Klaus Boers, Jost Reinecke (Hrsg.): Delinquenz im Jugendalter (Längsschnittstudie)
Rezensiert von Gesa Bertels, 27.10.2008

Klaus Boers, Jost Reinecke (Hrsg.): Delinquenz im Jugendalter. Erkenntnisse einer Münsteraner Längsschnittstudie.
Waxmann Verlag
(Münster/New York/München/Berlin) 2007.
404 Seiten.
ISBN 978-3-8309-1769-4.
29,90 EUR.
Reihe: Kriminologie und Kriminalsoziologie - Band 3.
Thema
Warum werden Jugendliche straffällig? Inwiefern haben soziale Aspekte wie Familie, Schule, Freundeskreis, aber auch Lebensstil, Mediengewalt oder Migration einen Einfluss auf den Verlauf der Delinquenz? Was sind sinnvolle Präventionsmaßnahmen? Antworten auf diese aktuellen Fragen bieten Prof. Dr. Klaus Boers und Prof. Dr. Jost Reinecke in ihrem Buch "Delinquenz im Jugendalter". Es dokumentiert die Ergebnisse einer kriminologischen Längsschnittstudie.
Entstehungshintergrund
Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt "Kriminalität in der modernen Stadt" fand seinen Auftakt am Ende der 1990er Jahre, wo es diesbezüglich zu einem ersten Kontakt mit dem Münsteraner Polizeipräsidenten Hubert Wimber kam. Mithilfe einer Anschubfinanzierung durch den Kriminalpräventiven Rat der Stadt Münster fand dort im Jahr 2000 eine erste Pilotstudie unter 13-jährigen Schülern statt, die bis 2003 fortgesetzt wurde. Dabei wurden insgesamt vier Befragungswellen bis zum 16. Lebensjahr durchgeführt. Das vorliegende Buch stellt verschiedene Befunde vor, die aus den Münsteraner Befragungen gewonnen werden konnten. Am zweiten Standort, in Duisburg, läuft die Erhebung mittlerweile seit 2002. Im letzten Jahr ist sie in die sechste Panelwelle gegangen. Die befragten Jugendlichen, die zum Zeitpunkt der ersten Untersuchung auch in Duisburg 13 Jahre alt waren, sind mittlerweile volljährig. Geplant ist, die Erhebung bis zum Ende des Heranwachsendenalters fortzusetzen. Mehrere Dissertationen beschäftig(t)en sich mit Teilaspekten dieses Projekts.
Autoren
Prof. Dr. iur. Klaus Boers ist Direktor des Instituts für Kriminalwissenschaften der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Inhaber der Professur für Kriminologie. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift "Neue Kriminalpolitik", Beirat der "Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform" und Vorsitzender der Regionalgruppe Westfalen-Lippe der Deutschen Vereinigung für Jugendgericht und Jugendgerichtshilfen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u.a. Kriminalitäts- und Sanktionseinstellungen, Sozialer Umbruch und Kriminalitätsentwicklung, Oper- und Täterbefragungen sowie kriminologische Längsschnitt- und Karriereforschung.
Prof. Dr. soz. Jost Reinecke ist Professor für Soziologie und empirische Sozialforschung an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Er ist Mitglied der Sektionen Methoden, Jugendsoziologie sowie Modellbildung und Simulation in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Seine Forschungsschwerpunkte sind Rational-Choice-Theorien, die Methodologie von Klassifikations- und Strukturgleichungsmodellen in Quer- und Längsschnittuntersuchungen sowie die kriminalsoziologische Modellbildung zur Entwicklung der Jugendkriminalität.
Beide haben an dieser Publikation sowohl als Herausgeber wie auch als (Co-) Autoren mehrerer Artikel mitgewirkt. Sie wurden unterstützt von sieben weiteren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Disziplinen Soziologie, Rechts- und Erziehungswissenschaften, die als Mitarbeiter in dem Forschungsprojekt "Kriminalität in der modernen Stadt" tätig sind oder waren.
