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Christian Spatscheck: Soziale Arbeit und Jugendkulturen

Rezensiert von Manuel Arnegger, 12.10.2007

Cover Christian Spatscheck: Soziale Arbeit und Jugendkulturen ISBN 978-3-8288-8991-0

Christian Spatscheck: Soziale Arbeit und Jugendkulturen. Jugendarbeit und die Dialektik von Herrschaft und Emanzipation im Kontext des systemtheoretischen Paradigmas der sozialen Arbeit. Tectum-Verlag (Marburg) 2006. 332 Seiten. ISBN 978-3-8288-8991-0. D: 34,90 EUR, A: 34,90 EUR, CH: 60,40 sFr.

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Zielsetzung und Aufbau

Der Autor dieses Buches hat sich viel vorgenommen: nicht weniger als eine grundlegende Bestimmung des Verhältnisses von Sozialer Arbeit und Jugendkulturen soll sein Buch leisten und darüber hinaus noch Anregungen für eine gelungene und theoretisch fundierte Praxis der Jugendarbeit anbieten. Diese Aufgabe wird gründlich und systematisch angegangen und in fünf Hauptkapiteln verfolgt, die vom Allgemeinen zum Speziellen führen und damit in einer nachvollziehbaren und logischen Abfolge stehen.

Inhalt

  1. Das erste Kapitel mit der Überschrift "Soziale Arbeit" mündet nach Ausführungen zur Sozialen Arbeit als Praxis, Wissenschaft, Lehrfach und Forschungsfeld in zwei zentralen Herausforderungen: Zunächst sieht der Autor Christian Spatscheck die Soziale Arbeit vor einer fachlich-professionellen Herausforderung. "Gerade in Zeiten von Ökonomisierung, Privatisierung und des Um- bzw. Abbaus des Sozialstaates werden fundamentale Änderungen auf die Soziale Arbeit zukommen" (S. 43). Um diesen Herausforderungen gerecht werden zu können, "müssen die Vertreter von Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit ihr theoretisch-fachliches Selbstverständnis eindeutiger klären" (S. 44). Als zweite Herausforderung beschreibt Spatscheck in Anlehnung an Manfred Kappeler die Dialektik von Herrschaft und Emanzipation, ein Spannungsfeld, in dem sich Soziale Arbeit immer wieder neu positionieren müsse. Auf der einen Seite war und ist Soziale Arbeit eine Profession, die herrschaftsförmige Beziehungen schafft oder bestehende unterstützt, auf der anderen Seite unterstützt sie benachteiligte und diskriminierte Bevölkerungsgruppen. Dieser Grundkonflikt lässt sich - so der Autor - nicht auflösen, muss jedoch reflektiert werden. Wie diesen Herausforderungen begegnet werden kann, wird am Ende des ersten Kapitels beschrieben. Als Ergebnis seiner "inhaltlich-theoretischen Suchbewegung" (S. 8) begründet Spatscheck ausführlich seine Entscheidung für das Systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit nach Staub-Bernasconi, Obrecht u.a. als theoretisch-fachlichen Bezugspunkt. Hier findet er in der Bedürfnisorientierung und Bezugnahme auf die Bedürfnistheorie Obrechts ein Leitmotiv, das sich fortan durch das gesamte Buch zieht.
  2. Was folgt ist das zweite Kapitel mit einem 50 Seiten langen Gewaltmarsch durch diesen theoretischen Bezugsrahmen. Metawissenschaftliche und objekttheoretische Grundlagen werden dargelegt, allgemeine sowie spezielle Handlungstheorie und das Verständnis Sozialer Arbeit als Menschenrechtsprofession nach Staub-Bernasconi abgehandelt. Zwangsläufig sind diese Auführungen knapp und sehr verdichtet - doch hierin liegt auch die Stärke dieses Kapitels: Dem Autor gelingt es, die zentralen Aspekte pointiert herauszuarbeiten und den LeserInnen einen Einblick in das komplexe Theoriegebäude des Systemtheoretischen Paradigmas der Sozialen Arbeit zu vermitteln - eine dankenswerte Fleißaufgabe.
  3. Im dritten Kapitel wendet sich Spatscheck dem Thema Jugendkulturen zu. In Anwendung des zuvor beschriebenen wissenschaftlichen Bezugsrahmens werden zunächst Begriffe wie Jugend, Sozialisation und Identität knapp umrissen. Anhand des Begriffes "Sozialisation" werden sehr anschaulich unterschiedliche ontologische Standardpositionen erläutert: Sozialisation kann als "Training der Einzelnen für einen Überlebenskampf in einer Welt, die letztlich nur aus Individuen bestehend betrachtet wird" (S. 118) verstanden werden, z.B. in einem neoliberalen Gesellschaftsmodell. Ebenso ist es möglich, den gesellschaftlich-funktionalen Aspekt in den Vordergrund zu stellen und Sozialisation als Anpassung an die herrschenden Normen und Werte zu verstehen. In einem vom Autor beschriebenen systemischen Modell - entsprechend des Systemtheoretischen Paradigmas - finden dagegen "sowohl die Individuen als auch die Sozialstruktur ihr Rolle als untrennbare und sich gegenseitig