Heiko Kleve: Postmoderne Sozialarbeit. Ein systemtheoretisch-konstruktiver Beitrag zur Sozialarbeitswissenschaft
Rezensiert von Prof. (em) Dr. Herbert Effinger, 08.10.2007
Heiko Kleve: Postmoderne Sozialarbeit. Ein systemtheoretisch-konstruktiver Beitrag zur Sozialarbeitswissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2007. 2. Auflage. 286 Seiten. ISBN 978-3-531-15465-7. 24,90 EUR.
Entstehungshintergrund und Zielsetzung
Bei diesem Buch handelt es sich um die Dissertation des Autors, mit der er sein Studium der Sozialen Arbeit mit Auszeichnung abschloss. Es erschien erstmals 1999 im Kersting Verlag Aachen. Mit dem Begriff der Postmoderne möchte Kleve auf die grundlegenden Ambivalenzen der Profession und der Disziplin Sozialer Arbeit hinweisen und zeigen, dass die damit verbundenen Widersprüche und Paradoxien weder durch theoretische Konzepte noch durch praktisches Handeln aufgelöst werden können, sondern zu den Wesensmerkmalen einer Sozialen Arbeit gehören, die er mit dem Begriff der Postmoderne charakterisiert. Die Anerkennung dieser Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten hält er für eine wesentliche Voraussetzung für eine konstruktive Weiterentwicklung der theoretischen Begründungen der Disziplin und der praktischen Kompetenzen in der Profession. Die bis heute anhaltende und u.a. durch die erste Auflage von 1999 mitverursachte Kontroverse um den Gehalt und die Bedeutung systemisch-konstruktivistischer Theorien und Handlungsansätze in der Sozialen Arbeit gaben den Anstoß für eine Neuauflage.
Aufbau und Inhalt
Kleve geht der zentralen Frage nach "worauf der gegenwärtige Zustand der Sozialen Arbeit als Profession und als Disziplin eine Antwort ist". Ausgehend von einem systemisch-konstruktivistischen Grundverständnis möchte er die Soziale Arbeit aus multiperspektivischer Sicht neu erkunden und dabei an unterschiedliche theoretische Traditionen anschließen.
Im ersten Teil umreißt Kleve seine Grundthese von der gesellschaftlichen Entwicklung, wonach mit dem Ende der Moderne das Ende der Eindeutigkeit und einer rationalisierbaren Ordnung eingetreten sei. Dies führe zu grundlegender Ambivalenz, Paradoxien und nicht mehr rational steuerbaren Entwicklungen mit unbeabsichtigten Nebenfolgen. Diese Unordnung und Uneindeutigkeiten können weder theoretisch noch praktisch aufgehoben oder aufgelöst werden, sondern man müsse lernen, mit ihnen zu leben und diese Entwicklung produktiv nutzen.
Zunächst entfaltet er seine Begrifflichkeit von Ambivalenz als Mehrdeutigkeit und Unbestimmbarkeit in psychischen, sozialen bzw. kommunikativen Verhältnissen. Als Belege für seine Thesen bezieht er sich insbesondere auf die philosophisch-erkenntnistheoretischen und systemtheoretischen Arbeiten von Zygmunt Baumann, Jacques Derrida, Wolfgang Welsch, Jean-Franzis Lyotard und Niklas Luhmann.
Im Rahmen seiner erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Dimension entfaltet er zunächst reflexionstheoretische Ausgangspunkte und beschäftigt sich dann vor allem mit den Begriff der Ganzheitlichkeit, dem Theorie-Praxis-Verhältnis und deren Bedeutung für die Theorieentwicklung und das Methodenverständnis in der Sozialen Arbeit. Vor dem Hintergrund nicht auflösbarer Kontingenz, Ambivalenz und Kontextabhängigkeit zieht er zwei Schlüsse für die Praxis: Erstens ein Plädoyer für einen Methodenpluralismus und zweitens eine grundsätzliche Doppelperspektive von Individual- und Systemperspektive.
Im Rahmen seiner sozialtheoretischen Dimensionen entwickelt er seine gesellschaftstheoretischen Ausgangspunkte vor dem Hintergrund der Theorien von Luhmann, Beck und Jokisch. Dabei geht er insbesondere auf die Frage nach der Funktion Sozialer Arbeit in modernen bzw. postmodernen Gesellschaften ein. Im Zentrum steht hier die Auseinandersetzung mit den Begriffspaaren Exklusion/Inklusion einerseits und Desintegration/Integration andererseits. Er stellt diese Begriffspaare und ihre unterschiedlichen theoretischen Hintergründe nebeneinander und bezieht sie anschließend als grundsätzlich voneinander verschiedene Mechanismen aufeinander. Damit begründet er seine These von der Eigenständigkeit der Sozialen Arbeit als einem Funktionssystem der heutigen Gesellschaft.
