Miguel Benasayag, Gérard Schmit: Die verweigerte Zukunft
Rezensiert von Dr. Stefan Anderssohn, 17.12.2007
Miguel Benasayag, Gérard Schmit: Die verweigerte Zukunft. Nicht die Kinder sind krank, sondern die Gesellschaft, die sie in Therapie schickt.
Verlag Antje Kunstmann GmbH
(München) 2007.
192 Seiten.
ISBN 978-3-88897-492-2.
D: 16,90 EUR,
A: 17,40 EUR,
CH: 29,00 sFr.
Originaltitel: Les passions tristes. Aus dem Französischen übersetzt von Karola Bartsch und Inge Leipold.
Thema
"Optimale Förderung als Gebot der Moderne": So urteilt die Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim über die heutige Kindererziehung und nimmt kritisch den therapeutischen Markt in den Blick, der zwischen Drohszenario und Verheißung stets die passende Förderung bereithält. Tatsächlich: Zahlreiche Lern- und Aktivitätsstörungen, Syndrome und Verhaltensauffälligkeiten sind bei Kindern und Jugendlichen bekannt. Eine Vielzahl professioneller Helfer bemüht sich daher mit unterschiedlichen Ansätzen und Erfolgen, diese individuellen Störungen auf ein gesellschaftlich akzeptiertes Maß zu reduzieren.
Was aber, wenn diese Rechnung gar nicht aufgeht? Wenn die scheinbar individuellen Symptome durch die Gesellschaft erst hervorgebracht werden?
Dieser Anfangsverdacht bildet den Ausgangspunkt des Buches von Miguel Benasayag und Gérard Schmit. Es geht um die Frage, wie es um eine Gesellschaft bestellt ist, die ihre Kinder zuhauf in Therapien schickt und in der so viele Kinder 'auffällig' werden.
Autoren
Wer mehr über die beiden Autoren wissen möchte, als auf dem Klappentext angeboten wird, ist definitiv auf die französischen Medien angewiesen:
Der 1953 in Argentinien geborene Psychoanalytiker und Philosoph Miguel Benasayag besitzt eine schillernde Biografie: Als Anhänger der Widerstandsbewegung in Argentinien inhaftiert, gelangt er Ende der Siebzigerjahre nach Frankreich. Dort setzt er sich mit kritischer Theorie auseinander und gründet das "collectif malgré tout" (http://malgretout.collectifs.net), eine gesellschaftskritische Basisbewegung, die bis heute existiert. Er ist zudem ein anerkannter Experte auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Miguel Benasayag hat in Frankreich zahlreiche Bücher im Schnittpunkt von Gesellschaftskritik und Therapie veröffentlicht.
Sein Mitautor Gérard Schmit ist Psychoanalytiker und Familientherapeut. Er ist Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der medizinischen Fakultät zu Reims und hat zahlreiche französischsprachige Veröffentlichungen in seinem Fachgebiet herausgebracht.
Inhalt
Die Autoren haben die Absicht, die gesellschaftlichen Hintergründe von psychischen Störungen und Auffälligkeiten darzustellen und einen Denkhorizont für therapeutisches Handeln und Selbstverständnis zu entwickeln.
Nach einer kurzen Einleitung entfalten Benasayag und Schmit ihr Thema in 10 Kapiteln. Im Verlauf des Buches zeigen sie differenzierte Facetten dieses Zusammenhanges auf, die in der vorliegenden Rezension nicht alle erörtert werden können. Stattdessen möchte ich aus meiner Sicht drei wesentliche Gedankenkomplexe aufgreifen:
- Da ist zuerst die Rede von der "Krise in der Krise". Damit vertreten die Autoren die Auffassung, dass
sich nicht nur der psychisch kranke Mensch in der Krise befinde, sondern auch
die gesamte Gesellschaft. Demzufolge lasse sich der Patient mit seiner Krise in
der gesamtgesellschaftlichen Lage nur stabilisieren, aber nicht gänzlich
heilen. Weitere Faktoren kommen hinzu: Zum einen habe sich der einstige
Zukunftsoptimismus in der gesellschaftlichen Wahrnehmung in ein Gefühl der
Bedrohung gewandelt. Angesichts allgegenwärtiger ökonomischer und ökologischer
Untergangsszenarien sei Ohnmacht statt Allmacht das allgemeine Lebensgefühl:
eine 'tristitia' im Sinne Spinozas (Von dieser 'tristesse' ist im
französischen Titel des Buches die Rede.). Diese Einstellung übertrage sich von den Eltern auf die Kinder und führe in der Pädagogik zu einem "Lernen unter Bedrohung",
bei dem Leistungsversagen und Angstzustände vorprogrammiert seien. Darin
manifestiere sich das Phänomen der "verweigerten Zukunft", von dem im deutschen Buchtitel die Rede ist.
