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Sybille Jatzko, Fritz Hitzfelder (Hrsg.): Hinterbliebenen-Nachsorge

Rezensiert von Dipl.-Theol., Dipl.-Soz.Arb. Kai Herberhold, 04.04.2008

Cover Sybille Jatzko, Fritz Hitzfelder (Hrsg.): Hinterbliebenen-Nachsorge ISBN 978-3-938179-39-0

Sybille Jatzko, Fritz Hitzfelder (Hrsg.): Hinterbliebenen-Nachsorge. Absturz der Birgenair-Maschine in der Dominikanischen Republik 1996. Stumpf + Kossendey Verlagsgesellschaft (Edewecht) 2007. 325 Seiten. ISBN 978-3-938179-39-0. 29,00 EUR.
Reihe: Themenschwerpunkt.

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Thema, Herausgeberin und Herausgeber

In der Nacht vom 6.2.1996 stürzte eine Boeing 757 der Fluggesellschaft Birgenair auf dem Rückflug aus der Dominikanischen Republik nach Deutschland kurz nach dem Start gegen Mitternacht ins Meer. Die an Bord befindlichen 189 Passagiere und Besatzungsmitglieder starben. Von diesen konnten 116 Menschen nicht gefunden werden, nur 73 wurden geborgen.

Für die Hinterbliebenen änderte das Ereignis von einer Minute zur nächsten das ganze Leben. Ab dieser Zeit müssen sie nicht nur den Verlust der nächsten Angehörigen verkraften, sondern auch die Unsicherheiten, wenn die Opfer nicht geborgen werden konnten. Dazu kommen Schwierigkeiten mit Behörden, Anpassungsschwierigkeiten im Alltag oder körperliche und seelische Beschwerden als Folgen der Katastrophe.

Sybille Jatzko, Psychologin mit viel Erfahrung im Feld der Nachsorge (Rammstein, Kaprun, u.a.), gründete mit ihrem Mann und Hinterbliebenen eine Nachsorgegruppe, die jetzt seit über elf Jahren existiert. Die Erfahrungen der Betroffenen in dieser Gruppe wie auch der dienstlich Beteiligten sind im vorliegenden Band zusammengefasst. Fritz Hitzfelder ist Mitherausgeber und selbst Hinterbliebener der Katastrophe.

Aufbau

Das Buch beginnt mit einem Abkürzungsverzeichnis (7f.), einem Geleitwort von Reinhard Tausch, emeritierter Professor des Psychologischen Instituts der Universität Hamburg (9), und einem Vorwort von Hartmut Jatzko, Internist und Mitbegründer der Nachsorgegruppe (10). Mit einem einführenden Kapitel von Fritz Hitzfelder (11f.) wird die inhaltliche Auseinandersetzung eröffnet. Die Gliederung enthält fünf Teile (A-E) und einen Anhang (319-325).

A. Der Absturz

Der einführende Teil (13-56) zeichnet sorgfältig und sehr ausführlich die Vorgeschichte des Unglücks nach. Die "Suche nach den Ursachen" (Unterkapitel 1, 14-40) befasst sich mit Örtlichkeiten, der Fluggesellschaft, der Katastrophe selber sowie der Untersuchung im Anschluss daran.

Im Unterkapitel 2 "Nach der Katastrophe" (40-51) kommen Bedienstete der unterschiedlichen Institutionen zu Wort, die aus verschiedenen Blickwinkeln mit der Katastrophe befasst waren: ein Helfer informiert über die Rettungsaktion (40f.), der Geschäftsführer der Fluglinie (41-43) und die zuständige Referatsleiterin auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld berichten über ihre Sicht der Dinge (43-47) und ein Kriminalbeamter beantwortet Fragen zur Identifizierung der Opfer (47-51). Die besondere Bedeutung des Trümmerfeldes beschreibt das folgende Unterkapitel 3 (51-56).

