Mark Galliker, Margot Klein u.a.: Meilensteine der Psychologie. Die Geschichte der Psychologie nach Personen, Werk und Wirkung
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 04.11.2007

Mark Galliker, Margot Klein, Sibylle Rykart: Meilensteine der Psychologie. Die Geschichte der Psychologie nach Personen, Werk und Wirkung.
Alfred Kröner Verlag
(Stuttgart) 2007.
501 Seiten.
ISBN 978-3-520-33401-5.
25,00 EUR.
CH: 43,90 sFr.
Reihe: Kröners Taschenausgaben - 334.
Thema
Die Reihe von Kröners Taschenausgabe wird mit dem Band 334 bereichert, der sich der Frage aller Fragen, nach einer "Seelenlehre" nämlich, stellt. Ist die Wissenschaft von der Psychologie als eine personenbezogene Geschichte, als problembezogene, oder ideengeschichtliche Theorie verstehen? Ist die Empirische Psychologie, wie sie in der Wissenschaftsdisziplin gelehrt wird, die Psychologie, oder gibt es Psychologien? Diese beiden Fragestellungen legt das Autorenteam ihrer "Geschichte der Psychologie" zugrunde. Wenn es stimmt, dass sich die Psychologie als Wissenschaft (wieder einmal?) in einer Krise befindet, dann sind Bestandsaufnahme und Suche nach den Quellen notwendig. Wenn die viel beschriebene und nicht unumstrittene "kognitive Wende" in der Wissenschaft der Psychologie tatsächlich als eine "Zeitenwende" zu verstehen ist, dann freilich ist es berechtigt, von einer "personenbezogenen" Geschichte zu sprechen.
Inhalt
Die insgesamt 72 aufgeführten Wegbereiter der Psychologie werden im Sinne einer spiralförmigen Systematik diskutiert und nach Epochen, Ländern und Schulen gegliedert. Die "Meilensteine" in der Geschichte der Psychologie, unter Berücksichtigung der o. a. Einschränkungen und Festlegungen durch das Autorenteam, werden mit den Denkern der griechischen Philosophie - Sokrates, Platon, Aristoteles - eingeleitet. Wertvolle Quellenhinweise und Verankerungen zeigen auf, dass das Nachdenken "Über die Seele", wie etwa bei Aristoteles (vgl. hierzu auch das in der gleichen Reihe als Band 459 erschiene Buch von Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, 2005) philosophische Tradition hat. Der Brückenschlag von der antiken Philosophie zur christlichen Heilslehre wird mit Augustinus und Thomas von Aquin vorgenommen. Die Seelenlehre, wie sie etwa bei Augustinus gedacht wird, wird zur Lehre der inneren Erfahrungen. Und das Seelenverständnis, wie es sich im Thomismus darstellt, bestimmt nach wie vor das römisch-katholische Denken, etwa bei der Frage der Abtreibung. Der Beginn der Neuzeit, eingeläutet mit der Renaissance und dem Humanismus, wird in der Geschichte der Psychologie durch Machiavelli, Erasmus von Rotterdam und Michel de Montaigne markiert. Die bekannte und skeptizistische Frage des letzteren, "Was bin ich?", wird heute erneut beim Diskurs um "Lebenskunst" aufgenommen. Mit René Descartes und Offray de la Mettrie wird auf den Französischen Rationalismus verwiesen: Das Psychische und das Somatische bilden eine Einheit. Mit der Frontstellung zur Theorie wird im Britischen Empirismus die wichtige Frage nach der Tatsachen- und Erfahrungswelt der Menschen gestellt; und damit auch Position bezogen gegen hierarchische, autoritäre und staatliche Macht, etwa von Thomas Hobbes, John Locke und David Hume. Mit der Deutschen Aufklärung kommen wir dann zu Kants erkenntnistheoretischer Grundsteinlegung, zu "Agathon" Christoph Martin Wielands, mit dem Hinweis auf individuelle psychologische Entwicklung und der Mahnung, "dass die Menschen eben häufig gerade nicht so erscheinen, wie sie sind"; der Selbstanalyse Karl Philipp Moritz“ und Adolph Freyherr von Knigges "Umgangsbuch". Das sich in der Humanitären Wissenschaftslehre entwickelnde Weltbild von der Hinwendung der Naturanschauung hin zur "geistigen Natur", wird mit Johann Gottfried Herder, Johann Wolfgang von Goethe, Johann Caspar Lavater und Georg Christoph Lichtenberg repräsentiert.