beeinflussende Akteure" (S. 121). Weniger abstrakt gestaltet sich der folgende Abschnitt "Jugendkulturen: Begriff, Angebote und Prinzipien". Hier werden die wichtigsten jugendkulturellen Strömungen des 20. Jahrhunderts aufgezählt und kurz beschrieben. Von der bürgerlichen Jugendbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts über die "Edelweißpiraten" während der NS-Zeit, die "Mods", die "Hippies", die "Popper" wird der Bogen bis hin zu "Grunge"-Fans und "Jesus Freaks" am Ende des 20. Jahrhunderts gespannt. Die Beschreibungen vermitteln einen Überblick, bleiben dadurch aber schemenhaft und starr. Zahlreiche Literaturangaben bieten jedoch die Möglichkeit zum vertieferenden Studium der einzelnen Jugendkulturen. Ausführlich wird in diesem dritten Kapitel das Verhältnis Jugendkultur und Gesellschaft behandelt und zunächst eine These des ersten Kapitels wieder aufgegriffen - Jugendkulturen im Spannungsfeld von Herrschaft und Emanzipation. Spatscheck untersucht im Folgenden dieses Verhältnis in unterschiedlichen Kontexten der deutschen Geschichte: Jugendkulturen im Nationalsozialismus, in der DDR und in der westdeutschen Nachkriegszeit. Der Bogen zurück zur Sozialen Arbeit wird am Ende des Kapitels geschlagen. Die im zweiten Kapitel eingeführte Bedürfnistheorie nach Obrecht dient als Referenzrahmen, um biologische, psychische und soziale Funktionen von Jugendkulturen für Individuen zu beschreiben. Gleichzeitig hilft dieser Bezug, eine normative Einschätzung im Bezug auf Jugendkulturen vorzunehmen. Knapp zusammengefasst: gut ist, was hilft grundlegende Bedürfnisse zu befriedigen, schlecht dagegen ist, was die eigene Bedürfnisbefriedigung oder die anderer beeinträchtigt.
  4. Die Soziale Arbeit rückt im vierten Kapitel wieder in den Vordergrund. Jugendarbeit und Jugendkulturen im neoliberalen Kontext sind der Gegenstand. Nach einer Definition des Begriffes "Jugendarbeit" und der Darstellung unterschiedlicher Theoriemodelle der Jugendarbeit wird der Bezug zum Systemtheoretischen Paradigma hergestellt. Das Verständnis von "Jugendarbeit als bedürfnisbezogenes Handlungsfeld" (S. 209) ermöglicht diese theoretische Verortung und erlaubt gleichzeitig eine normative Einschätzung von Situationen, die zum Beispiel mit Fremdschädigung oder Selbstschädigung einher gehen. Als nächsten Schritt der Konkretisierung stellt Spatscheck ein Verfahren vor, das es erlauben soll, Angebote der Jugendarbeit systematisch zu entwickeln. Dazu kombiniert er ein Modell Ulrich Deinets zur Konzeptentwicklung in der Jugendarbeit mit objekt- und handlungstheoretischen Annahmen des Systemtheoretischen Paradigmas. Bewusst offen bleibt die Wahl der Methoden zur Umsetzung des Angebotes. Hierfür skizziert der Autor kurz cliquenorientierte, sozialräumliche, dienstleistungsorientierte, partizipative und jugendkulturelle Ansätze. An dieser Stelle wird die zweite der beiden eingangs erwähnten Herausforderungen an die Soziale Arbeit wieder aufgegriffen. Im Kapitel "Der neoliberale Umbau der Gesellschaft" (S. 233) verweist Spatscheck auf aktuelle globale Entwicklungen und präzisiert die Notwendigkeit einer aktiven und theoretisch fundierten Jugendarbeit. Wie eine solche aussehen könnte, wird - gleichsam als Essenz der vorangegangenen Ausführung - anhand von Kriterien beschrieben. Sie beziehen sich auf fachliche Ansprüche der Jugendarbeit, auf den Umgang mit den Herausforderungen der Ökonomisierung, auf einen positiven Umgang mit Jugendkulturen und auf einen bewussten Umgang mit Macht in der Dialektik von Herrschaft und Emanzipation. In einer fachlichen Positionierung als Menschenrechtsprofession, Bezug nehmend auf das Systemtheoretische Paradigma und orientiert an konkreten Menschenrechtsvereinbarungen sieht Spatscheck abschließend die Möglichkeit, sowohl der fachlich-professionellen Herausforderung zu begegnen als auch die immanente Herausforderung durch die Dialektik von Herrschaft und Emanzipation zu reflektieren.
  5. Das fünfte Kapitel versucht, diese Kriterien auf ein konkretes Beispiel der Jugendarbeit anzuwenden. Hierzu wird das Projekt "Sound Live" der Englischen Stiftung "The Prince's Trust" beschrieben - ein Projekt das der Autor während eines Auslandsaufenthaltes in England kennen lernte. Systematisch und konsequent werden anhand dieses Projektes alle zuvor aufgestellten Kriterien auf die Ebene einer konkreten Praxis heruntergebrochen. Das ist sehr anschaulich, wirkt aber in der Unbedingtheit und Ungebrochenheit seiner Systematik an manchen Stellen etwas gewollt und aufgesetzt.

