Rainer Neef, Rolf Keim: "Wir sind keine Sozialen" (Marginalität in Stadtteilen)
Rezensiert von Dipl. Politologe Christian Schröder, 26.12.2008
Rainer Neef, Rolf Keim: "Wir sind keine Sozialen". Marginalisierung und Ressourcen in deutschen und französischen Problemvierteln.
UVK Verlagsgesellschaft mbH
(Konstanz) 2007.
310 Seiten.
ISBN 978-3-86764-018-3.
29,00 EUR.
CH: 48,90 sFr.
Reihe: Analyse und Forschung - 53. Zusammen mit Alexandra Engel und Hervé Vieillard-Baron.
Autoren
Rainer Neef ist Stadtsoziologie und Migrationsforscher am Institut für Soziologie der Universität Göttingen. Rolf Keim ist Professor am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und soziale Arbeit der Fachholschule Darmstadt. Alexandra Engel ist Verwaltungsprofessorin an der Fakultät Soziale Arbeit der HAWK Fachhochschule in Holzminden. Hervé Vieillard-Baron ist Professor für Stadtgeographie an der Universität Paris 8 (St. Denis).
Thema
Das Buch "Wir sind keine Sozialen" ist das Ergebnis eines mehrjährigen Forschungsprojekts über die Soziallagen der BewohnerInnen in städtischen Armutsvierteln und "Abwärtsspiralen". Im deutsch-französischen Ländervergleich untersuchen die AutorInnen Ähnlichkeiten und Unterschiede der soziale Lage der BewohnerInnen im innenstadtnahen Altbauviertel Nordstadt und der stadtrandnahen Sozialwohnungssiedlung Brückenhof in der nordhessischen Stadt Kassel sowie den französischen Stadtteilen Cités Chanteloup/ La Noe, Les Buis und Champ Montants.
Inhalt und Aufbau
Die ersten drei Kapitel und damit den größten Teil des Buchs widmen die Autoren den Armutsvierteln in Deutschland.
- Im ersten Kapitel "Lebensbewältigung und Ressourcen" üben sie Kritik an "der vorherrschenden sozialwissenschaftlichen Darstellung von Lebensverhältnissen" (11) in Stadtvierteln wie dem Brückenhof oder der Nordstadt in Kassel. Sie bemängeln den in Sozialwissenschaften üblichen Defizitansatz, da er "nicht nur das Selbstgefühl der Bewohner der betroffenen Quartiere beschädigt, sondern es wird vor allem der Blick auf vorhandene Ressourcen und Strategien der Lebensbewältigung verschiedener Bewohnergruppen verstellt." (12) Sie kritisieren an dieser – zumeist skandalisierenden – Perspektive, dass sie die Stigmatisierung der Stadtviertel unterstütze, alle Bewohner zu Opfern mache, soziale Probleme der individuellen Verantwortlichkeit zuschreibe und die sozialen Verwerfungen des gesellschaftlichen Strukturwandels in sogenannten Quartierseffekten verorte. Ziel der AutorInnen ist hingegen ein differenzierter Blick auf die soziale Lage der BewohnerInnen von Armutsvierteln. In ihrer Analyse greifen sie deshalb auf den sozialwissenschaftlichen Ressourcenansatz zurück, der Ressourcenausstattung, Handlungsmuster und Bewältigungsstrategien der BewohnerInnen in den Mittelpunkt rückt. Dabei erforschen sie die materiellen und sozialen Ressourcen der BewohnerInnen sowie die Ressourcen der "Problemviertel" selbst. Ihre umfangreiche Studie stützt sich auf die Analyse statistischer Datenbestände, Beobachtungen der laufenden Politik und 23 Experteninterviews. Kern sind über 140 Interviews mit BewohnerInnen der beiden Kasseler Stadtviertel, die sie seit 1999 mithilfe von Studierenden geführt haben. Die AutorInnen wollen damit unterschiedliche Armutsbewältigungstypen von Haushalten in "Problemvierteln" identifizieren. Zu Beginn stellen sie anhand von fünf Fallbeispielen ihre Ergebnis-Typen vor, die sie als "gesichert", "prekär", "gefährdet", "sozial-aktiv" und "marginalisiert" beschreiben.