Aus diesen philosophische Denkkonstrukten entwickelt sich schließlich im 19. Jahrhundert die Geisteswissenschaftliche Psychologie, eingeleitet mit Johann Friedrich Herbart, der mit seiner "Psychologie als Wissenschaft" Wegbereiter für ein pädagogisches Denken war, das den Menschen als gesellschaftliches Wesen bestimmte. Moritz Lazarus und Hajim Steinthal können als Vertreter der Völkerpsychologie gelten. Wilhelm Dilthey "versteht den Menschen nicht als Abstraktum, sondern als ein der Gesellschaft und seiner persönlichen Welt innewohnendes Individuum". Als Mitbegründer der Hermeneutik wirkt er auf die Entwicklung der Psychologie über Jahrzehnte hinweg entscheidend ein. Alfred Russel Wallace, insbesondere aber Charles Darwin und Francis Galton begründeten die Naturwissenschaftliche Entwicklungstheorie und bewirkten nicht nur eine Revolution im dogmatischen Denken, sondern mit der Evolutionstheorie auch einen Paradigmenwechsel bei den Verhaltensforschern. Die Naturwissenschaftliche Psychologie, mit Hermann von Helmholtz, Ernst Heinrich Weber, Gustav Fechner, Wilhelm Wundt und Hermann Ebbinghaus, wendet sich von der Physiologie ab und betrachtet psychische Phänomene als der Natur des Menschen zugehörig. Die Russische Reflexologie, mit den Vertretern Sechenov, Bechterew und vor allem Pawlow, stellt einen monistischen Ansatz materialistisch-naturwissenschaftlicher Prägung dar. Mit der philosophisch, erkenntnistheoretischen Richtung entsteht in den USA die Theorie des Handelns, der Pragmatismus, mit Charles Peirce, William James und John Dewey als Vertreter. Die Würzburger Schule, mit Oswald Külpe, Narziß Kaspar Ach, Otto Selz und Karl Bühler, erhebt den Anspruch, höhere psychische Prozesse, wie Denken, Urteilen, Wollen und Aufmerksamkeit zu analysieren. Alexius Meinung und Christian von Ehrenfels von der Grazer oder auch Österreichischen Schule bringen die Spontaneität des Psychischen in den Diskurs und gelten daher als die unmittelbaren Vorläufer der Gestaltpsychologen. Die Prinzipien der Gestaltpsychologie werden von Max Wertheimer, Wolfgang Köhler, Kurt Koffka und Wolfgang Metzger von der Berliner und Frankfurter Schule entwickelt. Die (zweite) Leipziger Schule ergänzt diese Theorien durch die Strukturtheorie nativistischer Prägung: Felix Krüger, Friedrich Sander und Albert Wellek stehen für diese Richtung.
Wir sind bei der geschichtlichen Betrachtung der Entwicklung der Psychologie bei der Psychoanalyse als theoretisches und therapeutisches Verfahren angelangt; natürlich mit dem Begründer der Wiener Schule, Sigmund Freud, der Kinderanalyse Anna Freuds, der Psychoanalyse des Kindes von Melanie Klein und John Bowlbys Untersuchungen zu den Beziehungen zwischen Mutter und Kind. Carl Ramson Rogers, Reinhard Tausch und Eugene Gendlin stehen für die Personzentrierte Gesprächspsychotherapie. Der Behaviorismus, als der Lehre vom Verhalten, wird von den US-Amerikanern Edward Lee Thorndike, John Broadus Watson, Clark Leonard Hull, Donald Olding Hebb, Burrhus Frederic Skinner und Edward Chase Tolman vertreten. Die Kulturhistorische Schule setzt sich ab von der naturwissenschaftlichen erklärenden Psychologie und Reflexologie, aber auch von der geisteswissenschaftlichen verstehenden Richtung und begründet den historisch-materialistischen Ansatz. Lew Semjonowitsch Wygotski, Alexej Nikolajewitsch Lentojew und Aleksandr Romanovic Lurija verbinden naturhistorische, humangeschichtliche und experimentelle Methoden miteinander und kommen so zu der Auffassung, "dass man die gesamte Lebenstätigkeit der Menschen sowie die Entwicklung infrahumaner Lebewesen berücksichtigen müsse, um auch die spezifisch menschlichen Orientierungen zu verstehen. Sie bereiten die Grundlagen für die Neuropsychologie vor. Die Kognitive Psychologie, wie sie von den Kognitionspsychologen Frederic Charles Bartlett, Jean Piaget, George A. Miller und Ulric Neisser vertreten wird, beschäftigt sich insbesondere mit intrapsychischen Prozessen. Stimulus und Reaktion wie Umwelt und Verhalten sind die Paradigmen dieser Theorie. Mit der Frage "Hat das Ego ein Ego" eröffnen sich auch für die neurologischen Forschungen und die Robotik neue Horizonte.
Fazit
Die Autoren erheben mit ihrer personenbezogenen Darstellung der Geschichte der Psychologie nicht den Anspruch, eine "Welt"- Geschichte der Psychologie zu schreiben, sondern eine europäische. Das ist logisch, betrachtet man die Absicht, "ein Lesebuch für psychologisch Interessierte, Studierende und Fachleute, aber auch (als) ein unersetzliches Nachschlagewerk für das heimische Bücherregal" vorzulegen; es ist aber gleichzeitig ein Manko, bedenken wir, dass, nicht nur in esoterischen Bereichen, sondern durchaus auch in das europäische, wissenschaftliche Denken daoistische und schamanische psychologische Verfahren Eingang gefunden haben. Eine weitere Einschränkung ist nicht unbedingt nachvollziehbar: Auch wenn die Festlegung der Autoren auf eine Geschichte der Allgemeinen Psychologie verständlich ist, und deshalb auf die Darstellung von Forschungssystemen und -ergebnissen der Differentiellen Psychologie verzichtet wird - die Ausklammerung der Sozialpsychologie und die Begründung dafür ist für den Rezensenten nicht nachvollziehbar. Jedoch bleibt die gewaltige Anstrengung, aus den vielfältigen Theorien und Experimenten des philosophischen und psychologischen Denkens in Europa allgemeine Prinzipien für eine Humanpsychologie auszuformulieren, die der "Krise der Psychologie" begegnen könnten. Der Ruf nach der Äquivalenz und dessen Abweichungen, nach der Interiorisierung und Exteriorisierung sollte im theoretischen Diskurs und in der praktischen Ausübung aufgenommen werden.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 04.11.2007 zu:
Mark Galliker, Margot Klein, Sibylle Rykart: Meilensteine der Psychologie. Die Geschichte der Psychologie nach Personen, Werk und Wirkung. Alfred Kröner Verlag
(Stuttgart) 2007.
ISBN 978-3-520-33401-5.
Reihe: Kröners Taschenausgaben - 334.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/5301.php, Datum des Zugriffs 08.06.2023.
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