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Gerd Taube (Hrsg.): Kinder spielen Theater

Rezensiert von Prof. Dr. Hans Wolfgang Nickel, 19.05.2008

Cover Gerd Taube (Hrsg.): Kinder spielen Theater ISBN 978-3-937895-26-0

Gerd Taube (Hrsg.): Kinder spielen Theater. Spielweisen und Strukturmodelle des Theaters mit Kindern. Schibri-Verlag (Uckerland) 2007. 534 Seiten. ISBN 978-3-937895-26-0. 25,00 EUR.

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Thema und Entstehungshintergrund

Der umfangreiche Band gibt Auskunft über das dreijährige Untersuchungsprojekt „Kinder spielen Theater. Verbesserung von Infrastrukturen in einem Feld der kulturellen Jugendbildung“ (2002 bis 2005). Untersucht wurde: Wie spielen Kinder Theater? Wo können sie es tun? Wie lassen sich die Infrastrukturen verbessern? “Ziele des Projekts waren

  • Den Kindern (von 3 bis 12 Jahren) sollte ein besserer Zugang zu vorhandenen Angeboten ermöglicht werden,
  • das bestehende Angebot des Theaterspiels mit Kindern sollte effektiviert, qualifiziert und damit auch erweitert werden,
  • der Stellenwert des Theaterspiels mit Kindern in Öffentlichkeit, Jugend-, Kultur- und Kommunalpolitik sollte verbessert werden, damit Kinder überall in Deutschland an theaterpädagogischen Aktivitäten partizipieren können“ (S. 22).

Dabei wurde versucht, immer wieder auf das spielende Kind selbst Bezug zu nehmen: „das zentrale Ziel des Projekts, beispielhafte Strategien und Instrumente zur Strukturverbesserung zu entwickeln, wäre ohne unsere Erkenntnisse über die Methoden und Spielweisen des Theaters mit Kindern nicht durchführbar, denn fast alle Strategien und Instrumente, die im Projekt und gemeinsam mit den Projektpartnern entwickelt wurden, basieren auf der Beobachtung der spezifischen Methoden und Spielweisen im Theater mit Kindern“ (S. 19).

Aufbau und Inhalt

Das Buch, das als Dokumentation zugleich Rechenschaftsbericht für Behörden sein muss, beginnt mit den nötigen Präliminarien eines solchen Berichts: Projektorganisation, Organisation der Recherchen (auch im europäischen Ausland), Methoden der Recherche; Verfahrensweisen der Netzwerkanalyse (S. 47 ff), ethnographische Forschungsmethoden (u.a. qualitative Sozialforschung, S. 71 – 86).

Dann wird es inhaltlich und spannend. Gleich zu Beginn wird deutlich gemacht, dass zwar das Theater mit Kindern im Mittelpunkt der Untersuchung steht, das Theater für Kinder jedoch korrespondierend mit bedacht wird. So schreibt in den  Einleitungsbeiträgen Ulrike Hentschel, eher abstrahierend und grundsätzlich, über Theater spielen „als ästhetische Bildung“, Ingrid Hentschel, eher historisch, über  Theater sehen. Sie parallelisiert Kinder in Kindertheaterstücken mit zeitgeschichtlichen Strömungen in Wissenschaft und Politik – Kinderstücke als „Seismographen von Kindheit„; sie interpretiert besondere Beispiele und bleibt hartnäckig in ihrer Frage an unsere Verantwortung: dass wir Erwachsenen die Welt gestalten, die Kinder (noch) nicht!

Mira Sack bindet das Theater mit und das Theater für Kinder als „Brüderchen und Schwesterchen“ aneinander, miteinander kooperierend: ein „Spiel-Zeug-Theater“ (Hawemann),  ein „Spielangebot“. Ilona Sauer, Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Projektkoordinatorin, gibt einen Überblick über Orte des Theaters mit Kindern (vom Kindergarten bis zur Kinderöffentlichkeit); Gabi Droste berichtet über Initiativen in den Niederlanden (die Jeugdtheaterschool Zuid-Holland); Christel Hoffmann greift das „Wechselspiel zwischen Tun und Betrachten im Theater mit Kindern“ noch einmal auf (S. 174 ff).    