B. Trauer-Wege

Der Zweite Teil (57-203) befasst sich mit den unterschiedlichen Möglichkeiten, der Katastrophe zu begegnen: neben den "vielfältigen Trauerreaktionen" (58-66) in einer "Schicksalsgemeinschaft" (59-64) werden die besonderen Bedingungen "des Trauerprozesses nach belastenden Ereignissen" (66-74) beschrieben. Wertvolle Tipps beispielsweise zu "Gesprächsführung mit trauernden Hinterbliebenen", Trauerorten und "Besonderheiten [der] Trauerarbeit nach Katastrophen" werden hier gegeben.

Das Unterkapitel 3 beleuchtet das Thema "Seelsorgliche Begleitung und religiöses Ritual in der Nachsorgegruppe" (74-79). Besonders wird die Einbindung der Hinterbliebenen in die Ausbildung von Hinterbliebenen-Betreuern einer Fluggesellschaft hervorgehoben.

Auf über 100 Seiten berichten im Unterkapitel 4 Hinterbliebene selbst von ihren Erlebnissen nach dem Absturz (80-197). Diese sehr persönlichen Berichte sind sehr bewegend. Das Leben mit den Folgen der Katastrophe in den letzten zehn Jahren bekommt für den Leser durch die Schilderungen in besonderer Weise Realität, manchmal ist es dadurch schwer, weiter zu lesen, immer wieder finden sich aber auch Hoffnungen und Ermutigungen.

Ein Teil der Aufarbeitung geschieht mit Hilfe von Gedenksteinen; die Idee und die Realisierung wird kurz dargestellt und mit Bildern ergänzt (Unterkapitel 5, 197-203).

C. Nachsorge in einer Schicksalsgemeinschaft

In diesem Teil widmen sich die Autoren der "Nachsorge in einer Schicksalsgemeinschaft" (205-268). Die Umsetzung des Konzeptes (206f.) während verschiedener Treffen von Mai 1996 bis Februar 2007 (207-251) wird einfühlsam und detailliert dargestellt. Dass sich ein gemeinsamer Weg entwickelt hat, erschließt sich dem Leser eindrucksvoll.

Besonders aufschlussreich für die Arbeit mit Hinterbliebenen sind die Antworten und die Auswertung der eigens für die Nachsorgegruppe entwickelten Fragebögen, die zur Evaluierung der Hilfe eingesetzt wurden (Tab. 4, 253-266).

D. Katastrophenbewältigung

Dieser Teil (269-297) befasst sich mit der Frage "Was ist zu tun nach einer Katastrophe?". Die Relevanz der Antwort ergibt sich daraus, dass die Empfehlungen von den Betroffenen selber gegeben werden (270-283). Auch der Unmut z.B. über "unlautere Medienberichte" (283-285) findet sich hier.

Sybille Jatzko fügt hier die "Veränderungen in der Katastrophennachsorge seit dem Flugtagsunglück von Ramstein" (285-288) an, um die Entwicklung aufzuzeigen. Drei hilfreiche Stellen für Hinterbliebene werden zum Abschluss dieses Kapitels ausführlich vorgestellt: "Die Interessengemeinschaft (IG)" (288-291), "ECHO Deutschland – Verein der Opfer, Hinterbliebenen und Förderer zur Bewältigung der Folgen von Flugzeugkatastrophen" (291-294) sowie "NOAH[, die] Koordinierungsstelle der Bundesregierung zur Nachsorge" (294-297).

E. Flugzeug, Besatzung und Opfer

Im abschließenden Teil (299-317) werden neben den technischen Daten des Flugzeugs (300) auch die Piloten (301f.) und die Opfer (302-317) vorgestellt, zu einem großen Teil mit Bildern. Nicht nur an dieser Stelle kann der Leser in beklemmender Weise erahnen, was die Katastrophe für die Hinterbliebenen bedeuten muss.

Das Buch schließt mit einem Anhang (319-325), in dem ein Literaturverzeichnis (320f.), ein Abbildungsnachweis (322) und ein Verzeichnis der Herausgeber und Autoren (323-325) enthalten sind.

