidungsfähigkeit, sich für eine bestimmte (d. h. auf den jeweiligen Einzelfall passende) Prognosemethode und verschiedene Prognoseverfahren entscheiden zu können und so "Kriminalprognosen als kontrollierte Praxis" (so eine Kapitelüberschrift) anwenden zu können. Dahle greift hier die Diskussion um die zwei dominierenden Grundrichtungen der Prognosemethoden auf und beschreibt statistische und klinische Verfahren. Statistische Prognosemethoden erfassen spezifische Rückfallwerte für unterschiedliche Zielgruppen. Dabei werden personen- und tatbezogene Merkmale, die sich in Rückfallstudien als hoch mit Rückfälligkeit zusammenhängend erwiesen haben, identifiziert und zusammengestellt. Anhand gesonderter Stichproben wird dann überprüft, ob diese Annahmen auch für die Einschätzung des Rückfallrisikos vergleichbarer Personengruppen geeignet sind. Dahle weist darauf hin, dass die Problematik derartiger statistischer Prognosemethoden darin liegt, dass so keine Individualprognosen erstellt werden können, sondern lediglich Kriterien geleitete Zuordnungen zu bestimmten (definierten) Tätergruppen und dem dazu gehörenden Rückfallrisiko möglich sind. Dahle gibt hier einen kritischen Überblick zur Entwicklung statistischer Rückfallprognoseinstrumente und merkt an, dass deren durchaus in Validitätstest nachgewiesene Treffergenauigkeit im Einzelfall scheitere. Vor diesem Hintergrund fand die Einführung derartiger Prognoseverfahren in Deutschland nur zögerlich statt, der Schwerpunkt lag hier eher im Bereich der klinischen Prognoseverfahren. Um diese Lücke in der deutschen Prognosewissenschaft zu schließen, werden folgerichtig die i. d. R. in den USA und Kanada entwickelten Verfahren ausführlich vorgestellt.
Als Gegenentwurf zur statistischen Erfassung der Rückfallgefährlichkeit können klinische Prognoseinstrumente aufgefasst werden, die Dahle im Anschluss aufgreift. Diese versuchen die Besonderheiten des Einzelfalls stärker zu fokussieren und auch regelgeleitete Aussagen zu überprüfen. Einzelne klinische Instrumente gehen dabei von einem bestimmten Grundkonzept (z. B. "psychopathy") aus und überprüfen, ob eine bestimmte Zielperson diesem Konzept entspricht (und entsprechend als gefährlich eingestuft werden kann). Allgemeine klinische Prognosemethoden gehen von der biografischen Rekonstruktion der individuellen Entwicklung bei einem Straftäter aus und versuchen auf dieser Basis und der Analyse des Anlassdelikts zunächst ein Erklärungsmodell für das konkrete Deliktverhalten zu erstellen und daraus die individuelle Rückfallgefahr zu benennen. Als wichtigstes Beispiel für die erste Gruppe von klinischen Prognosemethoden stellt Dahle die Psychpathie-Checklist (PCL) von Hare vor.
Allgemein-klinische Prognoseverfahren gehen auf das von Rasch bereits 1986 vorgelegte Rahmenkonzept zur Kriminalprognose zurück. Grundgedanke ist hier die Zerlegung des prognostischen Beurteilungsprozesses in kleinere Zwischenschritte und die Benennung von Teilbereichen und -aspekten, mit denen sich der Prognostiker regelmäßig auseinander setzen sollte. Als relevante Dimensionen der klinischen Prognose werden die Bereiche a) bekannte Kriminalität und Indexdelikt, b) aktueller Persönlichkeitsquerschnitt/Krankheitszustand, c) Zwischenanamnese bzw. Entwicklungsgrad während eines Freiheitsentzuges und d) Zukunftsperspektiven der zu beurteilenden Person benannt. Folgemodelle zur allgemein-dimensionalen Kriminalitätsprognose bauen auf diesem Konzept auf, zuletzt in einem Kriterienkatalog von Nedopil aus München.
