Alice Crames: Paartherapie im Rahmen ambulanter Entwöhnungsbehandlung
Rezensiert von Prof. lic. phil. Urs Gerber, 13.03.2009

Alice Crames: Paartherapie im Rahmen ambulanter Entwöhnungsbehandlung. Chance für Patient, Partnerin und Partnerschaft.
Pabst Science Publishers
(Lengerich) 2006.
335 Seiten.
ISBN 978-3-89967-347-0.
25,00 EUR.
Reihe: Angewandte Verhaltensmedizin in Forschung und Praxis.
Autorin
Frau Alice Crames verfasste die vorliegende Arbeit als Master-Thesis im Masterstudiengang Suchthilfe der Katholischen Fachhochschule Nordrhein-Westfalen. Als therapeutische Erstausbildung absolvierte sie eine systemische Familientherapie.
Thema
Das Hauptziel der Autorin in ihrer Arbeit ist eine konzeptionelle Erweiterung durch die Integration von Paartherapie in die Behandlung in einer verhaltenstherapeutisch orientierten Fachambulanz für Alkoholkranke. Das Einbringen der systemischen Perspektive und deren Integration in den Behandlungsalltag ist ein höchst anspruchsvolles Unternehmen. Kein Behandler wird ernsthaft abstreiten der Einbezug der Angehörigen, Kinder und eben des Partners sei nicht von zentraler Bedeutung. Trotzdem schrecken viele von der Komplexität des Themas zurück, fühlen sich überfordert und bieten nur Einzelbehandlungen an. Es ist sicher ein Verdienst der Autorin, dass sie sich dadurch nicht abschrecken liess und den Versuch einer Integration wagte. Wichtig ist ihr darüber hinaus die kontinuierliche Verbesserung ihrer eigenen praktischen Tätigkeit als Therapeutin.
Aufbau …
Das Buch gliedert sich grob in drei Teile:
- Im ersten, längeren Teil, wird hergeleitet, weshalb Paartherapie bei Alkoholkranken wichtig ist. Die Autorin stellt sechs Module vor für die technische Umsetzung.
- Im zweiten, kürzeren Teil befragt sie zwölf Expertinnen und Experten nach ihrer Einschätzung zu den Modulen. So wird die konzeptionelle Erweiterung evaluiert und gleichzeitig ergänzt mit den Anregungen der Expertinnen und Experten.
- Der dritte Teil besteht aus Anlagen mit Materialien zur Therapie, die für Praktikerinnen und Praktiker nützlich sind, und Teilen der Expertenbefragungen.
… und Inhalt
Das Buch ist in sechs Kapitel gegliedert.
- In der Einführung wird die Bedeutung der Angehörigenarbeit in einer ambulanten Entwöhnungsbehandlung betont. Die Autorin führt ihre drei Ziele ein: Die Optimierung der Entwöhnungsbehandlung für den Betroffenen oder die Betroffene soll durch die Paartherapie, die echte Unterstützung der Partnerin oder des Partners sowie die Eröffnung einer Chance zur Neuorientierung in der Partnerschaft.
- Im zweiten Kapitel, Zusammenhänge zwischen Partnerschaft und Abhängigkeit, werden empirisch gesicherte Daten aufgeführt. Bekannt ist beispielsweise, dass Töchter von alkoholkranken Eltern signifikant häufiger alkoholkranke Partner auswählen und, dass sich verheiratet sein bei Männern positiv auf das Abstinenzverhalten auswirkt, bei Frauen negativ. Diese geschlechtsbedingten Unterschiede gilt es bei der Behandlung zu beachten.
Für die Praktikerin, für den Praktiker sind die sieben Dimensionen des Familienmodells von Cierpka et al., die Phasen von Hallmaier und das differenzierte Modell über die Co-Abhängigkeit von Rennert wichtig. Sie geben Hinweise, wie die therapeutische Arbeit erfolgen kann. Küfner belegte in einer Rangordnung die Wirksamkeit der Paartherapie insbesondere der behavioralen.
- Im
dritten Kapitel, Paartherapie
im Rahmen der Entwöhnungsbehandlung,
wird ein Phasenmodell der Behandlung vorgestellt (Eingangsphase,
klärungs- und diagnostische Phase, Zielklärungsphase,
Phase der Veränderungsarbeit, Stabilisierungsphase, und
Schlussphase). Es werden aber auch Grenzen des Ansatzes sichtbar:
Wenn beispielsweise keine konstruktive Arbeitsbeziehung mit dem
Partner, Partnerin aufgebaut werden kann? Oder der Partner, die
Partnerin, in einer eigenen destruktiven Spirale gefangen ist?
