Petra Focks: Leitfaden für eine geschlechtsbewusste Pädagogik
Rezensiert von Dr. Barbara Stiegler, 02.09.2002
Petra Focks: Starke Mädchen, starke Jungs. Leitfaden für eine geschlechtsbewusste Pädagogik. Praxisbuch Kita. Verlag Herder GmbH (Freiburg, Basel, Wien) 2002. 180 Seiten. ISBN 978-3-451-27788-7. 11,90 EUR.
Einführung in das Thema
Kein Akteur in der Kinder- und Jugendhilfe kann sich heute dem Anspruch entziehen, eine geschlechtsbewusste pädagogische Arbeit zu leisten. Im Kinder- und Jugendhilfegesetz § 9 Abs. 3 und in den verbindlichen Regelungen des Gender Mainstreaming im Kinder- und Jugendhilfeplan wird eindeutig gefordert, dass in der Kinder- und Jugendbildungsarbeit auf die spezifische Situation von Jungen und die spezifische Situation von Mädchen geachtet werden muss. Ziel der Erziehungsarbeit ist unter anderem die Gleichstellung der Geschlechter. Diese politischen Vorgaben haben zur Folge, dass die geschlechtssensible Pädagogik endlich in den Mainstream gerät, und ihr randständiges Dasein in Forschung und Lehre aufgeben kann.
Was das Buch bietet
Auch Erziehende müssen in Zukunft Genderkompetenz erwerben und anwenden. Dazu bietet der Leitfaden von Petra Focks eine erhebliche Hilfe. Um Genderkompetenz zu erwerben, braucht man theoretisches, selbstreflexives und praktisches Wissen. Dieses Bändchen bietet alles:
- Erzieher und Erzieherinnen werden zur Reflexion über die eigene Rolle angeregt, es gibt sogar praktische Fragebögen dazu.
- Geschlechtertheoretische Ansätze werden, wenn auch manchmal etwas sehr kurz und einfach, dargestellt und pädagogische Konsequenzen gezogen.
- Es gibt umfangreiche Informationen über Ergebnisse geschlechtsspezifischer Sozialisationsforschung.
- Es werden Bausteine für die praktische Umsetzung geschlechtssensibler Gestaltung des pädagogischen Prozesse entwickelt.
Aufbau und Inhalte
Als roter Faden zieht sich die Annahme durch, dass geschlechterbewusste Pädagogik kein Konzept ist, das zusätzlich zu anderen Konzepten hinzukommt, sondern dass es sich hierbei um eine Grundhaltung der pädagogisch Arbeitenden handelt. Dazu müssen sie aber etwas über die hierarchischen Geschlechterverhältnisse und ihre Auswirkungen auf die kleinen Menschen, mit denen sie zu tun haben, wissen. Die Autorin verdeutlicht, dass eine Hinnahme von geschlechtsspezifisch konnotiertem Verhalten, wenn also z.B. kleine Jungen die Mädchen wegschubsen und sie für inkompetent erklären, von den Kindern als Verstärkung interpretiert wird. Erzieherinnen und Erzieher können sich also dem "doing gender" überhaupt nicht entziehen. Deshalb ist es wichtig, dass sie reflektieren, welche Ziele sie im Rahmen der Veränderung der Geschlechterstereotypen erreichen wollen. Wenn die pädagogische Steuerung des Verhaltens von Kindern sich nicht mehr an den Stereotypen der Geschlechter orientieren soll, müssen die geschlechtsspezifischen Prägungen kritisch hinterfragt, benannt und Alternativen aufgezeigt werden. Das bedeutet, dass bei Jungen das jeweils als mädchentypische Verhalten, bei Mädchen das jeweils als jungentypische Verhalten eher unterstützt als weiterhin sanktioniert wird. Petra Focks empfiehlt an vielen Stellen, die Eingrenzungen, die über die gesellschaftlichen Geschlechterrollenerwartungen und Geschlechtszuschreibungen passieren, zu überwinden, und Jungen wie Mädchen zu geschlechtsuntypischen Verhalten zu animieren. Das Vorbild der Erzieher und Erzieherinnen spielt in diesem Prozess eine entscheidenden Rolle. Insbesondere ist es für Jungen wichtig, Männer und männliche Identifikationsfiguren zu erleben, die jenseits der traditionellen Männlichkeit Stärke zeigen, indem sie soziale Verantwortung übernehmen, Fürsorge-, Pflege- oder erzieherische Tätigkeiten ausüben und sich nicht nur über die Berufsarbeit definieren. Umgekehrt wird von der Erzieherin erwartet, dass sie geschlechtsuntypisches Verhalten zeigt und geschlechtsuntypische Arbeiten verrichtet.
Fazit
Der Leitfaden besticht durch seine Praxisnähe, wobei die theoretischen Erörterungen ebenfalls ihren Platz haben. Dabei geht die Autorin allerdings ein wenig zu vereinfachend vor, wenn sie die hoch komplexe Debatte über die Theorie der Geschlechter in ihren Kontroversen glättet und für das praktische Verständnis herausfiltert, was sich für die Alltagsarbeit gebrauchen lässt. Ausgespart wird leider das Thema Sexualität, das in Tageseinrichtungen ja nicht unbedeutend ist und bei der geschlechtsbewussten Pädagogik auch bearbeitet werden muss. Das Buch will ein Leitfaden sein und diesem Anspruch wird es insgesamt gerecht. Es bietet umsetzungsorientiertes Wissen und Hilfestellung für die pädagogische Praxis. Geschlecht im Sinne von Gender wird ernst genommen, es geht immer um Jungen und Mädchen, Erzieher und Erzieherinnen, Väter und Mütter. Wer in Kindergärten, Kindertagesstätten und Horten, an Schulen oder auch in der Weiterbildung tätig ist, kann von dieser Arbeit profitieren. Die hier angeregte Reflexion über geschlechtsbewusste Pädagogik als Grundhaltung ist darüber hinaus für alle Männer und Frauen, die sich in irgendeiner Weise auf Kinder beziehen, von Bedeutung.
Anmerkung: Zu diesem Buch liegt eine weitere Rezension vorRezension von
Dr. Barbara Stiegler
Bis zu ihrer Pensionierung Leiterin des Arbeitsbereiches Frauen- und Geschlechterforschung
Friedrich Ebert Stiftung, Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik
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Zitiervorschlag
Barbara Stiegler. Rezension vom 02.09.2002 zu:
Petra Focks: Starke Mädchen, starke Jungs. Leitfaden für eine geschlechtsbewusste Pädagogik. Praxisbuch Kita. Verlag Herder GmbH
(Freiburg, Basel, Wien) 2002.
ISBN 978-3-451-27788-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/528.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.
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