Dahle schließt seinen Beitrag mit Aussagen zu einem allgemeinen Strukturmodell der klinisch-prognostischen Urteilsbildung. Er fasst die Erstellung einer Kriminalprognose als notwendigerweise mehrgliedrigen Prozess auf, die abschließende Gesamtprognose soll abschließend als übergreifende (integrative) Synthese der Befunde und Einzelergebnisse (auch aus statistischen Verfahren) erfolgen. Dahle formuliert dieses allgemeine Strukturmodell ausführlich aus, deutlich wird sein Bemühen um eine umfassend offene und professionelle Haltung im Gutachtensprozess, letztlich greift er aber in seinem Schema "Strukturmodell des Vorgehens bei der klinisch-idiografischen Urteilsbildung im Rahmen individueller Kriminalprognosen" dann doch wieder auf die Rahmenempfehlungen von Rasch aus dem Jahr 1986 zurück, benennt die einzelnen Prognoseebenen Raschs in neue Begriff um, neue Erkenntnisse ergeben sich aus diesen Überlegungen jedoch nicht.
Praxis der Kriminalprognose
Das zweite und dritte Kapitel zur Kriminalprognose, verfasst vom Mitherausgeber Kröber wendet sich der Praxis kriminalprognostischer Begutachtung in unterschiedlichen strafrechtlichen Kontexten, also der konkreten Begutachtungssituation zu. Hier wird zunächst deutlich, in welchem Umfang prognostische Überlegungen in allen Bereichen des Strafrechts relevant sind: 1. Im Erkenntnisverfahren, also bei der Beurteilung eines Straftäters im Rahmen des Strafverfahrens (Strafmaß, Bewährung, Unterbringung im Maßregelvollzug nach §§ 63, 64 StGB und in der Sicherungsverwahrung etc.). Grundsätzlich ist hier immer zu prüfen, welche Gefährlichkeit vom Täter in Zukunft ausgeht, ob sichernde Maßnahmen notwendig, oder freiheitsgewährende Interventionen vertretbar sind; 2. Im Rahmen der Strafvollstreckung, etwa bei Entscheidungen zur vorzeitigen Entlassung aus zeitlich befristeter Haftstrafe, Entlassung aus lebenslanger Haft, Aussetzung der Sicherungsverwahrung, Verhängung der nachträglichen Sicherungsverwahrung, Entlassung aus dem Maßregelvollzug nach §§ 63, 64 StGB, Einschätzung der Therapieindikation und des -verlaufs und damit zusammenhängender Lockerungsentscheidungen in Strafvollzug, Sozialtherapie und Maßregelvollzug. Kröber weist im Zusammenhang mit diesen Prognoseentscheidungen auf das Problem hin, dass der Begriff der Gefährlichkeit (als Grundlage für Entscheidungen für oder gegen Freiheit) problematisch ist: im Gesamten Strafrecht findet sich keine Definition des Begriffs. Aus kriminalpsychiatrischer Sicht definiert er die (künftige) Gefährlichkeit eines Straftäters aus den Aspekten Intensität und Art des zu befürchtenden Verbrechens, zeitliche Entfernung der Gefahr, individuelle Fertigkeiten zur Durchführung gefährlicher Taten, soziale Einbindung/Kontrolle, Tatbedingungsmerkmale und Verfügbarkeit von Opfern. Leider fehlt in Kröbers (umfangreicher) Definition der Gefährlichkeit der Bereich protektiver Faktoren (auf die er in anderen Zusammenhängen durchaus hinweist). Wie (fast) im gesamten Bereich der forensischen Psychiatrie üblich, führt ein Tableau von Risikofaktoren zum individuellen Gefährlichkeitsgrad, Schutzfaktoren, individuelle Copingmechanismen oder soziale Unterstützungsfaktoren, welche eine zugrunde liegende Gefährlichkeit positiv moderieren könnten, spielen in der Betrachtung des Handbuchs der forensischen Psychiatrie keine Rolle.