Nach diesen gleichsam Grund legenden Artikeln wird der Überblick über den Aufbau des Buches schwierig: es ist zwar von Kapiteln die Rede (S. 195), aber sie sind nicht mehr kenntlich gemacht. Jedenfalls geht es jetzt um „Bausteine“ des Theaters mit Kindern; zum einen um spezifische Aspekte, die eher theoretisch abgehandelt werden: Sprache (Hans Ritter), literarische Texte / Mythen (Gundel Mattenklott), Performance (Ute Pinkert); zum anderen um zwischengeschaltete Werkstattberichte.  Das Projekt war nämlich zugleich Weiterbildung; AutorInnen der Fachartikel waren (meist) auch WerkstattleiterInnen. Die Werkstätten wurden protokolliert und nachbereitet. Sie waren primär praktisch orientiert – eher Theoretisches in den Artikeln und eher Praktisches in den Werkstattberichten erscheint also in buntem Wechsel; das ergibt mannigfache aufschlussreiche Verweise, aber auch unnötige Überschneidungen. Und: die in den Werkstattberichten mitgeteilten Übungen gehen zwischen den Beiträgen leicht verloren, sind schwierig aufzufinden und deshalb nicht einfach nutzbar zu machen.

In einem weiteren (zunächst theoretischen) Ansatz geht es um das Verhältnis von Theater und Performance oder, um mit Fischer-Lichte zu formulieren, um die „Darstellung von Figuren, Handlungen, Beziehungen, Situationen etc.“ (referentiell) bzw. um „unmittelbare Wirkung“, d.h. den „Vollzug von Handlungen … durch die Darsteller und Zuschauer“ (performativ) – so zitiert von Ute Pinkert (S. 244), die nach einer „Ästhetik des Performativen unter theaterpädagogischer Perspektive“ fragt und  ihren Beitrag mit einem präzise beschriebenen, aufschlussreichen Beispiel aus einer  Berliner Grundschule konkretisiert.

Faszinierend auch das zweite Beispiel, das von Hanne Seitz eindrucksvoll dargestellt und ausführlich interpretiert wird. „Der Waschplatz“ beim ersten ökumenischen Kirchentag in Berlin 2003; eine intensiv-bewegende Aktion, ein öffentliches Handeln mit Rätselcharakter, das Neugier wachruft und zu Nachdenken führen kann („Denken Sie nach, was Sie zum Thema Schuld bewegt. Schreiben Sie auf, was Sie davon (mit)teilen wollen“), machte u.a. deutlich, wie sich Kinder in einer ungewöhnlichen Situation verhalten, wie sensibel sie Muster übernehmen und abwandeln, wie verständnisvoll sie sich in bestehende Situationen integrieren, sie also nicht mit grober Eigendynamik stören.

Karola Wenzel situiert noch einmal „Theater zwischen Spiel und Kunst“. Ihre scharf beobachteten, präzise interpretierten „Shortcuts“ zielen genau auf die Arbeit der Theaterpädagogin; mit der „mimetischen Spirale“ (nach Gebauer/Wulf) skizziert sie ein plausibles Bild, das die Interaktivität, das Zusammenwirken von Spielleiterin und SpielerInnen gut auf einen „Begriff“ zu bringen gestattet. Unter Verweis auf Lehmann  stellt sie fest: „Somit sind es die ironisch-brüchigen Montageformen des postmodernen Theaters mit seinen Rhythmisierungen, mit Simultaneität, Wiederholung, Überzeichnung, Parodie und Selbstreferenz, die den Formen der Kinder ähneln“ (S. 281).

David Reuter behandelt „Raum, Objekt und Figur im Theaterspiel mit Kindern„; er zählt einleitend einige „Schlagworte“ aus den achtziger, neunziger Jahren und aus der Gegenwart auf (S. 299); er verweist darauf, wie „Begriffe aus der Technik und der Medienwelt … Einfluss auf die Künste“ erhalten (S. 301). Eine wichtige Warnung, die an Goethe denken lässt („Allgemeine Begriffe und großer Dünkel sind immer auf dem Wege, entsetzliches Unglück anzurichten.“ Maximen und Reflexionen  471).

