Monika Nienstedt, Arnim Westermann: Pflegekinder und ihre Entwicklungschancen nach frühen traumatischen Erfahrungen
Rezensiert von Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner, 08.12.2007
Monika Nienstedt, Arnim Westermann: Pflegekinder und ihre Entwicklungschancen nach frühen traumatischen Erfahrungen. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2007. vollständig überarbeitete Neu- Auflage. 414 Seiten. ISBN 978-3-608-96007-5. D: 32,00 EUR, A: 32,90 EUR, CH: 55,00 sFr.
Thema
Nach tragischen Fällen von Kindesvernachlässigung und -mißhandlung wird über Prävention und über frühe Hilfen für Eltern und Kinder diskutiert. Die Herausnahme eines Kindes aus der Familie und dessen Unterbringung im Heim oder einer Pflegefamilie gilt häufig als unbedingt zu vermeidende Maßnahme. Monika Nienstedt und Armin Westermann arbeiten seit 30 Jahren mit Kindern, die aufgrund der eingeschränkten Erziehungsfähigkeit der Eltern von diesen getrennt auf Dauer in einer Pflegefamilie leben.
Aufbau und Inhalt
In der Einleitung setzen sich Nienstedt und Westermann sehr kritisch mit dem Vorgehen in der Jugendhilfe auseinander. Sie beklagen das häufig zu lange Bemühen der Jugendämter, durch ambulante Hilfen das Kind in der Familie zu halten, und bemängeln, dass über die Hilfen für die Eltern die Bedürfnisse des Kindes aus dem Blickfeld geraten und der Kinderschutz vergessen wird. "Die Familienideologie führt dazu, dass die Individualität des Kindes nicht respektiert wird" (S. 37). Sie prangern das Konzept der Pflegefamilie als Ergänzungsfamilie an und fordern, die Pflegefamilie als Kinderschutzmaßnahme zu schützen, um Kindern durch das Aufbrechen des Generationenfortschreitens und das Aufwachsen in langfristig stabilen und sicheren Beziehungen eine gesunde Entwicklung zu ermöglichen.
Die weiteren Kapitel des Buches sind zu drei Teilen zusammengefasst.
Der erste Teil hat Mißhandlungserfahrungen und ihre Verarbeitung
in der neuen Eltern-Kind-Beziehung
zum Thema. Das Autorenpaar beschreibt die innere und äußere Realität
traumatischer Erfahrungen sowie Ursachen und Wirkungen von
Kindesmisshandlungen. "Tiefgreifende Beziehungsstörungen bei misshandelten
Kindern sind am ehesten zu korrigieren, wenn das Kind noch einmal erfährt, dass
es ohne jeden Vorbehalt angenommen wird" (S.78). Deshalb befürworten sie eine
vorübergehende Fremdplatzierung nur, wenn äußeren Bedingungsfaktoren und den
akuten, Krisen auslösenden Bedingungen ein größeres Gewicht zukommt als den
Persönlichkeits- und Beziehungsstörungen der Eltern. In allen anderen Fällen
sollte eine Dauerpflege angestrebt werden, denn das Kind braucht eine sichere,
dauerhafte Perspektive in neuen Beziehungen.
Ziel eines
Dauerpflegeverhältnisses ist die Entwicklung neuer intensiver und individueller
Eltern-Kind-Beziehungen, in denen das Kind neue, korrigierende Erfahrungen
machen kann. Das Autorenpaar postuliert, dass das korrigierende
Noch-einmal-Durchleben einer gesunden frühen Entwicklung auf der Reifestufe
beginnen muss, auf der die Entwicklung des Kindes durch traumatische
Erfahrungen gestört worden ist. Dabei ist es auch wichtig, die Erfahrungen des
Kindes in der Herkunftsfamilie zu kennen, um sein Agieren und seinen
Negativismus zu verstehen und akzeptieren zu können.
Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich mit den Beziehungen des Pflegekindes zu den leiblichen Eltern. Nienstedt und Westermann prangern die Annahme, dass die Kinder trotz Misshandlung ihre Eltern lieben und dies eine erhaltenswerte Beziehung darstelle, als fälschlich an. Die Beziehung ist im Gegenteil hoch angstbesetzt. Bei Besuchskontakten fühle sich das Kind nicht geschützt durch seine Pflegeeltern, sondern verraten. Es kann so die neuen Chancen nicht hinreichend nutzen und die traumatischen Erfahrungen nicht realistisch verarbeiten und bewältigen; die angstbesetzten Kontakte üben weiterhin Macht aus. Eine strukturelle, grundlegende Veränderung seiner Persönlichkeits- und Beziehungsstrukturen sei so nicht möglich. "Und das bedeutet in allen Fällen, in denen ein Kind die Eltern als nicht schützend und höchst unbefriedigend, als beängstigend und bedrohlich erlebt hat, dass das Kind vor jeglichem, das Kind verpflichtenden Beziehungsansprüchen der Eltern auf Dauer geschützt werden muß" (S. 222). Eine Aufrechterhaltung des Kontaktes "beruht auf einer Verleugnung der traumatischen Erfahrungen. Sie setzt das Kind einer Retraumatisierung aus, die durch nichts zu rechtfertigen ist" (S.237). Die Frage der Identität des Pflege- und Adoptivkindes wird in einem eigenen Kapitel ausführlich diskutiert.