- Im zweiten Kapitel "Existenzsicherung und Sozialbeziehungen in städtischen Problemquartieren" beschreiben die AutorInnen die Erwerbslagen der Haushalte und unterscheiden diese nach der Formen ihrer Existenzsicherung: Erwerbshaushalte mit einer relativen materiellen Stabilität (mindestens ein Erwerbseinkommen oder Rentnerhaushalte), transferabhängige Haushalte und prekäre kombinierte Haushaltseinkommen. Inwiefern die Einkommenslage allerdings deren Handlungspotenziale bestimmen, so die AutorInnen, "zeige sich erst in ihrer Einbettung in soziale Netze und im Zusammenhang rechenbarer sparsamer Haushaltstrategien und Orientierungen einer planvollen Lebensführung" (51). Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die Erwerbslagen und die Formen der materiellen Existenzsicherung (Erwerbsarbeit, Eigenarbeit, Schwarzarbeit etc.) in Armutsvierteln vielfältiger sind, als allgemein angenommen wird. Aber es gebe auch "eine Polarisierung zwischen Erwerbs- und Transferhaushalten, die durch Eigenarbeit verdoppelt wird." (67) "Die besser gestellten erwerbstätigen Bewohner können ihre Situations-Vorteile durch Eigen- und Netzwerkleistungen noch ausbauen." (67) Ausgehend von der "klassischen" Erkenntnis der soziologischen Arbeitslosenforschung, dass Langzeitarbeitslosigkeit meist mit einem Rückzug von sozialen Kontakten in die engere Familie sowie Vereinsamung einhergeht, fragen die StadtforscherInnen vor dem Hintergrund ihrer identifizierten Typen von Armutshaushalten, ob "Armut und Arbeitslosigkeit grundsätzlich in soziale Isolation [führen]" (77). Die Menschen im "Problemviertel" gehen sehr unterschiedlich mit Armut um. Die AutorInnen erkennen in der Verschränkung von Erwerbslagen und Sozialbeziehungen unter dem Gesichtspunkt der Armutsbewältigung fünf "Lagetypen" (Marginalisierte, aktive Arme, Prekäre mit Eigenpotentialen, Gefährdet, Gesicherte).
- Im dritten Kapitel "Bindungen und Konflikte im Problemviertel" fragen die ForscherInnen nach den Ressourcen der Problemviertel selbst: die Nachbarschaft als Beziehungs-Ressource, das Versorgungsangebot der "Problemviertel" und seine Wahrnehmung sowie die Art des gegenseitigen Umgangs der BewohnerInnen. Sie stellen fest, dass "die Nachbarschaftsbeziehungen besser als ihr Ruf [sind]. Es überwiegt ein zeremonielles Nachbarschaftsverhalten, ohne besondere Belastungen." (134) Das Versorgungsangebot ist im Altbauviertel besser als im Neubauviertel – vor allem für Migrantenhaushalte. Das Wohnungsangebot stellt in beiden Stadtvierteln keine Ressource dar: im Neubauviertel aufgrund relativ hoher Sozialmieten und im Altbauviertel aufgrund des schlechten Sanierungszustands, der Heiz- und Nebenkostenabrechnungen für viele zu einer Falle werden lässt. Zuletzt bewerten sie "den "Gebrauchswert" von personenbezogenen sozialen Dienstleistungen" (145) aus Sicht der BewohnerInnen und kommen zu dem Ergebnis, "dass die materielle Absicherung sowohl der marginalisierten als auch der prekären Bewohnergruppen in den untersuchten Quartieren auf niedrigstem Niveau gesichert ist" (167). Zugleich schlagen sie vor, dass die sozialen Dienste im Sinne ihrer Typologie von Bewohnergruppen Bedarfsanalysen für Einzelfall-Arbeit oder Interventionen entwickeln. Stigmatisierung und Diskriminierung der BewohnerInnen eines "Problemviertels" hängen vor allem von dessen Image ab. Der Negativ-Effekt der Adresse sei aber kaum greifbar zu machen. Sie behaupten, dass "Stigma und Diskriminierung sich an der Migranten-Existenz und an Armut festmachen; ein "Gebiets-Stigma" erschiene so nur als Verschärfung eines generellen Stigmas, das auch Armut und dem Ausländer-Status lastet." (187)
- Nach einem "Exkurs über Communities, ethnische Beziehungen und Ressourcen" analysieren die AutorInnen im vierten Kapitel die soziale Lage der BewohnerInnen in den drei französischen "Problemvierteln" Cités Chanteloup/La Noe, Les Buis und Champ Montants. Sie stellen Unterschiede und Ähnlichkeiten der "Problembezirke" in Frankreich und Deutschland dar, um abschließend zu fragen, ob Deutschland "von Frankreich lernen" müsse? In beiden Ländern ist Armut in den Stadtviertel in erster Linie auf Arbeitslosigkeit zurückzuführen. In zweiter Linie betroffen sind in Frankreich kinderlose NiedriglohnempfängerInnen, in Deutschland große Migranten-Familien. Die französische soziale Stadtpolitik bewerten sie insgesamt widersprüchlich: "Die Anlage der Politik und die Realität der Arbeit von Sozialeinrichtungen in den französischen Problemvierteln sind in vieler Hinsicht vorbildlich, in etlichen Aspekten allerdings problematisch." (273) Zumindest habe aber die Förderungspolitik bewirkt, "dass keine den US-Verhältnisse vergleichbare Underclass entstanden ist und keine Ghetto-Entwicklungen sich angebahnt haben." (273) Im Gegensatz zu Deutschland spielen in Frankreich das schlechte Image und die damit zusammenhängende Diskriminierung eine zentrale Rolle. Die AutorInnen ziehen insgesamt ein pessimistisches Fazit: 25 Jahre Quartierspolitik in Frankreich haben lediglich zu einer "Neuverteilung sozialer Chancen" geführt, eine "starke Minderheit" habe zwar tatsächlich davon profitiert, habe aber mit dem sozialen Aufstieg auch die "Cité" verlassen, aber keine nachhaltige Verbesserung für das Problemviertel mit sich gebracht.