Um wenigstens einen Artikel aus dem substanzreichen Band ausführlicher zu Wort kommen zu lassen [1], zitiere ich David Reuter mit einer allgemeinen Bemerkung zu seiner Arbeitsweise: „Meine Arbeitsweise lässt sich in vier verschiedene Dimensionen einteilen, die in jeweils unterschiedlicher Gewichtung Lehre und künstlerisches Schaffen bestimmen:

  • eine körperlich-expressive. in der der Körper, seine Bewegungen … und die Interaktion mit dem Gegenüber (auch mit dem Objekt!)  im Mittelpunkt steht,
  • eine bildnerisch-künstlerische, also der Teil, der im traditionellen Theater als Kulisse oder Dekoration oft beiläufig behandelt wird …
  • eine therapeutisch-subjektbildende, denn Kunst und Theater können denen, die sich darauf einlassen, sehr viel über sich selbst und das Verhältnis zu anderen zeigen…
  • eine politisch-soziale, da Kunst und Theater nicht irgendwo stattfindet, sondern es gerade der Raum, der spezielle Ort ist, der in besonderem Maße Aussage und Bedeutung der ästhetische Mittel prägt und bestimmt“ (S. 305) – der Raum, der spezielle Ort mit seinen Bewohnern, möchte ich hinzufügen.

Stellvertretend möge dies Zitat stehen für eine neuere Entwicklung in der Spiel- und Theaterpädagogik, bei der nicht mehr ein Leitziel, eine Begriffsbestimmung dominiert, sondern Mehrdimensionalität akzeptiert und formuliert wird, die jeweils situationsadäquat (der Spielgruppe entsprechend) konkretisiert werden muss.

Entsprechend apostrophiert auch Christel Hoffmann in ihrem (etwas seltsam zwischengeschalteten) Beitrag „das unfruchtbare Denken in Alternativen“ (S. 325). Unter der Überschrift „Musik – Bewegung plus Theater“ (gemeint ist: Musik-Bewegung plus Theater, konkret die Einbeziehung von z.B. Orff und Laban in das Theaterspielen) gelingt ihr noch einmal eine Art Gesamtdarstellung.

Mit dem abschließenden „Fachdiskurs zum Theater mit Kindern“ (S. 335 ff), einem Literaturbericht auf über 150 Seiten mit eigener Gliederung und ausführlichem eigenen Inhaltsverzeichnis, geschrieben von vier AutorInnen (vor allem von der Mitherausgeberin Ilona Sauer), ist Erstaunliches gelungen. Der umfang- und materialreiche Bericht mit sorglich-präzisen Beschreibungen ist vorsichtig und klar in seinen zurückhaltenden Wertungen, er behandelt Theorie, fundierte Praxis und die Ratgeber-Literatur und realisiert voll seine Ziele „Wiederentdecken, Sammeln, Vergegenwärtigen, zur Diskussion stellen“ (S. 341). Zwar ist die Einteilung in 15 Kapitel nicht stringent; sie beruht u.a. auf der Arbeitsteilung unter den AutorInnen, blendet leider (wie meist in der Theaterpädagogik) die Zwanziger Jahre aus, öffnet aber weit ein internationales Blickfeld (Delakowa, Korczak, Spolin, Halprin, Reggio-Pädagogik, sogar Comenius wird mehrfach genannt – leider nicht die Schola ludus – auch nicht sein Diogenes).

Spolin z.B. wird gut charakterisiert („nicht nur ein Klassiker der Theaterpädagogik,  sondern vor allem ein Standardwerk zum Theater mit Kindern“ S. 414; den Playwrigths“ Theatre Club gründete allerdings nicht sie, sondern ihr Sohn Paul Sills; und ihr „Lehrer Newa L. Boyd“, S. 415, war eine Lehrerin mit dem Vornamen Neva). Insgesamt zeigt sich im Literaturbericht erstens eine Aufwertung des Spielbegriffs. Zunächst wird historisch festgestellt: „Spiel- und Theaterpädagogik beginnen sich nach der Auflösung des starken gesellschaftlichen Bezugs und der Hinwendung zu ästhetischen Formen  voneinander abzulösen. Auf der einen Seite entwickelt sich die Spiel- und Erlebnispädagogik. Auf der anderen Seite bezieht sich die Theaterpädagogik auf das Theater und blendet vielfach das Spiel als Grundlage des Theaters mit Kindern aus„(S. 382 f); im gegenwärtigen Zusammenhang der Performance Art aber zeigt sich mit Bezug auf Waldenfels: „Spiel so verstanden ist ein „Durchspielen von Möglichkeiten, das Spielräume eröffnet und den allzu festen Wirklichkeitssinn mit „Möglichkeitssinn“ durchsetzt“ “ (S. 397).

