Frederick Rotgers, Michael Maniacci (Hrsg.): Die antisoziale Persönlichkeitsstörung
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 22.11.2007

Frederick Rotgers, Michael Maniacci (Hrsg.): Die antisoziale Persönlichkeitsstörung. Therapien im Vergleich: ein Praxisführer.
Verlag Hans Huber
(Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2007.
274 Seiten.
ISBN 978-3-456-84403-9.
29,95 EUR.
CH: 48,90 sFr.
Reihe: Klinische Praxis. Originaltitel: Antisocial personality disorder.
Thema
Der Band ist die deutsche Übersetzung eines aktuellen (2006) Sammelbandes zu den Behandlungsmöglichkeiten der antisozialen Persönlichkeitsstörung. Unterschiedliche Behandlungsansätze und Therapieschulen und ihre speziellen Zugänge zur Problematik werden vor- und gegenübergestellt. Dabei geht es den Herausgebern nicht um einen Vergleich i. S. eines "besser" oder "schlechter", sondern um die Vermittlung möglichst differenzierter Sichtweisen und Denkansätze. Durch die Übersetzung des Sammelbandes sollen diese relevanten Hinweise auch im deutschsprachigen Raum dem Fachpublikum leichter zugänglich gemacht werden, um zu verdeutlichen, dass eine Behandlung der als lange Zeit "unbehandelbar" geltenden Gruppe der Persönlichkeitsstörungen sinnvoll und möglich ist.
Herausgeber
F. Rotgers arbeitet als Psychologe am Philadelphia College of Ostheopathic Medicine, veröffentlichte bisher zur therapeutischen Aspekten der Suchtbehandlung und persönlichkeitsgestörter Menschen. M. Maniacci, klinischer Psychologe in der Tradition der Individualpsychologie nach Alfred Adler, vielfältige Veröffentlichungen zu Methodik und Interventionsstrategien in Beratung und Therapie und zur Elternschulung und Familienberatung. Die Herausgeber haben namhafte Praktiker aus unterschiedlichen Arbeitsbereichen zusammengeführt, welche ihren speziellen Arbeitsansatz und den dazu gehörenden wissenschaftlichen Hintergrund darstellen.
Aufbau und Inhalt
Franz Petermann (Universität Bremen) gibt in seiner Einführung in die deutsche Übersetzung einen Überblick über Forschungsstand und Entwicklung therapeutischer Interventionen bei Patienten mit antisozialer Persönlichkeitsstörung. Er beschreibt die Schwierigkeiten des therapeutischen Zugangs zu dieser als problematisch und als "nicht behandelbar" geltenden Patientengruppe und weist auf neuere Forschungsergebnisse, welche insbesondere stark strukturierte, kognitiv-behaviorale Therapieformen als wirksam einschätzen und empfehlen. Diese Hinführung ist für den deutschsprachigen Leser von besonderer Bedeutung, da sich die Entwicklung innovativer Behandlungssätze v. a. in Nordamerika abspielte, in Deutschland nur zögerlich rezipiert wurde und alternative Therapieformen wie der Lebensstil-Ansatz, biosoziale Lerntheorie oder psychodynamische Behandlungsformen wenig wahrgenommen und diskutiert werden.
Das Buch weist zwei Besonderheiten auf, die es dem Leser ermöglichen die unterschiedlichen Therapieansätze zu vergleichen und auch auf die eigene Praxis zu beziehen: Das Buch hat eine starke Praxisorientierung. Eine ausführliche Fallgeschichte ("Frank J.") eines Mannes, der eine antisoziale Persönlichkeitsstörung aufweist, ist Bezugspunkt für die Autorenteams, welche ihre spezielle Sichtweise der Störung und die entsprechenden Interventionsformen auf diesen Fall bezogen ausformulieren. Damit bleiben die Ausführungen zur Krankheitstheorie und Therapie nicht im theoretischen Raum verhaftet, sondern es wird eine hohe Praxisnähe hergestellt.