Diskussion

Auf fast jeder Seite wird deutlich, dass die Texte des Buches von den Betroffenen selbst (Hinterbliebene und Experten) geschrieben wurde. Besonders beeindruckend sind die Erlebnisberichte der Hinterbliebenen, welche zu Recht einen großen Raum einnehmen. Aus ihren eigenen praktischen, schmerzhaften Erfahrungen heraus geben die Verfasser kompetente Empfehlungen für alle, die sich mit Katastrophen-Nachsorge befassen. Die ausführlichen Hinweise auf hilfreiche Institutionen, die Teile über die Trauerbewältigung und eine religiöse Bearbeitung der Ereignisse und des Verlustes wirken in besonderer Weise authentisch und zeigen die Bedeutung der Arbeit in der Nachsorge-Gruppe. Gleichzeitig trägt der Band für die Mitglieder der Gruppe zur Verarbeitung der schrecklichen Erlebnisse bei. Die Form der Gemeinschaft als hilfreiches Instrument der Trauerarbeit wird ausführlich beschrieben und belegt. Und es wird deutlich, dass es je einen ganz eigenen und persönlichen Weg durch den erlebten Schmerz, die eigene Trauer und zur Trauerbewältigung braucht. Denn auch wenn die Katastrophe nie vergessen werden kann, ist es möglich, mit dem Erlebten und dem Verlust weiterzuleben. Dadurch wird die Notwendigkeit der Nachsorge in sehr augenfälliger Weise unterstrichen. Dazu bedarf es allerdings einer konsequenten und ausdauernden Begleitung (der erfasste Zeitraum des Buches beträgt immerhin elf Jahre), die sehr viel persönlichen Einsatz verlangt, wie er von Sybille und Hartmut Jatzko geleistet wurde.

Für mich als Theologen und Notfallseelsorger besonders interessant war das Unterkapitel 3 "Seelsorgliche Begleitung und religiöses Ritual in der Nachsorgegruppe" (74-79). Dass Psychologen und Seelsorger gemeinsam mit der Gruppe diesen teils schweren Weg gegangen sind, wird im Unterkapitel 4 "Die Helfer" (251-268) gezeigt und ist im Sinne der Betroffenen begrüßenswert.

Zielgruppen

Der Band ist für alle lesenswert, die sich professionell oder als Laienhelfer (zum Beispiel Psychologen und Seelsorger, Reiseveranstalter oder Vertreter unterschiedlicher Institutionen) mit den verschiedenen Facetten der Hinterbliebenen-Nachsorge befassen. Erfordernisse der Trauerarbeit, (organisatorische) Schwierigkeiten, aber auch gelingende Arbeit werden ausführlich dargestellt und hilfreich für den Umgang mit trauernden Menschen genutzt. Auch für Überlebende, Angehörige und Hinterbliebene selber hält der Band viel Wissens- und Bedenkenswertes vor.

Fazit

Das Buch bietet eine sehr gelungene Synthese aus Fakten, die das Unglück der Birgenair-Maschine beleuchten, und aus persönlichen Berichten der Hinterbliebenen über den Weg ihrer Trauer und der gemeinsamen Arbeit daran. Hier wird an vielen Beispielen dargelegt, wie Trauerarbeit gelingen kann. Gerade die Erlebnisberichte der Betroffenen waren für mich besonders beeindruckend zu lesen, zeigen sie doch die praktische Relevanz des Buches. Kritische Punkte zum Beispiel der Betreuung am Heimat-Flughafen werden darin benannt, aber auch das Gelingen der Trauerarbeit in der "Schicksalsgemeinschaft" (59ff.) wird gezeigt.

Rezension von
Dipl.-Theol., Dipl.-Soz.Arb. Kai Herberhold
Pädagogischer Leiter Bildungshaus Mariengrund
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Es gibt 6 Rezensionen von Kai Herberhold.

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ISSN 2190-9245