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Fabian Kessl, Christian Reutlinger et al. (Hrsg.): Soziale Arbeit und die ´neue Unterschicht´

Rezensiert von Dipl. Politologe Christian Schröder, 23.02.2008

Cover Fabian Kessl, Christian Reutlinger et al. (Hrsg.): Soziale Arbeit und die ´neue Unterschicht´ ISBN 978-3-531-15389-6

Fabian Kessl, Christian Reutlinger, Holger Ziegler (Hrsg.): Erziehung zur Armut? Soziale Arbeit und die ´neue Unterschicht´. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2007. 146 Seiten. ISBN 978-3-531-15389-6. 16,90 EUR.

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Herausgeber

Die Herausgeber des Sammelbandes, Fabian Kessl, Christian Reutlinger und Holger Ziegler, sind Erziehungswissenschaftler an den Universitäten Bielefeld, Münster und St. Gallen/Schweiz. Sie haben zahlreiche Sammelbände und Beiträge zu Sozialer Arbeit und Sozialraum veröffentlicht.

Thema / Hintergrund

Im Winter 2006 wurde in Deutschland "die Unterschicht" (wieder)entdeckt. Hatten Wohlfahrtsverbände schon lange und verstärkt seit Einführung von Hartz IV auf die wachsende Armut im Lande aufmerksam gemacht, ist das Thema seitdem auch in Politik und Medien angekommen. Doch wurde nicht Armut (und deren Ursachen) an sich skandalisiert, sondern die Existenz einer "neuen Unterschicht" mit ihren eigenen Kultur. Die "Unterschicht" spricht zwar nicht selber, aber alle sprechen über sie: über ihre Verhaltensweisen, ihre Lebensverhältnisse und wie mit ihr umgegangen werden müsse. Nur die, die eigentlich von ihrer Berufung her für "die Unterschicht" zuständig sind, verhielten sich auffällig still. Sozialarbeit und -pädagogik reagierten abwesend. Der Sammelband will deshalb die aktuelle Debatte über die "neue Unterschicht" gesellschaftstheoretisch einordnen und erklären sowie Konsequenzen für die Profession der Sozialen Arbeit aufzeigen und reflektieren.