Die zweite Besonderheit des Bandes liegt im klaren und einheitlichen Aufbau der einzelnen Fachbeiträge. Auch wenn so unterschiedliche Therapieschulen wie der Ansatz von Adler, das biosoziale Lernmodell, das motivationale Interview, die Personzentrierte Therapie nach Rogers und psychopharmakologische Ansätze vorgestellt werden, ist eine klare Struktur in den einzelnen Beiträge, aber auch im Gesamtwerk gut erkennbar: die Herausgeber haben den Autoren neben der gemeinsamen Fallgeschichte ein Schema aus Leitfragen vorgelegt, das die einzelnen Beiträge strukturiert. Jedes Kapitel folgt den Leitfragen
- "Vorstellung des Behandlungsmodells",
- "wesentliche therapeutische Fertigkeiten" und
- "spezifische Fragen" zum Vorgehen bei der Behandlung.
Durch diese klare Struktur ist eine sehr gute Orientierung in den einzelnen Kapiteln, aber auch im direkten Vergleich der unterschiedlichen Ansätze gegeben. In einem Abschlusskapitel werden die einzelnen Behandlungsmodelle noch einmal in zusammengefasster Form dargestellt und in ihren Unterschieden und Gemeinsamkeiten diskutiert.
Die im Buch vorgestellten Therapieansätze im Überblick:
- Psychodynamischer Ansatz: Der Autor konzentriert sich stark an der Objektbeziehungstheorie, Aspekte der relationalen Psychoanalyse, der Bindungstheorie und der Traumatheorie sind weitere Bezugspunkte. Auf der Handlungsebene werden auch eher behaviorale Techniken einbezogen. Diese Therapieform erhebt den Anspruch einer umfangreichen "Heilung" der Störung, wodurch sie sich von anderen Therapieansätzen, die eher auf Symptomkontrolle abzielen unterscheidet.
- Individualpsychologischer Ansatz (nach A. Adler): Maniaccis Ansatz ist deutlich psychodynamisch ausgerichtet, fokussiert aber weniger auf interne Faktoren. Betont werden die psycho-sozialen Auswirkungen der antisozialen Persönlichkeitsstörung, etwa wenn früh erworbene Denk-, Gefühls- und Verhaltensmuster die Entwicklung persönlicher Stärken und deren Ausformung in konforme Verhaltensmuster verhindert. In der Therapie werden diese Muster aufgegriffen und für eine soziale Passung nutzbar gemacht (z. B. indem die Fähigkeit zur sozialen Wahrnehmung nicht mehr eingesetzt wird, um andere auszunutzen, sondern um besser soziale Beziehungen aufzubauen).
- Biosoziale Lerntheorie nach Millon ("Personologische Psychotherapie"): In diesem eklektizistischen Ansatz werden Elemente psychodynamischer Theorie und Therapie mit biologischen Aspekten und therapeutischen Interventionen aus der kognitiv-behavioralen Therapie verbunden. Der Ansatz besticht durch seine Integration psychodynamischer und behavioraler Methoden.
- Lebensstil-Ansatz: Der Ansatz beruht auf der Tatsache, dass Individuen von einem Bedürfnis nach Überwindung von bedrohlichen oder unangenehmen Situationen geleitet werden, dafür charakteristische Muster verwenden. Menschen mit antisozialer Persönlichkeitsstörung reagieren häufig mit sog. Patterning, d. h. dass ein bestimmtes Verhalten weiterhin in gleicher Form wiederholt wird, wobei die Realität der Veränderungen in der Umwelt ignoriert werden. Folgen sind ein auschließender Interaktionsstil und eine Untersensibilität des Verhaltens gegenüber äußeren Veränderungen. In der Therapie wird unter Bezugnahme auf Gedanken der existenziellen Therapie, der kognitiv-behavioralen Therapie und der Evolutionstheorie versucht, kriminelles Verhalten und Denkmuster, die Kriminalität auslösen öder fördern, zu verändern.
- Kognitv-behaviorale Behandlungsansatz und Dialektisch-behavioraler Ansatz: Ziel dieser Therapieformen ist die Beeinflussung von Verhalten. Dies geschieht durch Identifikation und Veränderung maladaptiver Schemata und Überzeugungen ("kognitive Verzerrungen"), etwa durch Selbstbeobachtung, Verhaltensexperimente und dem Erlernen neuer Verhaltenstechniken (etwa Fertigkeitentraining, Problemlösetraining). Das von Linehan entwickelte DBT zur Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung stellt hier eine wichtige Rolle dar, dazu werden die Interventionen um verhaltenstherapeutische Vorgehensweisen (z. B. Verhaltensanalyse) erweitert und ergänzt.