Schwerpunkt des zweiten Kapitels sind die Darstellungen Kröbers zur Praxis der kriminalprognostischen Begutachtung. Hier wird die Praxiserfahrung des Herausgebers deutlich: alle Einzelschritte, von der Technik und Bedeutung der Auswertung des Aktenmaterials, über die Untersuchung des Probanden (Befragungstechnik, Beziehungsaspekte und -gestaltung), Aussagemuster des Probanden (z. B. Täuschung, Oberflächlichkeit, Fähigkeit zur Differenzierung, Fähigkeit eigene Verhaltensmuster und Gefühle wahrzunehmen), bis zur Dokumentation der Gesprächsinhalte und des psychischen Befundes und die ausführliche Diagnosestellung, werden ausführlich in ihrer Bedeutung vorgestellt und anschaulich beschrieben. In diesem stark praxisorientierten Abschnitt wird der Handbuchcharakter besonders deutlich.
Dieser Eindruck verstärkt sich im folgenden Abschnitt, der Darstellung der kriminalprognostischen Beurteilung (also der Bewertung des Materials aus der Begutachtungsphase). Kröber geht hier ausführlich auf die unterschiedlichen Prognosebereiche ein. Vor allem der Verlaufsbewertung wendet er viel Aufmerksamkeit zu und beschreibt grundsätzliche Erwägungen zum Zusammenhang psychische Erkrankung und Delinquenz, Behandelbarkeit und Behandlungserfolg, Rückfallerkennung und präventive Intervention. Die in diesem Abschnitt vorgestellten Hinweise zur Persönlichkeitsveränderung eines Täters im Verlauf, mit so wichtigen Aspekten wie "Auseinandersetzung mit der Tat", "Umgang mit Lockerungen" und die Betrachtungen zu unterschiedlichen Krankheitsbildern und dazu gehörenden Rückfallkonstellationen (etwa bei schizophrenen Patienten, oder persönlichkeitsgestörten Sexualstraftätern) sind für Praktiker in unterschiedlichen Arbeitsbereichen, Strafvollzugs- und Behandlungssettings besonders wertvoll, da sich hier eine Vielzahl von Täter- und Situationsmerkmalen finden, die es dem Leser erlauben, eine differenzierte Einschätzung des eigenen Arbeitskontextes vorzunehmen. Kröber ergänzt diese Überlegungen um Betrachtungen zu unterschiedlichen Prognosesituationen, etwa bei Entscheidungen zur Haftentlassung, Entlassung aus dem psychiatrischen Maßregelvollzug oder Sicherungsverwahrung. Durch diese mehrdimensionale Betrachtung der Begutachtungssituation mit Fokussierung auf Täter, Situation und rechtlichen Rahmen können Praktiker unterschiedlicher beruflicher Herkunft vom umfangreichen Praxiswissen des Handbuchs profitieren. Die hier vorgestellten Ansätze zur Praxis der Kriminalprognose scheinen direkt übertragbar auf die Arbeitssituation in der Bewährungshilfe, in psychiatrischen Behandlungsteams, oder in der forensischen Begutachtung und können auch Grundlage für eine Prognoseeinschätzung in sozialpsychiatrischen Einrichtungen sein.
Kapitel 3, der Abschluss des ersten Abschnitts des Handbuchs, zeigt anhand eines ausführlichen Fallbeispiels die Praxis kriminalprognostischer Begutachtung. Alle Schritte der Prognosestellung, von der Aktenanalyse über die Befragung hin zur prognostischen Einschätzung werden hier ausführlich beschrieben, so dass es dem Leser möglich ist, dem erfahrenen Gutachter KRÖBER bei der Arbeit quasi "über die Schulter zu schauen".
Zu Abschnitt 2 - Straftäterbehandlung
Abschnitt 2 des Handbuchs widmet sich der Straftäterbehandlung in Strafvollzug und Maßregelvollzug.
Historischer Hintergrund
Leygraf beschreibt zunächst den historischen Hintergrund dieser Unterbringungsform, die in Deutschland seit 1933 besteht. Anordnungsvoraussetzung des § 63 StGB ist, dass der Täter in einer der in § 20 StGB genannten Störungen bei Begehung der Straftat vermindert schuldfähig oder schuldunfähig war und von ihm infolge dieser psychischen Störungen in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind. Der psychiatrische Maßregelvollzug hat laut Leygraf in den letzten Jahren an Bedeutung zugenommen, die Einweisungs- und Unterbringungszahlen sind rapide angestiegen, ebenso die durchschnittliche Unterbringungsdauer, die er mit 6 Jahren angibt. Die Patienten selbst weisen vielfältige Merkmale der Marginalisierung auf, bei den psychiatrischen Diagnosen dominieren schizophrene Psychosen und Persönlichkeitsstörung, das Deliktspektrum reicht von Eigentums- und Körperverletzungsdelikten bis zu Sexual- und Tötungsdelikten.
