Jost Hermand: Die Utopie des Fortschritts
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 27.10.2007

Jost Hermand: Die Utopie des Fortschritts. 12 Versuche. Böhlau Verlag (Wien Köln Weimar) 2007. 242 Seiten. ISBN 978-3-412-20015-2. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR, CH: 43,70 sFr.
Das Utopische als paradoxe Mischung aus Ideal und Illusion - oder ein Modell für progressives Denken?
Sind Utopien Orte, die sich nirgendwo befinden - U-topos, im Sinne einer auf die griechischen Philosophien zurück greifenden Illusion eines Thomas Morus, als Treibriemen einer kulturellen Entwicklung - wie dies Charles Fourier prognostiziert, als Mythos, als trügerische Hoffnung, oder als ein Entwurf gegen die (ungerechte) Wirklichkeit? Immer ging und geht es um Ansprüche, die Welt zu begreifen - entweder so, wie sie ist, oder eben zu verändern hin zu etwas Anderem, Besserem, Ideologischem. Utopie und Hoffnung, nicht Illusion, könnte somit etwas sein, "was für sich selber spricht, indem es noch schweigt", wie Bloch im "Prinzip Hoffnung" definiert.
Autor
Der 1930 in Kassel geborene und seit 1958 in den USA lebende und als Professor für Neuere deutsche Literatur und deutsche Kulturgeschichte, seit 2003 an der Humboldt-Universität Berlin lehrende Jost Hermand (em.), setzt sich seit Jahrzehnten mit Wechselbeziehungen von Geschichte, Kunst, Kultur, sowie gesellschaftlichen Utopien und Realitäten auseinander.
Inhalt
In seinem soeben erschienenen Buch unternimmt der Autor den nicht leichten Versuch - deshalb bedarf es auch zwölf Versuche - die herkömmlichen Auffassungen und Interpretationen über Utopia, als das "Schöne Land Nirgendwo", abzugrenzen gegen die seiner Meinung nach erfolgversprechenden Denkweisen von konkreten Utopien, die, im Sinne Ernst Blochs sich daran orientieren, gerechtere, glücksstiftende Gesellschaftsordnungen anzustreben. Deshalb verbindet er die gesellschaftliche Metapher "Fortschritt" mit der "Utopie". Sein Credo: "Ohne Utopie keine grundsätzliche Veränderung, keine qualitative Steigerung mehr". Damit greift er hinein in die ganz konkreten Befindlichkeiten und Mythen, die sich in drei gesellschaftlichen Entwicklungen sichtbar und spürbar zeigen: Ein abstumpfender, lähmender Pessimismus, der sich in Fatalismus und Schicksalsergebenheit äußert; ein neoliberaler Zweckoptimismus und oberflächlicher Utilitarismus, der Egoismus und Profitgier erzeugt; und schließlich Scheinutopien, die sich als chiliastische Heilserwartungen oder anarchische Einstellungen darstellen.
Hermands Leitbild von Utopikern hingegen ist, "nicht der Illusion (zu) verfallen, ihrer Zeit voraus zu sein ( ), sondern stets von den Problemen ihrer eigenen Ära aus(zu)gehen und zugleich jene Gegenkräfte zum gesellschaftspolitischen Status quo ins Auge (zu) fassen, in denen ein echtes Potential der Veränderung steckt". Dabei geht es um die intellektuelle Aufgabe, sich um einen bewusstseinserhellenden Blick für das "Ganze", für die gesamtgesellschaftlichen Verflechtungen also, zu bemühen. Und hier kommt die Illusion wieder ins Spiel, nämlich nicht den Fortschritt um des Fortschritts willen zu frönen, sondern die Existenz der Menschheit und das Ideal der Menschlichkeit in den Blickpunkt zu nehmen.
Seine zwölf Versuche für ein "wahrhaft utopisches Denken" beginnt er mit der Reflexion über ein "Ultima Thule", der Frage nämlich, ob der Nationalsozialismus eine Utopie war. Seine historische Nachschau nach der Zeit, in der völkisches und nationalistisches Gedankengut wuchs und die der nationalsozialistischen Ideologie Erfolg beschied, war, damit trifft der Autor sicherlich den Kernpunkt dieser "utopischen" Fragestellung, "erst einmal das Ergebnis einer geschickten Realpolitik und nicht ein Sieg des Utopischen". Es war die geschickte und demagogische Fähigkeit, "dem Volk aufs Maul zu schauen" und aus dem, was sich da äußert oder schlummert, heraus zu holen und "volkstümlich" auszusprechen, wie etwa die Mythen von "Blut und Boden", vom Ariertum und Germanisierung; sie also als Grundlage der Ideologie in die Köpfe der Menschen zu pflanzen.
Den zweiten Versuch beginnt er mit der Frage: "Wächst, wo Gefahr ist, auch das Rettende?". Es geht um Utopien "nach den Utopien". Der "Kalte Krieg" nach den beiden heißen Kriegen brachte neue Ideologien hervor und Frontbildungen gegen Utopien wie dem Kommunismus, weniger aber grundsätzlicher gegen Faschismen aller Art. Auch die "grünen Utopien" gerierten in den Anfangsphasen eher zu apokalyptischen Skeptizismen, denn zu einer ernsthaften Auseinandersetzung um einen Perspektivenwechsel. Dennoch: "Wer keinen Mut zur Utopie hat, hat auch keine Kraft zum Kämpfen".