- Im vierten Kapitel, Konkretisierung der konzeptionellen Erweiterung durch Paartherapie, werden nach einigen Vorüberlegungen und Schilderung der Rahmenbedingungen sechs Module vorgestellt. Das oben dargestellte Phasenmodell der Behandlung dient als Orientierung für ein prototypisches Vorgehen. Wobei der Autorin bewusst ist, dass je nach Einzelfall Themen vorzuziehen oder vertiefter behandelt werden müssen. Die Module im Einzelnen sind: Einstiegsphase – Beziehungsaufbau und Information, Klärung und Diagnostik – Zusammenhänge zwischen Partnerschaft und Abhängigkeit, Zielfindung – Vision und Ziele für das Paar und die Partnerschaft, Phase der Veränderung – Konkretisierung der Veränderung im Blick auf die Partnerschaft und Abstinenz, Stabilisierung – Festigung der Veränderung und Bearbeitung weiterer Therapieziele, Abschluss – Bilanzierung und Ausblick. In diesem Kapitel führt die Autorin den Leser klar strukturiert durch ihre Überlegungen. Sie zeigt eine Fülle von praktischen Vorgehensweisen auf, die den Behandelnden helfen können, ihre eigenen zu finden. Sie ermöglicht den Transfer des Themas - von einem theoretisch geleiteten Denken auf die Praxis - in einer differenzierten und vorbildlichen Art und Weise.
- Im fünften Kapitel, Evaluation der konzeptionellen Erweiterung mittels einer Expertenbefragung, wird eine Expertinnen- und Expertenbefragung dargestellt. Da die Forschung im Bereich der Angehörigenarbeit noch wenig weit fortgeschritten ist, weicht die Autorin in origineller Art auf eine Befragung von ausgewiesenen Fachleuten mit langjähriger praktischer Erfahrung aus. Diese Feedbacks benützt sie anschliessend um ihre Module mit den Anregungen der befragten Fachleute zu ergänzen. Den Abschluss dieses Kapitels bilden die sechs Module, die schematisch und in didaktischer Form nach Zielsetzung, Arbeitsmaterialien, Struktur und Inhalt aufbereitet wurden. Auch dieses Kapitel regt zum Nachdenken und Überdenken der eigenen Praxis an.
- Im sechsten Kapitel, Zusammenfassung und abschliessende Bewertung, stellt sich die Autorin Fragen grundsätzlicher Art. In der systemischen Beratung und Therapie denken wir nicht defizitorientiert und individuumzentriert, sondern lösungs- und ressourcenorientiert. Der Mensch mit seinen sozialen Bezügen steht im Mittelpunkt. Erst wenn ich den „Fall“ kenne, kann ich entscheiden, ob es Sinn macht den Partner, die Partnerin, die Kinder oder die Eltern oder andere wichtige Bezugspersonen zu einem Gespräch einzuladen. Und erst, wenn ich die betroffenen Personen kenne, kann ich beurteilen, wer bereit ist zur Lösung der Probleme beizutragen und wen ich in welcher Reihenfolge, Frequenz und Umfang für die Angehörigengespräche einbeziehe. Aus fachlicher Sicht ist diese Sichtweise gerechtfertigt. Klugerweise beschränkt sich die Autorin auf die Realitäten ihrer Praxis. Sie ist der Rahmenbedingungen bewusst bei der Einführung der Paartherapie in einer Einrichtung, die einerseits strukturellen Zwängen unterworfen ist und die anderseits eine verhaltenstherapeutische Ausrichtung hat.
Anschliessen kann ich mich ihrer Forderung nach mehr Forschung in diesem Bereich, um so die Legitimierung der Angehörigenarbeit gegenüber den Kostenträgern auch besser vertreten zu können.
Zielgruppe
Das Buch richtet sich an Beraterinnen, Berater, Therapeutinnen und Therapeuten, die Entwöhnungsbehandlungen anbieten und mit einer ähnlichen Ausgangslage, wie die Autorin konfrontiert sind. Engagierte Suchtfachleute, welche die Behandlungsqualität in ihrer Einrichtung mit der Einführung der systemischen Perspektive verbessern wollen, finden in diesem Buch eine Fülle von Anregungen.
Fazit
Das Buch hat nach der Autorin die Absicht, „ein praxistaugliches, theoretisch fundiertes und umgehend einsetzbares Modell von Paartherapie im Rahmen einer ambulanten Entwöhnungsbehandlung zu entwickeln“. Ich glaube, dass das ihr gelungen ist. Kritisch merkt sie an, dass die Rahmenbedingungen der Suchtkrankenhilfe natürlich auch zu überdenken wären. Zusätzlich ist sie überzeugt, als Therapeut, Therapeutin, Berater oder Beraterin müsse man über Kompetenzen im Bereich der systemischen Therapie verfügen. Das Buch ist allen zu empfehlen, die für Paartherapie in der Suchthilfe praktisch orientierte Anregungen suchen. Es sollte zudem zu einer fundierten Ausbildung in systemischer Therapie motivieren, damit der anspruchsvolle Perspektivenwechsel auch professionell angewendet werden kann.
Rezension von
Prof. lic. phil. Urs Gerber
Psychologe und Psychotherapeut in Zürich, ehemals Professor an der Fachhochschule Nordwestschweiz
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