- Motivierende Gesprächsführung: Die Autoren beziehen sich im Wesentlichen auf die Theorie und Therapie nach Rogers. Der Ansatz stammt aus der Suchtarbeit, wesentliches Element der Behandlung ist die Beziehung zwischen Therapeut und Patient, wodurch z. B. die Ambivalenz reduziert werden soll, die der Patient gegenüber Veränderungen empfindet, und dadurch die Motivation Verhaltensweisen zu ändern erhöht werden soll. Neben der empathischen Grundhaltung in der Beziehung werden auch direktive und reflexive Interventionen angewendet.
- Kombinierte Psycho- und Pharmakotherapie: Die medikamentöse Behandlung der antisozialen Persönlichkeitsstörung zielt im Wesentlichen auf die Beeinflussung der Impulsivität (Störung der Impulskontrolle) der Patienten. Grundlage dieser Störung können genetische bedingte und erworbene Schädigungen des Gehirns sein, welche sich durch Veränderungen in der Neurochemie des Gehirns abbilden. Diese können durch viele Chemikalien von außen beeinflusst werden. Die Autoren beschreiben verschiedene Medikamentenwirkgruppen (z. B. Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, welche ursprünglich als Antidepressiva eingesetzt werden, Neuroleptika, oder Beta-Blocker, welche Angst und Aggression positiv beeinflussen). Als problematisch erweist sich bei der medikamentösen Behandlung der antisozialen Persönlichkeitsstörung, dass die verabreichten Pharmaka eine unerwünschte, z. T. gegenläufige Wirkung (z. B. Steigerung der Aggression) bewirken können. Andererseits ergibt sich durch diese Behandlungsform oft ein erster Zugang, ein "Freiraum" in dem psychotherapeutische Methoden erstmals greifen können.
In einem abschließenden Kapitel werden die vorgestellten Therapieformen zur Behandlung der antisozialen Persönlichkeitsstörungen vergleichend nebeneinander gestellt. Auffallend ist hier die starke Übereinstimmung so unterschiedlicher Therapieformen wie Personzentrierte Psychotherapie nach Rogers oder DBT: fast alle Ansätze beziehen sich in der Diagnosephase auf Persönlichkeits- und Verhaltensdiagnostik (auch wenn die Methoden unterschiedlich sind), ein wesentlicher Bestandteil ist die Gefahrenprognose (meist auf Grundlage der Psychopathie-Checkliste von Hare). Wenig repräsentiert ist eine psycho-soziale Herangehensweise bei der Diagnostik: nur zwei Autoren wollten weitere Personen befragen oder einbeziehen. Allerdings beziehen fast alle Autoren wichtige andere Personen in die therapeutische Arbeit mit ein. Eine große Übereinstimmung besteht auch hinsichtlich der Therapieziele: Alle vorgestellten Therapieformen formulieren die Veränderung der Symptome, die Verbesserung der sozialen Passung als Ziel der Behandlung, lediglich der psychodynamisch ausgerichtete Ansatz zielt auf eine "Heilung" der Persönlichkeitsstörung. Die "Besserung" der Störung zielt im Einzelnen auf die erfolgreiche Beendigung der Bewährungszeit, die Verminderung von Tendenzen, auf Probleme impulsiv oder aggressiv zu reagieren, darauf zu lernen, sich besser anzupassen, indem eine Konzentration auf mögliche Vorteile prosozialen Problemlösens erfolgt und auf die Veränderung kognitiver Schemata, die zu (sozialen) Problemen geführt haben. Als Veränderungsmechanismen werden allerdings deutlich unterschiedliche Bereiche fokussiert: der psychodynamische und Personzentrierte Ansatz konzentriert sich auf die therapeutische Beziehung. Dadurch sollen die Arbeit an den Ich-Funktionen ermöglicht werden und die Vermittlung von Fertigkeiten zur Verbalisierung erfolgen. In der motivierenden Gesprächsführung bildet die therapeutische Beziehung den Kontext, in dem der Patient seine Selbstwirksamkeit steigern kann. Nach der bisozialen Lerntheorie werden in der Behandlung der antisozialen Persönlichkeitsstörung keine anderen als die sonst in Psychotherapien üblichen Faktoren (Empathie, tragfähige Arbeitsbeziehung) wirksam. Im individualpsychologischen Ansatz wird Veränderung als Neuzuweisung (Nutzung bisher dysfunktionaler Verhaltensweisen für positive Zwecke) beschrieben. Ziel ist hier nicht die Restrukturierung der gestörten Persönlichkeit. In der Auffassung des Lebenswelt orientierten Ansatzes besteht der wesentliche Veränderungsmechanismus im Leben selbst. Veränderung ist hier Teil des Lebens, Aufgabe der Therapie ist es die Angst des Patienten vor Veränderung, das Beängstigende des Wandels zu bearbeiten und aufzulösen. In den behavioral orientierten Ansätzen wird am Erlernen neuer, positiver Gedanken und Verhaltensweisen angesetzt. Eine große Rolle spielt dabei der Erwerb neuer Fertigkeiten.