Historisch gewordene Inhalte, Denkformen und Kulturerscheinungen sind nicht wiederholbar, das ist die These zu seiner dritten Nachfrage. Damit wendet sich der Autor gegen die allzu leicht ererbte und allzu oft wiederholte Auffassung nach den dinglich überkommenen Werten von Kulturgütern. Nur Haltungen (!) können beerbt werden. Die Schlagwörter von der Moderne, vom Zeitgeist und Konsumismus entpuppen sich bald, so seine vierte These, als pseudosoziologische Harmoniekonzepte, die eher einer egoistischen und neoliberalen Selbstverwirklichung, denn demokratischen und gemeinschaftsorientierten Haltungen anhängen.
Sein fünfter Reflexionsversuch kreist um die Frage, inwieweit "Mitläufertum" und "Engagement" sich ausschließen oder ergänzen (sollten!); und das nicht nur in dem essayhaft für die Bereiche der Kunst dargestellten aktuellen Entwicklungen. Der "Rückzug ins Ästhetisierende" in der Kunst, gleichzeitig verbunden mit dem ins Unpolitische, zeigt den Irrweg in den Kunsttheorien deutlich auf. Das ist seine sechste These.
Die siebte Auseinandersetzung führt der Autor über die "Krise der Oper", ganz offensichtlich und vom Umfang der Reflexionen her ein Lieblingsthema des Autors. Indem er vor dem "Abgleiten ins Kulinarische" und gleichzeitig einer "unziemlichen Aktualisierung" warnt, beschwört er herauf, was er für die Oper als "historischen Vorschein" bezeichnet, einen "hoffnungsstiftenden Utopieschimmer", den es wieder zu finden gilt. Denn das "Event" ist es, die "Spektakelkultur des Neoliberalismus", so in seinem achten Versuch, die eine Kunst für die Allgemeinheit verhindert. Nur wenn es gelingt, gegen die "kulturelle Verramschung" in den Kunstbereichen ein Bewusstsein für eine sozialgerechte und allgemeinkulturelle Gesellschaft zu entwickeln, kann Kultur wieder ihr Ureigenstes, das Utopische, hervor bringen.
Im Hildesheimer ägyptischen Museum endete kürzlich die Ausstellung "Schönheit im Alten Ägypten". Die Ausstellungsmacher haben dabei die Frage danach gestellt, was Schönheit sei und wie sie sich im Laufe der Menschheitsgeschichte und in den verschiedenen Kulturen dargestellt und verändert habe. Mit seinem neunten Versuch greift Hermand die Rolle des Schönen in der Kunst auf, indem er danach fragt: "Glamour-Effekte oder utopischer Vorschein?". Ist es also der "Schein des Schönen", der die Augen der Menschen blendet, Ohren verstopft und die Nasen verschließt? Wäre es nicht endlich an der Zeit, der Schönheit der Natur wieder mehr Respekt und Aufmerksamkeit zuzuwenden und den Menschen ihre Schönheit, weil Einmaligkeit und Humanität, zurück zu geben? Eine Utopie? Ja, und sind Philosophieren und Kunstschaffen nicht tatsächlich Möglichkeiten, für eine - um mit Brecht zu sprechen - bewusste "Verneinung des Tragischen"? Mit "Momente der Hoffnung" ist der Autor fast am Ende seiner Bemühungen, sich einer "Utopie des Fortschritts" anzunähern. Mit dem Philosophen, Dramaturgen am Berliner Ensemble und brechtisierenden Stückeschreiber, dem Marxisten Volker Braun, ist Hermand im real existierenden Deutschland angekommen. Brauns Gedichtvers - "Was ich niemals besaß wird mir entrissen, / Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen…" - kündet von jener Utopie, die zwar leise und (noch) nicht allzu oft, aber immerhin fragt: "Wessen Welt ist die Welt?".
Des Autors zwölfter Versuch stellt die utopische und gleichzeitig realistische und notwendige Frage nach der wünschenswerten Zukunft der Menschheit, Hier, Heute und Überall. Es geht um die Auseinandersetzungen darüber, ob Individualismus oder Kollektivismus das zustande bringen kann, was gemeinhin als "Gerechtigkeit" im menschlichen und globalen Dasein gefordert wird; ob dies mit mehr oder weniger Staat realisiert werden könnte - und wie eine "Zielutopie" dafür aussehen würde. Dabei greift der Autor nicht ins Utopische, sondern ins ganz Konkrete und Verwirklichbare - wenn wir Menschen nur wollten ! - nämlich: "Die entscheidende Zielutopie wäre demnach ein besser geregeltes staatliches Gebilde, in dem es zwischen Arbeit und Freizeit keinen Unterschied mehr geben würde. In ihm wäre ein Job nicht nur ein notwendiges Übel…, sondern eine Tätigkeit, die vor allem in der demokratischen Teilhabe und Mitbestimmung an den jeweiligen Arbeitsvorgängen, der Auflösung der Großindustriekomplexe, der Solidarität… besteht".
Fazit
Utopische Wünsche und allzu optimistische Hoffnungen? In der Zusammenschau der Versuche von Jost Hermand, über eine "Utopie des (anderen) Fortschritts" nachzudenken, entdecken wir - vielfach überraschend und faszinierend - dass "Utopien als die edelsten Manifestationen einer gerechteren und zugleich glücksstiftenden Gesellschaftsordnung" notwendig sind für ein humanes Überleben der Menschheit. "Die Utopie sprengt die Fesseln des Gewohnten, aber sie verlässt nicht die Grenzen der Vernunft", eine schöne Metapher und gleichzeitig ein Wegweiser für unser ganz konkretes Denken und Handeln, Hier und Heute!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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