Fazit

Der Autor löst seinen Anspruch einer grundlegenden Bestimmung des Verhältnisses von Sozialer Arbeit und Jugendkulturen ein. Mit der Verortung im Systemtheoretischen Paradigma und einer Betonung der Bedürfnisorientierung gelingt ihm eine theoretisch fundierte und an die Soziale Arbeit anschlussfähige Beschreibung von Stellenwert und Funktionen der Jugendkulturen. Es ist dann nur noch ein kleiner Schritt zur Jugendarbeit, den der Autor vollzieht. Die Anregungen für die Praxis beziehen sich vor allem darauf, die eigene Praxis besser begründen zu können und nicht etwa auf konkrete Praxisbeispiele oder Tipps für eine gelingende Praxis.

Die Stärken des Buches liegen vor allem in seiner wissenschaftlichen und systematischen Konsequenz, die im Verständnis einer Handlungswissenschaft auch nicht vor der praktischen Anwendung halt machen kann - hierfür bietet es ein anschauliches Beispiel.

Rezension von
Manuel Arnegger
Diplom-Sozialarbeiter (FH), Master Of Social Work (MSW)
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Es gibt 3 Rezensionen von Manuel Arnegger.

Kommentare

Anmerkung der Redaktion: Als Printversion in modifizierter Form erschienen in: Widersprüche - Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich, Heft 104, Juni 2007, 27 Jahrgang. Übernahme mit freundlicher Genehmigung.

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Zitiervorschlag
Manuel Arnegger. Rezension vom 12.10.2007 zu: Christian Spatscheck: Soziale Arbeit und Jugendkulturen. Jugendarbeit und die Dialektik von Herrschaft und Emanzipation im Kontext des systemtheoretischen Paradigmas der sozialen Arbeit. Tectum-Verlag (Marburg) 2006. ISBN 978-3-8288-8991-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/5242.php, Datum des Zugriffs 26.01.2025.


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