Für die Behandlung der knapp 5400 Patienten in der Bundesrepublik stehen meist eigene Maßregelkliniken zur Verfügung, deren Grundkonzept i. d. R. ein sog. Stufenkonzept beinhaltet: abhängig vom jeweiligen therapeutischen Entwicklungsstand werden Lockerungen gewährt, was voraussetzt, dass jeder Lockerungsschritt unter Berücksichtigung der jeweiligen aktuellen Kriminalprognose zu bewerten ist. Behandlungsstandard in den meisten Kliniken sind individuelle Behandlungspläne, welche die in psychiatrischer Erkrankung und bestehender Dissozialität des Patienten verankerte Gefährlichkeit fokussieren. Zur Anwendung kommen alle Behandlungsansätze aus dem psychiatrischen Bereich, darüber hinaus spezielle Ansätze der Tätertherapie. Hier werden die Arbeit am Delikt (Deliktszenario), Arbeit an Opferempathie und Verantwortungsübernahme und Aufbau von Copingmechanismen eingesetzt, womit eine Reduktion der Gefährlichkeit erreicht werden soll. Generell stehen verhaltenstherapeutisch orientierte Verfahren im Vordergrund, Leygraf begründet dies damit, dass Maßregelpatienten oft die Voraussetzung für eine psychodynamisch orientierte Therapie nicht aufweisen (Störungs- und Behandlungseinsicht, Leidensdruck) und die Behandlung im Maßregelvollzug nicht auf die Veränderung der Primärpersönlichkeit abzielt, sondern konkrete Veränderungen kriminogen bedeutsamer Verhaltensweisen und deren Kontrolle erreicht werden soll. Als maßgeblich für eine erfolgreiche Maßregelbehandlung sieht Leygraf eine gründliche Entlassungserprobung und -vorbereitung an, wobei eine stabile Umsetzung der in der stationären Therapie erlernten Inhalte und skills erreicht werden soll. Leygraf schließt seine Beschreibung des Maßregelvollzugs mit Angaben zur Effizienz dieser Behandlungsmaßnahme, diese misst sich (für die Öffentlichkeit) in den Rückfallraten der untergebrachten und behandelten Patienten. Neuere Katamnesestudien geben eine Rückfallquote von 16% bzgl. allgemeiner Delinquenz an, was einer deutlichen Verbesserung der Situation innerhalb der letzten 10 Jahre entspricht. Leygraf plädiert abschließend für eine Verbesserung der Nachsorgemaßnahmen, so könne die Rückfallrate am ehesten weiter gesenkt werden.
Egg geht in seinem Beitrag auf die Straftäterbehandlung im Rahmen Sozialtherapeutischer Anstalten ein und greift dabei auf die durch die (von ihm geleitete) Kriminologische Zentralstelle Wiesbaden durchgeführte Evaluationsstudie zur Situation der Sozialtherapie in Deutschland zurück . Auch er nähert sich der Thematik zunächst unter historischen Gesichtspunkten. 1966 in die alte Fassung des StGB eingeführt und 1969 als § 65 StGB im neuen Strafrecht etabliert, sollten damit Straftäter mit hoher Rückfallgefahr in besonderen Einrichtungen erreicht und behandelt werden. Zunächst wurde die verbindliche Einführung dieser Behandlungsform mehrmals verschoben, lediglich sog. Modelleinrichtungen eröffnet. Nicht zuletzt aus finanzpolitischen Gründen wurde die Idee der Sozialtherapeutischen Anstalt wieder verworfen. Erst im Rahmen der politischen und gesellschaftlichen Diskussion ab den Jahren 1996/97 um spektakuläre Straftaten erfuhr die Sozialtherapie als Behandlungsform eine Renaissance und ist seit 2003 verpflichtende Unterbringungs- und Behandlungsform für Sexualstraftäter mit einer Haftstrafe von mehr als zwei Jahren Dauer. Die bundesweit 38 Sozialtherapeutischen Anstalten halten ca. 1500 Haftplätze vor, zur Anwendung kommen neben tiefenpsychologisch orientierten Psychotherapien neuerdings verstärkt deliktorientierte Gruppen- und Einzeltherapie, soziale Trainingskurse und verhaltenstherapeutisch orientierte Rückfallvermeidungsprogramme.