Aufbau und Inhalt

  • Einleitend skizzieren die Herausgeber kurz die deutschsprachige Debatte um die "neue Unterschicht" seit 2004. "Entdeckte" der neokonservative Historiker Paul Nolte zuerst eine "neue Unterschicht" in Deutschland, folgten ihm kurz darauf die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) mit ihrer Milieu-Studie, der SPD-Politiker Kurt Beck und zahlreiche JournalistInnen. Dabei ist die "Unterschicht" keineswegs "neu", sondern selbst im klassenblinden Mainstream der deutschen Soziologie Allgemeinwissen. Die Herausgeber sehen deshalb nicht die Entstehung einer "neuen Unterschicht" als erklärungsbedürftig an, sondern das Reden darüber. Ihres Erachtens ist das ""Neue" an der "neuen Unterschicht" […], dass sie als Motor für politische Positionierungen dient, die sich vom bisherigen "Lösungsmodell" dem Modell der Wohlfahrtsstaatlichkeit aber verabschieden wollen." (10) Sie verstehen die "Unterschicht als diskursive Figur im Kontext einer neo-sozialen Transformation des Sozialstaats" (13f). Damit stehe aber die Soziale Arbeit, so die Herausgeber, vor einem Dilemma: Einerseits genießt sie in Zeiten "dieser aktivierungspädagogischen Neuformatierung sozialpolitischer Vorgehensweisen" (12) erhöhte Aufmerksamkeit, da die Debatte auf die Verhaltensmuster der Unterschicht fokussiere. Zugleich geht damit eine Vernachlässigung sozialstruktureller Lebenslagen einher. "Vormoderne Handlungsprogramme einer "Erziehung zur Armut" erfahren ein Comeback." (12)
  • Karl August Chassé von der Fachhochschule Jena kritisiert die Moralisierung sozialer Ungleichheit, wie sie von Paul Nolte und der FES-Studie betrieben werde, weil die "klassentheoretischen Begriffe ihrer macht- und herrschaftskritischen Gehalte beraubt" (22) werden würden und damit ein neoliberales Reformprojekt propagiert werde. Mit einem milieutheoretischen Blick in Anschluss an das sich an Bourdieu anschließende Konzept einer relationalen Klassentheorie von Michael Vester versteht der Autor Paul Noltes Ausführungen als ideologischen Versuch von oben zur gesellschaftlichen Verallgemeinerung der Deutungsmuster der Globalisierungsgewinner bis in die Mittelschichten hinein. Auf "Wahrheitsfindung" komme es in dieser Debatte nicht an. Daran anschließend ordnet er diesen Kampf um gesellschaftliche Hegemonie in allgemeine Veränderungen von Staat, Ökonomie, Gesellschaft und Wohlfahrtsstaat im Postfordismus ein.
  • Mark J. Stern von der University of Pennsylvania Philadelphia zeigt in einem englischsprachigen Beitrag die Parallelen zur US-amerikanischen "underclass"-Debatte auf, die dort in den 1980er Jahren begann. Der Autor warnt davor, die deutschen "progressive policy analysts" davor, sich zu sehr auf diese neokonservative Debatte einer Armutskultur einzulassen, da es sich bei der "underclass" nur um eine Metapher handele. Die Realität der Lebensverhältnisse der "Unterschicht" sei facettenreicher als unsere Vorstellung davon.
  • Die Bielefelder Erziehungswissenschaftler Catrin Heite, Alexandra Klein, Sandra Landhäußer und Holger Ziegler üben in ihrem Beitrag Kritik an der aktuellen Unterschichtsdebatte. Sie sehen in der immer wiederkehrenden Figur der Unterschicht "ein diskursives Element der gegenwärtigen Auseinandersetzung um eine neo-soziale Ent- und Restrukturierung des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements" (56). Denn mit der essentialistischen Zuschreibung von "typischen" Einstellungen der Unterschicht würden passive Sozialleistungen delegitimiert und mit der Aktivierungsprogrammatik ein "neuer Paternalismus" befürwortet. "Dieser Diskurs scheint zwar an eine sozialpädagogische Perspektive zunächst anschlussfähig zu sein, erweist sich aber gerade auch für die Soziale Arbeit selbst als bestenfalls nutzlos und in der Regel als schädlich" (75). Sie plädieren für eine befähigungsorientierte Perspektive, die auf gleichberechtigte Teilhabe aller abzielt.
  • Micha Brumlik stellt sich die Frage, welche Konsequenzen für die Pädagogik daraus erwachsen, wenn die "Unterschicht" durch das "Unterschichtsfernsehen" verdumme und gewalttätig werde. Er nimmt die Rede von einer Kultur der Armut ernst und macht sich in seinem ideengeschichtlichen Beitrag auf die Suche danach, was eigentlich "Glück" ist und wie es im modernen Film dargestellt und vermittelt wird. Denn wenn es stimme, das die Kulturideale der "neuen Unterschicht" aus dem "Unterschichtsfernsehen" herrühren - wie Paul Nolte, aber auch TV-Moderator wie Harald Schmidt attestieren -, müsse sich eine soziale Pädagogik wieder verstärkt darauf konzentrieren, Bildung und Wissen zu vermitteln - und ihnen einen ähnlich hohen Stellenwert einräumen wie die Bildungsvereine zu Beginn der Industrialisierung in der Arbeiterbewegung.
  • Die beiden Herausgeber Fabian Kessl und Christian Reutlinger bringen in einem kurzen Beitrag "Sieben Einwände gegen die territoriale Manifestation einer "neuen Unterschicht"". Denn die vorschnelle Gleichsetzung von Armut bzw. Unterschicht und Raum "markiert die Bewohnerinnen und Bewohner der identifizierten Stadteile und Straßenzüge als "Abgehängte" und "Modernisierungsverlierer" und verfestigt zugleich in räumlicher Form die Grenzziehung zwischen einer bürgerlichen Ingroup und einer Outgroup in scheinbar entstehenden 'Parallelgesellschaften'" (98). "Soziale Probleme werden zunehmend zu räumlichen Probleme umdefiniert." (99)
  • Michael Winkler zeigt sich beruhigt und überrascht zugleich vom Desinteresse der Sozialen Arbeit am Unterschichtsdiskurs: Beruhigt, weil sie nicht bei jedem Politspektakel hektisch anfängt mitzumischen und sich darauf berufen kann, die zunehmende Armut schon lange thematisiert und skandalisiert zu haben; überrascht, weil die Soziale Arbeit dem mit dem Unterschichtsdiskurs verbundenen Angriff auf den Sozialstaat nichts entgegensetzt. Zwar kritisiert er den Kulturbegriff im Unterschichtsdiskurs, plädiert aber zugleich dafür, dass sich die Soziale Arbeit "dem Thema Kultur und der Frage nach der Verfügung über diese stellen" (115) muss. Sie muss "den kulturalistischen Unterschichtsdiskurs aus den falschen Kontexten […] befreien, um Kultur zu einem Thema zu machen, das mit Gerechtigkeit verbunden ist." (131)
  • Abschließend zieht Fabian Kessl Parallelen zwischen den Debatten der frühen Protagonisten einer staatlichen Sozialpolitik im 19. Jahrhundert und der aktuellen Unterschichtsdebatte. Während die damaligen Sozialstaatsbefürworter aus ihrer Enttäuschung über liberale Programme motiviert waren, sei die heutige Aktivierungsideologie eine Enttäuschung über neoliberale Programme der 1990er Jahre. Sein Fazit: "Politischer Fokus dieser Thematisierungen ist aber gar nicht primär die Armuts- oder die Klassenfrage, sondern vielmehr die Frage, in welcher Weise das Soziale in Zukunft regiert werden soll." (143)

Fazit

Das Buch ist dringend notwendig und es sei allen empfohlen, die sich theoretisch oder praktisch mit Sozialer Arbeit und Armut beschäftigen. Die einzelnen Beiträge reflektieren kritisch und tiefgründig die Debatte um die "neue Unterschicht" aus theoretischer Perspektive. Jedoch hätten die HerausgeberInnen die Kontroverse im Buch besser ausführen müssen - auf der einen Seite diejenigen, welche die Kulturalisierung von Armut lediglich als ideologischen Distinktionskampf verstehen und auf der anderen Seite diejenigen, welche die Herausforderungen eines Kulturbegriffs ernst nehmen und progressiv darauf reagieren möchten -, auch in Hinblick auf die Konsequenzen für die Profession der Sozialen Arbeit. Die AutorInnen hätten dann auch ihre eigenen Vorstellungen mehr konkretisieren müssen, ob und wie die Soziale Arbeit darauf progressiv reagieren kann und muss.

Rezension von
Dipl. Politologe Christian Schröder
Evangelische Sozialberatung Bottrop (ESB)
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Es gibt 17 Rezensionen von Christian Schröder.

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Zitiervorschlag
Christian Schröder. Rezension vom 23.02.2008 zu: Fabian Kessl, Christian Reutlinger, Holger Ziegler (Hrsg.): Erziehung zur Armut? Soziale Arbeit und die ´neue Unterschicht´. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2007. ISBN 978-3-531-15389-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/5360.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.


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