Im letzten Teil seiner Arbeit, der praxistheoretischen Dimension beschäftigt sich Kleve zunächst mit den klassischen Ambivalenzen und Paradoxien, wie der Gleichzeitigkeit von Hilfe und Kontrolle, von Nächstenliebe und Beruflichkeit, von Macht und Ohnmacht, welche die Praxis beruflich verfasster, professioneller Sozialer Arbeit und die Literatur darüber seit längerem kennzeichnen. Dabei geht er dann auch auf diverse handlungstheoretische Perspektiven bzw. "Orientierungen", wie beispielsweise die Lösungsorientierung und das Problem der sozialen Gerechtigkeit, ein. Er schließt damit, dass man die Soziale Arbeit als "Gerechtigkeitsarbeit" bezeichnen könne. Hiermit meint er allerdings nicht, dass sich Soziale Arbeit noch stärker normativ ausrichten müsse, sondern dass sie aus einer funktional-strukturalistischen Perspektive immer mit Exklusionsvermeidung oder stellvertretender Inklusion beauftragt sei und deswegen ihre Finger in die Wunden dysfunktionaler, postmoderner Gesellschaften legen müsse.
Diskussion
Heiko Kleve hat mit seiner Arbeit ein gleichzeitig leidenschaftliches und unfundamentalistisches, zum offenen Diskurs einladendes und herausforderndes Werk vorgelegt. Ein paar dieser für den Rezensenten offenen Fragen möchte ich hier benennen.
Obwohl Kleve nicht den Anspruch erhebt, dass seine Aussagen ambivalenzfrei seien, so macht er dennoch den Versuch - und das ist ja wohl auch der generelle Anspruch von Theorie - ein wenig Ordnung in eine zunehmend unübersichtlicher werdende Landschaft von Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit zu bringen. Diese Ordnung versucht er auf durchaus paradoxe Weise herzustellen. Zum einen durch einen klassischen Versuch theoretischer Durchdringung dieses unübersichtlichen Geländes mit einem systemisch-konstruktivistischen Programm als seinem Navigationssystem. Zum anderen mit einem ganz untheoretischem, nicht systemischen Appell an die Haltung der Theoretiker und Praktiker, man möge doch ein wenig mehr Gelassenheit entwickeln, von den unmöglichen Versuchen absehen, Eindeutigkeiten herzustellen und herbei zu schreiben, wo doch die Mehrdeutigkeiten und Ambivalenzen das eigentlich konstruktive und produktive seien. Wenn Kleve dies auch so nicht gemeint hat, so kann man diesen Schluss doch leicht als Aufruf zur Beliebigkeit missverstehen. Dass dieser Ansatz nicht, wie er selbst schreibt, zur Bodenlosigkeit von Werten und Normen führen muss (37ff), erfordert sicherlich ein Weiterdenken darüber, wie in der praktischen und theoretischen Arbeit eine Verantwortbare Ethik der Sozialen Arbeit begründet werden kann.
Mir ist nicht klar geworden, warum Kleve an dem Begriff der Ganzheitlichkeit festhält, und hierin sogar noch das spezifisch sozialarbeiterische zu erkennen glaubt, obwohl er selbst zeigt, wie missverständlich, irreführend und missbräuchlich - und das ist m.E. etwas anderes als nur mehrdeutig - mit diesem Begriff umgegangen wird. Gerade dieser Begriff suggeriert - unabhängig von dem theoretischen Kontext, in dem er verwendet wird - immer wieder den Anspruch, wir könnten theoretisch und praktisch das Ganze und damit also das Vollständige der Ursachen und Bedingungen Sozialer Arbeit erfassen und bearbeiten. Dass dies nicht nur eine grandiose Selbstüberhöhung und -überschätzung von Profession und Disziplin darstellt, versucht er ja gerade zu zeigen.
Der Begriff der Intermediarität - den er auch verwendet - oder der Moderation als einer systemfunktionalen Aufgabe, die eine entsprechende, allparteiliche Haltung der Sozialen Arbeit begründet, scheint mir viel mehr geeignet seinen Ansatz zu klassifizieren und weiter zu entwickeln.
An dieser Stelle soll auch noch ein anderer Einwand vorgetragen werden. Die Beschreibung der Entwicklung von Gesellschaft und Sozialer Arbeit erweckt den Anschein einer kontinuierlichen Höherentwicklung. Auch darüber könnte man sich trefflich streiten. Allzu verkürzt wird diese Sicht m.E., wenn man unterstellt, dass z.B. im Rahmen dieser "Höherentwicklung" die jeweils vorhergehenden gesellschaftlichen Entwicklungsstufen von der nächst höheren abgelöst werden. So meine ich beispielsweise, dass es auch in postmodernen Gesellschaften aufgehobene Elemente stratifikatorischer, also älterer Gesellschaftsformationen, z.B. in den diversen sozialen Gemeinschaften und informellen Netzwerken gibt, auch wenn es nicht die bestimmenden oder dominierenden Funktionsmechanismen moderner bzw. postmoderner Gesellschaften sind. Gleichwohl basieren diese nach wie vor auf diesen Elementen. So gesehen wäre es wünschenswert, für weitere theoretische Arbeiten, die Wechselwirkungen und Chancen dieser unterschiedlichen Funktionsmechanismen aufzuzeigen. An dieser Stelle fällt auf, dass Kleve, der sich sonst mit fast allen theoretischen und metatheoretischen Konzepten moderner Gesellschaftstheorie auseinandersetzt, beispielsweise den Bourdieuschen Ansatz, völlig außer Acht lässt.