Straftäterbehandlung
Konrad (Krankenhaus der Berliner Vollzugsanstalten) beschreibt die Situation psychisch kranker Straftäter in Anstalten des Regelvollzugs. 3 bis 7% der Gefangenen im Strafvollzug weisen psychische Störungen auf, die vorwiegend dem Krankheitsbild einer Persönlichkeitsstörung, oder einer Depression zuzuordnen sind. Daneben spielen Abhänigkeitserkrankungen eine große Rolle. Konrad weist darauf hin, dass die Versorgung psychisch erkrankter Strafgefangener sehr unterschiedlich geregelt ist, lediglich in einzelnen Bundesländern existieren justizeigene psychiatrische Abteilungen, ein umfassendes Konzept einer stationär-psychiatrischen Versorgung im Justizvollzug besteht bislang nicht, ebenso fehlen verbindliche rechtliche Regelungen zur Aufnahme und Entlassung in eine solche Abteilung. Als besonders problematisch wird die hohe Suizidrate bei männlichen Gefangenen beschrieben, die gegenüber der altersentsprechenden männlichen Allgemeinbevölkerung um rund 6,5fach erhöht ist. Hintergründe für diese hohe Rate liegen in der individuellen Verarbeitung der Hafterfahrung und müssen wohl auch darin gesehen werden, dass Gefangene keinen repräsentativen Querschnitt der Allgemeinbevölkerung darstellen und eine insgesamt höhere Vulnerabilität bzgl. suizidaler Krisen aufweisen.
Ambulante Behandlungsmöglichkeiten
In einem eigenen Kapitel werden ambulante Behandlungsmöglichkeiten von Leygraf vorgestellt. Die Erkenntnis, dass durch geeignete Nachsorgemaßnahmen die Rückfallraten gesenkt werden können, hat sich mittlerweile in allen Bundesländern durchgesetzt. Die Verbreitung spezialisierter forensischer Ambulanzen ist allerdings weiter sehr unterschiedlich. Während einzelne Bundesländer ein Netz forensischer Nachsoge verbindlich installiert haben, befinden sich andere noch in der Erprobunsphase, bzw. haben keine Regelungen getroffen. Gegenstand der forensischen Spezialamublanzen ist, so Leygraf, die kritisch-kontrollierende Begleitung der Probanden nach Entlassung aus der stationären Unterbringung, die Fortsetzung der therapeutischen Arbeit und die Vernetzung der unterschiedlichen Hilfsangebote. Leygraf formuliert einzelne Aspekte der ambulanten forensischen Versorgung in seinem knappen Beitrag aus. Der Bedeutung ambulanter Kriminaltherapie wird dies allerdings nicht gerecht. Spezielle Interventionsformen wie Fallkonferenzen, stationäre Krisenintervention oder medikamentöse Behandlung fehlen vollständig, ebenso (und das ist kaum nachvollziehbar) der Beitrag der justiziellen Nachsorge in Form von Bewährungshilfe und Führungsaufsicht.
Spezielle Behandlungsformen
Spezielle Behandlungsformen für einzelne Tätergruppen (Gewalttäter, Sexualstraftäter, Persönlichkeitsgestörte Täter, Intelligenzgeminderte Täter und suchtkranke Täter) werden in einem Unterabschnitt des 4 Kapitels vorgestellt. Mehrere Autoren aus der Praxis beschreiben hier jeweils den spezifischen Problemhintergrund, die psychische Symptomatik und die sich daraus ergebende Gefährlichkeit. Jeweils knapp wird in den Bereich der Behandlungsmöglichkeiten der spezifischen Störungsgruppen eingeführt, die z. B. in Bezug auf die Gruppe der Sexualstraftäter in der Biografiearbeit (Identifikation der Ursachen des abweichenden Sexualverhaltens), der Deliktrekonstruktion und in der Erarbeitung von Rückfallvermeidungsplänen liegen.