Das heißt zweitens, dass nicht nur Formen, sondern auch Inhalte wichtig sind; manchmal deutlich politische Inhalte („Nicht damit alle Künstler werden, sondern damit niemand Sklave sei“, so Rodari in seiner Grammatik der Phantasie, hier S. 411); manchmal allgemeiner formuliert: „Das Theater ist ein Ort der Beziehungen zwischen Menschen“ (S. 467); „in diesen Vorgängen wird sichtbar, dass Kinder, wenn sie darstellend spielen, sich nicht verwandeln, sondern sich im Spiel ihre Wirklichkeit erhandeln“ (S. 425). Oder, mit Worten von Christel Hoffmann: Kinder sind „Experten im Spiel„; es ist für sie eine „elementare Selbstverständigung in der Auseinandersetzung mit sich und der Welt„; „das Kunstwerk enthält Kenntnisse über die Welt, über die die Kinder noch nicht verfügen und die ihnen … zum Erlebnis und damit zur Erfahrung werden“ (zitiert auf S. 467 und 468). Es geht, so bei Westphal, um eine „Auffassung ästhetischer Bildung, die leiblich-sinnliche Wahrnehmung nicht der Kognition entgegensetzt oder unterordnet, sondern mit ihr verschränkt“ (S. 391).

Verbunden damit ist drittens eine neue Wertschätzung des Kinderspiels, sein Formenreichtum wird entdeckt und positiv gewertet: „Alle Bausteine, die im Kunstwerk zu finden sind, bereiten sich in Kinderspielen vor, weil ja bereits im Spiel die hohe Kunst der Lebensführung eingeübt wird“ (Delakowa, zitiert auf S. 445).

Als letztes Kapitel des Literaturberichts wird „Die historische Praxis des Theaterspiels der Kinder“ kurz skizziert – zu kurz, um wirklich aufschlussreich zu sein (S. 490 – 505). Dabei wird wenigstens ein Hinweis auf „Kinder im Laientheater der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ gegeben (S. 504 f) – genannt werden allerdings nur die Anfänge des sozialistischen Kindertheaters, die proletarische Kinderbewegung, Benjamins Programm eines proletarischen Kindertheaters. Laienspiel, Luserke und die vielen Schulmeister bleiben wieder außen vor.

Schließlich noch ein Anhang: Die Ständige Konferenz „Kinder spielen Theater“ und ihre Mitglieder werden vorgestellt; „Aspekte der Recherche“ werden aufgelistet; die „Resolution“ vom November 2004 wird abgedruckt: „Theater mit Kindern muss zum unverzichtbaren Bestandteil ästhetischer Bildung werden … Das Kind erlebt sich im Theaterspiel als handelndes Subjekt, das sich zu Menschen und zur Welt als Ich in Beziehung setzt. … Ästhetisch-kulturelle Bildung im Theaterspiel darf nicht nur als Vermittlung von Lerninhalt begriffen werden, sondern muss auch als Methode der Erfahrung von Welt und als Erkenntnisweg erlebt werden. … Theaterspiel muss als selbstverständlicher  Bestandteil der kulturellen Kinder- und Jugendbildung in Deutschland allen Heranwachsenden offen stehen“ (S. 520).

Diskussion

1.  Nicht schlüssig ist, wie könnte es in der Theaterpädagogik anders sein, die Terminologie. Dazu als kleines Beispiel Rollenspiel und Stegreif. Einerseits heißt es mit Berufung auf Hoffmann: „Vom Rollenspiel unterscheidet sich das Stegreifspiel dadurch, dass es auf das Abbild als Kontrollinstanz verzichtet und den spontanen Einfall, die überraschende Lösung und das Unvorhergesehene in den Mittelpunkt stellt“ (S. 354); hier wird also ein Unterschied konstatiert und das Rollenspiel eher disqualifiziert. Andererseits spricht Merkel durchaus positiv von „Kindern im Vorschulalter, die längst Experten im spontan improvisierten Rollenspiel sind“ (S. 359). Nun ist die Entstehung solcher Differenzen leicht zu erklären: unterschiedliche Autoren gebrauchen unterschiedliche Begriffe und verstehen gleiche Begriffe unterschiedlich. Es wäre jedoch wichtig, diese Unterschiedlichkeit (die durchaus keine inhaltliche Unterschiedlichkeit sein muss!) in einem Register oder mit Querverweisen zu markieren oder, noch besser, im Buch zu diskutieren. Störender als diese Differenzen ist, dass ideologisch aufgeladene „Gegensätze„  (Ästhetik – Lernen/Lerninhalte/Inhalte – Erfahrung von Welt – Selbsterfahrung) höchst unentschieden und unbefragt weiter mitgeschleppt werden, auch terminologisch. So will die „Resolution“ die “kulturelle Bildung“ stärken, sieht die “ästhetisch-kulturelle Bildung“ als „Methode der Erfahrung von Welt“, attestiert dem Theater mit Kindern “ästhetische Eigenständigkeit“ und sieht Theaterspiel als „Bestandteil der kulturellen Kinder- und Jugendbildung“ (S. 520 f) – also unterschiedliche Adjektiva (mit unterschiedlicher Bedeutung?). Dabei wird ab und an auch deutlich formuliert (und häufiger zu verstehen gegeben – aber eben nicht explizit gemacht, schon gar nicht in der Resolution [2]), dass die unterschiedlichen Bezeichnungen Akzentuierungen sind, dass also Theaterspiel der Kinder „Vermittlung von Lerninhalt“ und „Erfahrung von Welt“ und  „Erkenntnisweg“ (S. 520) ist – oder, in der Formulierung von Christel Hoffmann (S. 467), Spiel „elementare Selbstverständigung in der Auseinandersetzung mit sich und der Welt“ ist – und weil Theater Teil der Welt ist, eben auch Auseinandersetzung mit Theater!