Klärungsbedarf besteht nach m.A. auch hinsichtlich der Konzepte von Exklusion/Inklusion und seiner unterstellten Beschränkung nur auf das Funktionieren Sozialer Systeme und der Beschränkung des Begriffspaares Integration/Desintegration auf die sog. Lebenswelt. Wird hierbei nicht wieder ein Dualismus von System und Lebenswelt aufgebaut, den der Autor mit seinem Bezug auf postmoderne Philosophie und moderne Systemtheorie eigentlich überwinden wollte? Es entsteht der Eindruck, als wenn Aspekte wie Liebe, Vertrauen, Reziprozität, Geborgenheit, Moral u.ä. in die Lebenswelt exkludiert werden, damit mögliche Uneindeutigkeiten aus gesellschaftlichen Funktionssystemen herausgehalten werden können. Solche Aspekte werden quasi zu Privatangelegenheiten erklärt, die mit der Funktionslogik dieser Systeme nichts zu tun haben. Zu einem anderen Ergebnis müsste Kleve kommen, wenn er die Lebenswelt als ein soziales System betrachten würde, dass sich ebenfalls nach den Gesetzen der funktionaler Differenzierung ausdifferenziert.
Überrascht zeigt sich der Leser an dieser Stelle auch aus anderem Grunde. Das Anliegen der Arbeit hat Kleve mit einem Credo pro Ambivalenz beschrieben. An dieser Stelle argumentiert er nun gegen den Integrationsbegriff, weil dieser höchst ambivalent und Integration häufig auch mit Desintegration verbunden sei. Da fragt man sich erstaunt, warum dem Integrationsbegriff und den damit beschriebenen Prozess die Ambivalenz ausgetrieben werden soll, wo doch dies geradezu das Markenzeichen seiner Gesellschaftsdiagnose ist.
Gewisse Zweifel hegt der Rezensent auch an der These von der Überholtheit der Leitdifferenz von Norm/Abweichung und der Aussage, dass die Soziale Arbeit keinen Normalisierungs- bzw. Kontrollauftrag mehr habe. Am Beispiel vieler Fallbeschreibungen aus der Jugendhilfe (z.B. Kindeswohlgefährdung) widerlegt er eigentlich seine eigene These. Hier scheint mir Kleve eher einer in der Profession und Disziplin weit verbreiteten Hoffnung nach Normalisierung - raus aus der Schmuddelecke - zu folgen, statt einer empirisch und theoretisch belastbaren Beobachtung.
Die These von der Sozialen Arbeit als Gerechtigkeitsarbeit wirkt dann auch ein wenig wie eine Versöhnungsformel nach einem langen Prozess der Dekonstruktion mit in der Sozialen Arbeit lieb gewordenen Formeln und Floskeln. Das scheint mir eher schade, denn darin liegt m.E. der Wert dieser bis heute aktuellen und wichtigen Schrift. Sie gewinnt ihren Wert auch dadurch, dass der Autor seine Thesen offensichtlich nicht nur aus einer rein theoretisch-abstrakten Perspektive entwickelt, sondern seine Thesen immer wieder mit eigenen berufspraktischen Erfahrungen konfrontiert und illustriert. Das macht diese Arbeit, auch wenn man nicht alle Thesen teilt, bis zur letzten Zeile höchst lesenswert und anregend.
Fazit
Die Lektüre des Buches belegt, dass die zweite Auflage allein dadurch gerechtfertigt ist, weil die hier aufgeworfenen Fragen immer noch aktuell sind. Darin besteht der wesentliche Verdienst dieser Arbeit. Es werden viele wesentliche Fragen aufgeworfen, für die der Autor manche überzeugende Antwortperspektiven und sicher auch manches noch nicht zu Ende gedachtes präsentiert. Aber immer sind die Antworten oder Fragmente von Antworten so anstößig, um beim geneigten Leser ein eigenständiges, widersprechendes, ambivalentes oder auch vertiefendes Weiterdenken zu provozieren. Das Buch ist für alle geeignet, die sich mit der Theorie Sozialer Arbeit in Ausbildung, Forschung und Praxis Sozialer Arbeit beschäftigen. Auch 8 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung hat es nicht an Aktualität eingebüßt und weist auf viele noch unbefriedigend geklärte Fragen der Disziplin und Profession hin.
Rezension von
Prof. (em) Dr. Herbert Effinger
Diplomsozialpädagoge (DBSH, Supervisor (DGSv), Case Management Ausbilder (DGCC), Professor für Sozialarbeitswissenschaft/Sozialpädagogik an der Evangelischen Hochschule Dresden
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Zitiervorschlag
Herbert Effinger. Rezension vom 08.10.2007 zu:
Heiko Kleve: Postmoderne Sozialarbeit. Ein systemtheoretisch-konstruktiver Beitrag zur Sozialarbeitswissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2007. 2. Auflage.
ISBN 978-3-531-15465-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/5239.php, Datum des Zugriffs 04.12.2024.
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