- Im abschließenden fünften Kapitel "Marginalisierung und Ressourcen" resümieren die AutorInnen, dass sich das Verhältnis von gesellschaftlichen Marginalisierungstendenzen, Ressourcen und Gegenkräften zur Stabilisierung im Ländervergleich nicht allgemein beantworten lasse, da die lokalen Verhältnisse zu unterschiedlich seien: Manche "Problemviertel" drohen trotz massiver sozialpolitischer Interventionen "abzukippen". Die BewohnerInnen von Armutsvierteln leiden besonders unter der Prekarisierung der Beschäftigung, Beschäftigungszunahme im Wirtschaftsaufschwung geht meist an ihnen vorbei. Während Sozialprojekte versuchen, solche "Abwärtsspiralen" zu bremsen, selektieren andererseits staatliche Instanzen. Um diesen entgegenzuwirken, müssten allerdings drei Dimensionen – Wirtschaftsentwicklung, soziale Netze und staatliche Politik – beachtet werden.
Diskussion
Die AutorInnen werfen einen sehr tiefen empirisch Blick in die Sozialstruktur und sozialen Beziehungen der BewohnerInnen von Armutsvierteln und räumen mit zahlreichen Mythen und "einfachen Antworten" über städtische Armenviertel auf. Diese gehaltvolle Grundlagenstudie bildet einen interessanten Ausgangspunkt für soziale Dienste und StadtteilarbeiterInnen, ihr Angebot näher an den Bedürfnissen der BewohnerInnen auszurichten.
Aufschlussreich ist die knappe begriffliche Reflexion der AutorInnen, die feststellen, dass einige ihrer anfänglichen fundamentalen Kategorien wie "Haushalt" und "Armut" angesichts kultureller Differenzen und unterschiedlicher Bewältigungsstrategien der BewohnerInnen in der Analyse nicht haltbar waren und angepasst werden mussten.
Die Analyse der französischen Armenviertel wirkt wie nachträglich an die deutsche Studie angehängt, die den Hauptbestandteil des Buches ausmacht. Das Buch erscheint dadurch ein wenig unstrukturiert, da beide Fälle auch nicht durchgehend aufeinander bezogen werden.
So sympathisch der Ressourcenansatz auch ist, indem er die Forschungsobjekte, ihre soziale Lage, Handlungspotenziale und -strategien in den Vordergrund rückt, so merkwürdig mikroperspektivisch wirkt die Analyse dadurch an manchen Stellen: Die Studie weist nur selten über die Grenzen der untersuchten "Problemviertel" hinaus. Weder thematisieren sie übergeordnete oder gesamtstädtische Entwicklungen noch nationale und städtische (Sozial-)Politiken.
Fazit
Trotz dieser Einwände ist das Buch allen zu empfehlen, die sich wissenschaftlich oder praktisch mit Armut beschäftigen, weil die wohldurchdachte empirische Analyse hohen Erkenntnisgewinn verspricht und man zahlreiche Anregungen aus der Lektüre ziehen kann.
Rezension von
Dipl. Politologe Christian Schröder
Evangelische Sozialberatung Bottrop (ESB)
Website
Es gibt 17 Rezensionen von Christian Schröder.
Zitiervorschlag
Christian Schröder. Rezension vom 26.12.2008 zu:
Rainer Neef, Rolf Keim: "Wir sind keine Sozialen". Marginalisierung und Ressourcen in deutschen und französischen Problemvierteln. UVK Verlagsgesellschaft mbH
(Konstanz) 2007.
ISBN 978-3-86764-018-3.
Reihe: Analyse und Forschung - 53. Zusammen mit Alexandra Engel und Hervé Vieillard-Baron.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/5197.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.