2. Inhaltlich verzeichnet ist die Darstellung der Schweiz unter dem Titel „Theater und Pädagogik gehen Hand in Hand“ (S. 399 ff). Das liegt einerseits daran, dass die verbale Darstellung einer Verfahrensweise nicht unbedingt der „Proben„-Realität und auch nicht der schließlichen Aufführung entspricht [3] (das wird deutlich am Beispiel Metzenthin); es liegt andererseits an vielen kleinen Ungenauigkeiten [4]. Beginnen wir mit Kleinigkeiten: der Vorname ist Rosmarie (S. 399, 400), nicht Rosemarie (wie S. 511); Metzenthin ist richtig (nicht Mezzenthin, wie S. 383); improvere gibt es im Lateinischen laut Pons nicht; Improvisation kommt von improvisus – unvorhergesehen (S. 400). - Der Schweizer Musikpädagoge nannte sich Émile Jaques-Dalcroze, nicht Jacques Dalcroze (S. 400) und schon gar nicht Jacques Emil Dalcroce (S. 451). Hinzuzufügen ist auf jeden Fall, dass er 1911 in Hellerau die „Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze“ gründete mit viel beachteten Festspielen (1912, 1913), die sowohl Copeau wie Stanislawski besuchten. Copeau war so beeindruckt von Jaques-Dalcroze, dass er wenig später in Paris selber Kinder nach dessen Methode unterrichtete und seine Tochter Schülerin von Jaques-Dalcroce wurde. Das ist wichtig auch für die Geschichte der Jeux Dramatiques  (S. 399 ff). Dazu nur einige Hinweise: Léon Chancerel schreibt das Vorwort zu „Jeux Dramatiques„; Jeux dramatiques ist Plural; man darf Chancerel also nicht „Gründer des“ sondern höchstens Anreger der Jeux Dramatiques nennen; er ist nicht Pädagoge, sondern Schauspieler, Regisseur, Autor; Schüler von Copeau (von ihm zutiefst beeinflusst, nicht von der „Theatertheorie Stanislawskis“, S. 404). Chancerel war dann bei Dullin und Jouvet; er gründete des Théatre des quatre vents, die Compagnie des Comédiens Routiers und, in unserem Zusammenhang vor allem interessant, das Kindertheater Théatre de l„Oncle Sébastien. Zu den „Inspirationsquellen“ gehören sicherlich nicht die Mitspiele Pörtners (wie S. 404 geschrieben): Chancerels „Bulletins“ erscheinen ab 1932, „Le Théatre et la Jeunesse“ erscheint 1941, „Jeux Dramatiques“ schon 1952 in der zweiten Auflage – Pörtner, 1925 geboren, beginnt erst 1960 mit seinen Mitspielen.

3.  Merken wir schnell noch Weiteres an: Den Wettbewerb 1971 veranstaltete der Thienemanns-Verlag, nicht das Theater der Jugend München (S. 347); auf S. 349 ist  Kerbs richtig (nicht Krebs); Irmgard heißt Launer (nicht Launers, S. 351 – sie gehört in die DDR); Betty heißt Lowndes (nicht Lowdes wie S. 383; auf S. 511 richtig, auf S. 434 mal richtig, mal falsch). Bei Rodio sollte die Kulturmühle Lützelflüh zumindest genannt werden. Sarah heißt Smilansky (nicht Similanski, wie S. 354). -