Spezielle Therapieformen
Hervorzuheben ist der Beitrag von Pfäfflin "Spezielle Therapieformen". Er weist darauf hin, dass die Entwicklung spezieller Tätertherapien unter einer gewissen Dynamik stattgefunden hat. Erfolgte zunächst eine Abkehr von psychodynamisch und tiefenpsychologisch orientierten Verfahren zugunsten verhaltenstherapeutisch orientierter Interventionsformen, ist neuerdings eine Renaissance der psychoanalytisch bzw. psychodynamisch orientierten Ansätze zu beobachten. Kriminaltherapie wird, so Pfäfflin, einem integrativen, oder multimodalen Konzept folgen müssen, um die formulierte Zielsetzung, die Veränderung deliktfördernder Verhaltensweisen, gerecht zu werden. Alle Ansätze, die dieser Zielsetzung dienlich sind, ob Persönlichkeits(nach)reifung oder Verhaltenskontrolle durch spezielle Trainings, müssen Anwendung finden, um (erneute) Straffälligkeit zu verhindern. Als Kriminaltherapie im engeren Sinn stellt Pfäfflin unterschiedliche Rückfallpräventionsprogramme und kognitive Rehabilitationsprogramme vor, die an der Identifikation und Änderung problematischer Verhaltensweisen und an der Problematik sog. "kognitiver Verzerrungen" (also der individuellen Umdeutung sozialer Prozesse) ansetzen.
Zum Abschnitt Internatinale Perspektiven
Der letzte Abschnitt des Handbuchs stellt internationale Perspektiven der Kriminaltherapie vor.
England
Lau (Forensische Klinik Schkeuditz) beschäftigt sich mit der Behandlung von Straftätern und psychisch kranken Rechtsbrechern in England. Diese findet, so seine Einschätzung auf hohem Niveau statt, wobei inhaltlich große Parallelen zur Situation in Deutschland bestehen. Allerdings besteht in England eine verbindlichere Organisation des Gesundheitssystems, was zu einer leichteren und umfassenderen Umsetzung von (landesweit standardisierten) Behandlungsprogrammen und deren Kontrolle, auch im ambulanten Rahmen, führt. LAU sieht die föderale Struktur in Deutschland als Problem der Uneinheitlichkeit in der Umsetzung kriminaltherapeutischer Behandlungsansätze. Anders als in England, wo zentrale Vorgaben zu einer insgesamt günstigen Behandlungsstruktur führen, besteht in Deutschland eine Uneinheitlichkeit, was zu einer schlechten Vergleichbarkeit der durchgeführten Maßnahmen und eben auch zu uneinheitlichen Behandlungsergebnissen führt.
USA und Kanada
Felthous (Mental Health Center, Chester/USA) und Sass (Forensische Klinik Aachen) führen in die Behandlungsmöglichkeiten in den USA und Kanada ein. Generell sind dort zwei Gruppen von Behandlungsprogrammen vertreten: einmal psychosoziale Rehabilitationsprogramme die zur Verbesserung der Sozialisation innerhalb von Hafteinrichtungen und zur Reduktion von Wiederholungstaten entwickelt wurden, daneben spezialisierte Behandlungsprogramme für Straftäter mit besonderen Merkmalen und Erkrankungen. Als Methode dominieren in beiden Bereichen die therapeutische Gemeinschaft und die "token economy", beide Programme weisen eine begrenzte Wirksamkeit auf, welche durch kontinuierliche Nachsoge in der Gemeinde verstärkt wird.