Aufbau und Inhalt
In ihrer Einführung legen Klaus Boers und Jost Reinecke die grundlegenden Ziele ihrer in Deutschland einzigartigen Studie dar. Anhand einer begleitenden Längsschnittstudie, die mit wiederholten Erhebungen dieselben Jugendlichen untersucht, sollen Erkenntnisse über die Entstehungsbedingungen von Jugendkriminalität sowie über die Auswirkungen von sozialen Kontrollinterventionen gewonnen werden.
In einem Überblick über die Hauptlinien der kriminologischen Längsschnittforschung skizziert Boers anschließend den wissenschaftlichen Kontext, in dem eine solche Untersuchung steht. Dabei orientiert er sich an den folgenden Entwicklungslinien: klassische Mehrfaktorenuntersuchungen, deskriptive Karrierestudien, persönlichkeitsorientierte Mehrfaktoren- und Karriereuntersuchungen sowie soziologische Längsschnittforschung. Die vorliegende Studie ist dem Bereich der soziologischen Längsschnittforschung zuzuordnen.
Boers und Reinecke erläutern das strukturdynamische Analysemodell und die Forschungshypothesen, die der Untersuchung zu Grunde liegen. Dabei wird deutlich, dass neben der Gewinnung von Erkenntnissen über die Zusammenhänge von Delinquenz im Wandel der Lebensstile, kulturellen Orientierungen und sozialen Milieus von Jugendlichen auch Einblicke in die Wirksamkeit kriminalpräventiver Arbeit, insbesondere im schulischen Umfeld, gewonnen werden sollen. Wie dieses Modell und die dazugehörigen Hypothesen überprüft wurden, wird in den nächsten beiden Kapiteln erklärt.
Andreas Pöge und Jochen Wittenberg beschreiben das Untersuchungsdesign und die Stichproben der Münsteraner Schülerbefragung. Anschaulich legen sie dar, wie die Erhebungen abgelaufen sind und die Datenbasis dieser Studie zustande kam. In einem sehr kurzen Abschnitt ergänzen Marc Brondies und Alina Pöge, dass zudem zwei Zusatzerhebungen durchgeführt und für die Auswertung genutzt werden konnten, nämlich eine Erhebung polizeilicher Registrierungen und eine Lehrerbefragung zu Präventionsaktivitäten in ihren Klassen. Soweit wurden vor allem Informationen über die Hintergründe und Rahmenbedingungen der Studie gegeben.
Es folgen drei beschreibende Analysen des kriminologischen Untersuchungsgegenstands.
- Klaus Boers und Christian Walburg stellen Befunde zur Verbreitung und Entwicklung delinquenten und abweichenden Verhaltens unter Jugendlichen vor. Dazu gehen sie auf die Entwicklung der Jugendkriminalität seit den 1990er Jahren im Allgemeinen sowie auf die Ergebnisse der Münsteraner Befragungen hinsichtlich der Verbreitung und dem Altersverlauf von Kriminalität, Alkohol- und Drogenkonsum bei Jugendlichen ein. Anschließend wird aufgezeigt, dass typische Muster für jugendliches Delinquenzverhalten beobachtet werden konnten.
- Alina Pöge beschreibt Klassifikationen Jugendlicher anhand ihres delinquenten Verhaltens. Mithilfe des Verfahrens der latenten Klassenanalyse werden drei unterschiedliche Delinquenzklassen herausgearbeitet.
- In einem weiteren Schritt verbindet Reinecke die Analyse latenter Klassen mit Wachstumsmodellen, um so die beobachtete und unbeobachtete Heterogenität im Delinquenzverlauf abzubilden.
Auf diese drei beschreibenden Analysen folgen Analysen der Erklärungs- und Ursachenbereiche.
- Dazu werden zunächst die Motive und Hemmnisse jugendlichen Ladendiebstahls auf der Grundlage der Theorie des geplanten Verhaltens erhoben (Jochen Wittenberg).
- Einen coping-, bzw. stresstheoretischen Zugang wählt Daniela Pollich, indem sie die kognitive Emotionstheorie von Richard S. Lazarus und ihre Anwendung auf jugendliches Gewalthandeln untersucht.