Auf S. 355 f heißt es: „In Nickels Rollenspielbuch … hat das Spiel mit Fünfjährigen … seinen Platz„; ähnlich S. 355: „Die spontanen Rollenspiele der Kinder ab fünf Jahren sind für ihn dadurch gekennzeichnet, dass die Kinder zum einen simultan und im Wechsel mehrere Rollen spielen und dabei meist nicht ersichtlich ist, wann das Kind beispielsweise Lokomotive und wann es Lokomotivführer spielt“ (eigentlich eine communis opinio nicht nur der sechziger, siebziger Jahre!). Erstaunlich ist die Altersangabe: sie widerspricht dem Text des Rollenspielbuchs. Zwar gibt es ein Praxisbeispiel „Spiel mit Fünfjährigen“, aber auch die dezidierte Aussage: „Schon Zweijährige spielen Familie …“ (S. 11). – Abgesehen von diesen Monita bleibt ein überaus positives Fazit:

Fazit

„Kinder spielen Theater“ ist schon jetzt ein neue Wege weisendes Standardwerk, das eine weiten Arbeitsbereich erschließt. Es macht mit einer Vielzahl von Erfahrungen und Argumenten deutlich, wie wichtig Theater für Kinder ist; es bringt dazu eine Fülle von wichtigen, bisher weit verstreuten Informationen; es verbindet auf hohem Niveau Theorie mit Praxis, Praxis mit Theorie in durchweg lesbar-verständlicher Sprache.

Eine hoffentlich sehr schnell notwendige zweite Auflage sollte das Buch von Ballast befreien, Ungenauigkeiten eliminieren, wichtige Ergänzungen vornehmen [5] und den Inhaltsreichtum durch Register sowie Querverweise (und vielleicht eine klarere Ordnung) erschließen.


[1] Weil alle wichtig sind, habe ich alle zumindest mit Thema und Inhalt skizziert.

[2] Ein Passus auf S. 521 klingt sogar nach einem diktatorischen Missgriff: „unabdingbare Notwendigkeit, die Standards … auf der Grundlage unserer Erkenntnisse …  zu definieren“ – im ganzen Satz: „Daher sehen wir es als eine unabdingbare Notwendigkeit an, die Standards für eine solche Aus- und Weiterbildung auf der Grundlage unserer Erkenntnisse zur ästhetischen Eigenständigkeit und Spezifik des Theaters mit Kindern gemeinsam zu entwickeln und zu definieren.“

[3] Wir stoßen hier auf das grundsätzliche Dilemma der Spiel- und Theaterpädagogik, dass die Wirklichkeit von Spiel/Theater in Sprache nicht adäquat abzubilden ist; eine Literaturrecherche fängt nur ein verbales Echo ein oder Absichtserklärungen.

[4] Es liegt auch daran, dass wichtige Institutionen und Initiativen fehlen: SADS (Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für das Darstellende Spiel), SAZ (Schauspielakademie Zürich, seit 1979 mit der Aktion „Theater im Schulhaus“), kjtz (Kinder- und Jugendtheater Zürich, 1988 an der SAZ etabliert), gegenwärtig Till-Theaterpädagogik (seit 2006 mit dem Master of Advanced Studies). Nennen könnte man auch die vielen Schultheatertage, wie etwa seit 20 Jahren in Luzern, bei denen immer auch Grundschulklassen mitwirken.

[5] Um einiges zu nennen: Aus den Zwanziger Jahren in Deutschland Ignaz Gentges, Joseph Maria Heinen (mit seiner Zeitschrift „Der bunte Wagen“); aus den Sechziger/Siebziger Jahren Pea Fröhlich/Jens Heilmeyer mit dem Lamama-Kinderspielclub München; der Spielclub Kulmer Straße aus Berlin; die Paedaktion aus München; Rutluk Recklinghausen, Kukuruz Köln, Kinderspielclub Fideliopark München; aus der Gegenwart Michael Assis und die Grundschultheatertage Neukölln (immerhin schon zwölfmal durchgeführt!).

Ergänzend sollten auch Hinweise erfolgen auf Zirkus und Tanz.

Rezension von
Prof. Dr. Hans Wolfgang Nickel
Institut für Spiel- und Theaterpädagogik der Universität der Künste Berlin
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Zitiervorschlag
Hans Wolfgang Nickel. Rezension vom 19.05.2008 zu: Gerd Taube (Hrsg.): Kinder spielen Theater. Spielweisen und Strukturmodelle des Theaters mit Kindern. Schibri-Verlag (Uckerland) 2007. ISBN 978-3-937895-26-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/5170.php, Datum des Zugriffs 15.09.2024.


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