Niederlande
Kröger und Van Beek (beide Henri van der Hoeven Kliniek, Utrecht) beschreiben den grundsätzlichen Wandel in den Behandlungsstrategien bei psychisch kranken Straftätern in den letzten 25 Jahren in den Niederlanden. Zielsetzung der Behandlung war dort früher die Heilung einer zugrunde liegenden psychischen Störung, die im direkten Zusammenhang mit dem Delikt gesehen wurde. Belegt durch empirische Forschungsergebnisse setzte sich die Erkenntnis durch, dass eine Heilung der forensischen Patienten als ultimatives Ziel der Behandlung in den meisten Fällen zu weit gefasst ist und eher eine Kontrolle der problematischen Verhaltensanteile und Risikofaktoren ein realistisches Ziel darstellt ("No cure, but control"). Entsprechend erfuhren die Behandlungseinrichtungen in den Niederlanden eine deutliche Umstrukturierung, wobei insbesondere der ambulante (Nachsorge)bereich eine deutliche Ausweitung fand. Für besonders problematische, therapeutisch nicht zu erreichende Patientengruppen stehen sog. Longstay-Bereich in den forensischen Kliniken zur Verfügung. Als Entwicklungsaufgabe in diesem Bereich der forensischen Psychiatrie sehen Kröger und van Beek die Erarbeitung spezifischer Behandlungsprogramme und Methoden auf Grundlage einer biopsychosozialen Theoriebildung für diese Tätergruppen, oftmals dissoziale Patienten oder Patienten mit sexueller Devianz.
Zielgruppe des Buches
Das Handbuch der Forensischen Psychiatrie wendet sich zunächst an Juristen, Gutachter und Behandler im Bereich der Forensischen Psychiatrie. Da kriminalprognostische Aussagen in zunehmenden Maße auch in nicht-forensischen Arbeitsfeldern, etwa in der Bewährungshilfe oder in der Sozialpsychiatrie an Bedeutung gewinnen, profitieren auch die dort tätigen Mitarbeiter aus allen Berufszweigen.
Diskussion
Der Anspruch, ein HANDBUCH der Forensischen Psychiatrie zu verfassen, ist den Herausgebern weitgehend geglückt. Die Darstellung der theoretischen Grundlagen zur Kriminalprognose und Kriminaltherapie sind durchgehend so verfasst, dass auch fachlich nicht vorgebildete Leser einen Zugang zur Thematik finden. Im Abschnitt zur Kriminalprognose findet sich ein umfassendes Ankerbeispiel, wodurch die dargestellte Theorie auf praktischer Ebene nachvollziehbar wird, was zweifelsohne einen hohen Lerneffekt hat. Auf die Vermittlung spezieller Prognoseverfahren wird in dem Handbuch leider verzichtet. Lediglich exemplarisch werden einzelne Prognoseansätze vorgestellt, deren Handhabung jedoch nicht erläutert. Der Abschnitt zur Kriminaltherapie in Deutschland und ergänzend in England, USA/Kanada und Niederlanden gibt einen genauen und umfassenden Überblick über die Behandlungssituation psychisch kranker Straftäter. Damit hat das Handbuch einen hohen Nutzen, nicht nur für Praktiker in Begutachtung und Behandlung psychisch kranker Straftäter, sondern auch in angrenzenden Arbeitsgebieten der Psychiatrie und Strafrechtspflege.
Fazit
Der hohe Preis für den Band mag zunächst abschrecken. Allerdings bieten die Herausgeber dem Leser eine gut lesbare, dabei immer fachlich und wissenschaftlich fundierte Lektüre, die zudem von international renommierten Praktikern und Forschern verfasst worden ist. Der Anspruch, eine umfassende Darstellung der Grundlagen und Praxis der Kriminalprognose und -therapie zu verfassen ist weitgehend gelungen. Das Fachpublikum dar auf die Herausgabe der weiteren vier Bände der Handbuchreihe gespannt sein.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Es gibt 177 Rezensionen von Gernot Hahn.
Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 21.10.2007 zu:
Hans-Ludwig Kröber, Dieter Dölling, Norbert Leygraf (Hrsg.): Handbuch der forensischen Psychiatrie, Band 3. Psychiatrische Kriminalprognose und Kriminaltherapie. Steinkopff Verlag
(Heidelberg) 2006.
ISBN 978-3-7985-1442-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/5141.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
Urheberrecht
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