Alle vorgestellten Therapieformen beschreiben die Bedeutung der Therapeuten-Patienten-Beziehung. Daneben geht es um die Erweiterung der Verhaltensoptionen und der Kognitionen. Als therapeutische Haltung wird die Vorgabe von eindeutigen Grenzen und Beschränkungen betont. Die Erfahrungen der Autoren des vorliegenden Bandes, der sich als Praxisführer versteht, decken sich auch mit Befunden aus der Forschung zur Behandlung krimineller Straftäter. Daraus ergeben sich zwei Schlussfolgerungen: die in dem Buch von Rotgers und Maniacci vorgestellten und umfassend diskutierten Behandlungsansätze bedürfen der Umsetzung (und sicher der weiteren Modifikation) in der Praxis. Daneben sollte eine umfassende Therapieforschung erfolgen, um die Bedeutung der zentralen Variablen bei der Arbeit mit Patienten mit antisozialer Persönlichkeitsstörung weiter ausformulieren zu können.
Diskussion
Das Buch wendet sich vor allem an Psychotherapeuten, Psychologen und Psychiater. Durch die weitgehend verständliche Sprache des Bandes und die Verknüpfung der einzelnen Behandlungsansätze mit einem übergreifenden Fallbeispiel profitieren auch Angehörige sozialer und pflegerischer Berufsgruppen, die in ihrer beruflichen Praxis mit der Betreuung und Behandlung von Menschen mit antisozialer Persönlichkeitsstörung zu tun haben. Das Buch sollte nicht als Lehrbuch zur Therapie der antisozialen Persönlichkeitsstörung aufgefasst werden, sondern als Sammlung von Behandlungserfahrungen und Strategien welche äußerst hilfreich sind mit den Herausforderungen des Störungsbildes in der Praxis besser umgehen zu können. Durch den hohen Praxisbezug und den klar strukturierten Aufbau, ist die Verwendung des Werks für Ausbildungszwecke unbedingt zu empfehlen.
Fazit
Das Buch besticht durch seinen klaren, übersichtlichen Aufbau und seinen hohen Praxisbezug. Die Darstellung des Vergleichs unterschiedlicher Therapieansätze in der Behandlung von Menschen mit antisozialer Persönlichkeitsstörung verzichtet bewusst auf eine Bewertung der einzelnen Therapierichtungen. Das Buch stellt ein breites Spektrum therapeutischer Ansätze vor und gibt so wertvolle Hinweise für den Praktiker. Dadurch wird eindrucksvoll dokumentiert, dass die Behandlung der als besonders schwierig geltenden Patientengruppe möglich ist und dabei eine Vielzahl von Herangehensweisen zur Verfügung steht. Das Buch wird eine Intensivierung der Diskussion um die Behandelbarkeit der dissozialen Persönlichkeitsstörung und eine bessere Integration bislang wenig bekannter Behandlungsansätze in der Behandlungspraxis anstoßen.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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