- Andreas Pöge hingegen konzentriert sich in seiner Analyse auf den Zusammenhang von sozialen Jugendmilieus und Delinquenz. Anhand einer Einteilung der befragten Jugendlichen in unterschiedliche Werte- und Musikmilieus werden milieuspezifische Einblicke in die Jugendkriminalität eröffnet.
- Mögliche Verbindungen zwischen Migration und selbstberichteter Delinquenz untersuchte Christian Walburg. Dazu prüfte er, inwieweit unterschiedliche Delinquenzraten von Jugendlichen mit und ohne Migrationserfahrung durch ihren sozialen Hintergrund, das familiäre Klima oder die Einbindung in einen kriminellen Freundeskreis zu erklären sind.
- Wiederum einen anderen Bereich betrachtet Kristina-Maria Kanz, indem sie den Fokus auf Mediengewalt und familiäre Gewalterfahrungen legt. Mittels bivariater Analysen geht sie der Frage nach, ob Jugendliche, die in ihrem Umfeld viel Gewalt erleben, auch selber gewalttätiger auftreten und welche Zusammenhänge zwischen der Gewalt in der Erziehung, der medial vermittelten Gewalt und der von den Jugendlichen ausgeübten Gewalt bestehen.
- Mit einem Blick auf die Effekte kriminalpräventiver Maßnahmen beschäftigt sich Marc Brondies, indem er die Schule als Sozialisations- und Präventionsraum untersucht und diskutiert, unter welchen Voraussetzungen schulische Präventionsmaßnahmen sinnvoll erscheinen.
- Am Ende des Buches beschreibt Reinecke in einer ersten resümierenden Analyse das Verhältnis von Wertorientierungen, Freizeitstilen, Rechtsnormen und Delinquenz im Quer- und Längsschnitt. Dabei wird herausgestellt, dass einige Wertorientierungen delinquenzfördernd, andere wiederum delinquenzreduzierend sind. Diese Einstellungen beeinflussen die Kriminalität allerdings nicht direkt, sondern überwiegend indirekt über den Grad der Akzeptanz der Rechtsnormen und das Freizeitverhalten.
Eine gute, übersichtliche Zusammenfassung und ein Ausblick (Reinecke und Boers) runden den Band ab. Im Anhang findet sich exemplarisch der Schülerfragebogen aus dem Jahr 2002.
Zielgruppe und Diskussion
Bei der Vorstellung der Publikation im Foyer des Münsteraner Schlosses im August 2007 äußerte der Polizeipräsident Hubert Wimber, das Buch sei "hartes Brot beim Durchlesen, aber es lohne die Anstrengung". Dieser Einschätzung kann man nur zustimmen. Der Text ist stellenweise durchaus anspruchsvoll, und setzt vielfach ein Interesse, bzw. Vorkenntnisse im Bereich der quantitativen Sozialforschung voraus. Gleichwohl liegt mit dieser Veröffentlichung die Dokumentation einer Untersuchung vor, die weltweit nur mit einer kleinen Handvoll anderer verglichen werden kann. Sie bietet eine Fülle von Erkenntnissen für die Praxis von sozialen und pädagogischen Fachkräften, Polizisten, Lehrern und weiteren Berufsgruppen, die in ihrem beruflichen Alltag mit jugendlicher Delinquenz beschäftigt sind. Im Bereich der Hochschule, z.B. im Rahmen von Seminaren zur Kriminalsoziologie, kann diese Studie zudem als ein gelungenes Beispiel für grundlegende Längsschnitt- und Dunkelfeldforschung in Deutschland thematisiert werden. Zudem kann man gespannt sein auf die noch folgenden Analysen und Ergebnisse, die hier teilweise schon angedeutet werden.
Fazit
Mit dieser Veröffentlichung ist sowohl für die Praxis als auch für die Wissenschaft ein äußerst lesenswertes Buch gelungen, das seinen Leser stellenweise fordert, ihn aber mit umfangreichen Erkenntnissen zum Thema Jugendkriminalität belohnt, die gerade bei der aktuell oft sehr polemisch geführten Diskussion für die erforderliche Sachlichkeit und Objektivität sorgen können.
Rezension von
Gesa Bertels
Soziologin (M.A.) und Diplom-Sozialpädagogin (FH), wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut (DJI), München
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