Im dritten Teil geht es um Fragen der Vermittlung und Beratung. Es werden Kennzeichen, Aufgaben und Funktion von
Heim- und Familienerziehung herausgearbeitet. Während einer Heimunterbringung
kann die Erziehungsfähigkeit (insbesondere Beziehungsfähigkeit,
Einfühlungsfähigkeit, Lernfähigkeit) der Herkunftseltern überprüft und die
Perspektive des Kindes geklärt werden. Im Heim als nicht-individualisierte Form
der Unterbringung ohne ängstigende Familienstrukturen kann das Kind offen für
neue Beziehungen werden. Wenn das Kind die Bereitschaft zeigt, neue Beziehungen
eingehen zu können, kann gezielt der Kontakt zur Pflegefamilie angebahnt
werden.
Nienstedt und Westermann sehen bei vernachlässigten Kindern die Unterbringung bei den Großeltern
sehr kritisch, nicht nur wegen des Alters der Großeltern. Sie stellen in diesen
Fällen deren Erziehungsfähigkeit durch neurotisch verzerrte Beziehungsformen
grundlegend in Frage. Es drohe die Wiederholung narzisstischer Beziehungsformen
in der Beziehung zum Enkel; das Enkelkind werde funktionalisiert und
narzisstisch ausgebeutet.
Das Autorenpaar prangert
auch die gemeinsame Unterbringung von Geschwisterkindern als "Ideologie" an.
Nach ihren Erfahrungen scheitern gemeinsame Unterbringungen sehr häufig, weil
die Pflegeeltern überfordert sind, sich die Kinder durch ihre Konkurrenz in der
Entwicklung der neuen Eltern-Kind-Beziehung behindern und alte Rollenmuster aus
der Herkunftsfamilie leichter erhalten bleiben. Es werden auch Empfehlungen zur
Kinderkonstellation in der aufnehmenden Familie und dem Umgang mit
geschwisterlicher Konkurrenz formuliert.
Angesichts einer hohen
Abbruchrate bei Pflegeverhältnissen verdeutlichen sie, dass diese in allen
Phasen der Unterbringung scheitern können, und betonen die Notwendigkeit einer
kompetenten, methodisch und inhaltlich gut begründeten Vermittlungspraxis und
langfristigen Beratung und Betreuung der Pflegefamilie.
Diskussion
Das Autorenpaar hat konsequent den Schutz des Kindes im Focus; sie sind keine Anwälte der Herkunftsfamilie. Wenn die Kinder dort frühen verletzenden Erfahrungen ausgesetzt waren, Misshandlung und Verwahrlosung durchleiden mussten, treten sie ohne Wenn und Aber für eine Trennung von den leiblichen Eltern ein. Sie betonen das Recht des Kindes auf eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung.
Eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung in der Pflegefamilie und in einer sicheren Bindung zu den Pflegeeltern kann nach Nienstedt und Westermann nur gelingen, wenn erkannt wird, dass sich die Bedürfnisse von Pflegekindern von denen von Scheidungskindern (denen beide Elternteile und damit Familien erhalten bleiben sollen) grundsätzlich unterscheiden. Die Wahrscheinlichkeit eines Abbruchs werde erhöht, wenn die die traumatischen Erfahrungen des Kindes verleugnet werden, wenn an den Beziehungen zur den leiblichen Eltern festgehalten werde und das Kind sich nicht von ihnen distanzieren darf, wenn das Kind ohne vorübergehende Unterbringung in einem Kinderheim, in dem es offen für neue Beziehungen wurde, in die Pflegefamilie kommt und/oder zusammen mit Geschwistern und nicht als jüngstes Kind in die Pflegefamilie kommt.
In ihrer Argumentation stützen sie sich auf ihre langjährige diagnostische und therapeutische Erfahrung; sie stellen in vielen Fallbeispielen die Innenwelt der Kinder dar, wie sie sich ihnen in projektiven Verfahren (wie Sceno, CAT, und ähnlichem) zeigt. In der Interpretation stützen sich überwiegend auf die Freudsche Psychoanalyse, beziehen aber auch die Bindungstheorie und -forschung mit ein.
Zielgruppen
Das Buch "wendet sich an alle, die sich dem Wohl der Kinder verpflichtet fühlen, vor allem an Kinder- und Jugendlichentherapeuten, Pflege- und Adoptiveltern, Sozialarbeiter, Heimerzieher, Psychologen und Therapeuten, Lehrer, Ärzte, Rechtsanwälte, Richter, Journalisten, Politiker, ..." (Klappentext)
Fazit
Das Buch ist vollständig überarbeitet und modernisiert. In ihrem kompromisslosen Eintreten für die Pflegekinder sind sich die Autoren jedoch treu geblieben. Aufgrund seiner Parteilichkeit wird das Buch nicht ohne Widerspruch bleiben. Es kann zum Nachdenken anregen und dazu beitragen, die eigenen Einstellungen und das jeweilige Vorgehen kritisch zu hinterfragen, so dass in jedem Einzelfall nach einer tragbaren Lösung gesucht wird, die nicht nur die Interessen der Erwachsenen, sondern vor allem die Bedürfnisse des Kindes berücksichtigt. Die Wichtigkeit einer kompetenten, methodisch und inhaltlich gut begründeten Vermittlungspraxis und langfristigen Beratung und Betreuung der Pflegefamilie kann nicht genug betont werden.
Rezension von
Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner
ehem. Leiter der Interdisziplinären Frühförderstellen in Dorfen, Erding und Markt Schwaben im Einrichtungsverbund Steinhöring
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Es gibt 197 Rezensionen von Lothar Unzner.
Zitiervorschlag
Lothar Unzner. Rezension vom 08.12.2007 zu:
Monika Nienstedt, Arnim Westermann: Pflegekinder und ihre Entwicklungschancen nach frühen traumatischen Erfahrungen. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2007. vollständig überarbeitete Neu- Auflage.
ISBN 978-3-608-96007-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/5199.php, Datum des Zugriffs 12.12.2024.
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