- Aufschlussreich fand ich zweitens die Auseinandersetzung mit
sozialen Etiketten, die bei mir gewisse
Assoziationen an soziale Theorien über Behinderung, insbesondere die
Stigma-Theorie Erving Goffmans, weckte. Zunächst betonen die
Autoren, dass eine in der Begegnung gewonnene Diagnose den Vorrang vor der
Einordnung des Betroffenen in eine statistische Klassifikation habe. In eine
ähnliche Richtung geht auch ihr Verständnis des Begriffes "Etikett": In
einer Gesellschaft, in der das
Privileg der Privatsphäre eigentlich bedeutet, dass Teile der Persönlichkeit
für Außenstehende quasi 'unsichtbar' sind, bewirke das Etikett das Gegenteil:
Es erteile nämlich Fremden das Recht, ungeniert in den privaten Bereich
hineinzusehen. Neben dieser Tendenz zur Übergriffigkeit verhindern soziale
Etikettierungen nach Auffassung der Autoren zudem die Wahrnehmung der
Vielschichtigkeit stigmatisierter Personen. Ein so genanntes "hyperaktives"
Kind ist natürlich mehr als nur "hyperaktiv". Doch schnell gelange man von
plakativen Klassifikationen auch zu vorgefertigten Symptombehandlungen.
Benasayag und Schmit wollen die eindimensionalen Etiketten in der therapeutischen Arbeit deshalb hinter sich lassen und stattdessen mit fruchtbaren individuellen Hypothesen arbeiten, die sie im Behandlungsverlauf gewinnen. - Ein dritter großer Themenkomplex bezieht sich dann auf den Entwurf einer therapeutischen Konzeption angesichts der dargestellten Gesamtsituation. Benasayag und Schmit favorisieren dabei den Ansatz einer bindungsorientierten Therapie und hinterfragen zunächst den Autonomiebegriff, der für sie eine Chiffre der Konkurrenz, Stärke und Dominanz ist. Paradoxerweise sehen die Autoren Freiheit nicht in größtmöglicher Unabhängigkeit und Isolation, sondern in der Fähigkeit, selbst gewählte Bindungen ("Wahlverwandtschaften") einzugehen. Was ja auch vor dem Hintergrund des kritisierten individualistischen Lebensideals einer ökonomisch ausgerichteten Gesellschaft tiefere Bedeutung gewinnt. Dies führt die Autoren zu einem Ethos therapeutischen Handelns schlechthin: Gesellschaftliche Ideale zu hinterfragen und gemeinsam mit dem Klienten einen erstrebenswerten Weg zu suchen.
Ferner stellen Benasayag und Schmit Autoritätsprobleme in den größeren Zusammenhang einer gesamtgesellschaftlichen Autoritätskrise. Sie zeigen plausibel, dass tradierte Autoritätsstrukturen (nicht zu verwechseln mit autoritärem Gebaren!) in einer ökonomistisch geprägten Gesellschaft von individualistischen, konkurrierenden und leichter beeinflussbaren Lebensformen abgelöst werden. Von daher kommen die Autoren zu dem Schluss, dass manche Jugendliche mit so genannten "Autoritätsproblemen" nur allzu konform nach unbewussten gesellschaftlichen Vorbildern handeln.
Gleiches gelte für das Wertesystem, das unter dem ökonomisch-utilitaristischen Diktat des "Alles ist möglich" zunehmend relativiert werde. Im Rahmen dieser Überlegungen entwickeln die Autoren einen interessanten Gedankengang zur Multimedia-Kultur, deren konsumierendes, reflexhaftes Reagieren den wechselnden Rhythmen und Intensitäten des Lebens diametral entgegenstehe.
Diskussion
Wie bereits angedeutet, ist der gesellschaftstheoretische Ansatz in der Behinderungstheorie bzw. Heilpädagogik an sich nichts Neues. Allerdings wurde es hier meines Erachtens in den vergangenen Jahren, abseits der Integrationsdebatte, eher stiller. So ist es umso erfreulicher, dass hier ein aktueller Versuch unternommen wird, die gesellschaftlichen Bedingungen therapeutischen Handelns zu reflektieren. Auch wenn der eine oder andere Gedanke dabei bekannt vorkommen mag, so ist das Gesamtergebnis aus meiner Sicht jedoch sehr überzeugend. Dies liegt vor allem an dem angenehmen Stil der Autoren, die verschiedene Philosophen als kritische Impulsgeber nutzen und eine Fülle von Gedanken engagiert weiterentwickeln. Dabei hinterlassen sie jedoch weder einen kurzschlüssigen noch einen polemischen oder besserwisserischen Eindruck. Vielmehr vermeiden Benasayag und Schmit Pauschalisierungen, indem sie sich zum Beispiel nicht global gegen den Einsatz von Medikamenten oder den Fortschritt der Technik aussprechen, sondern einer differenzierten Sichtweise das Wort reden.
Was man einerseits nicht von dem Buch erwarten sollte, sind umfangreiche Fallbeispiele aus der therapeutischen Praxis. Die beiden konkreten Fälle, die herangezogen werden, dienen dazu, den übergeordneten Rahmen kritischer Theorie zu illustrieren. Und falls es aufgrund des bisher Gesagten noch nicht deutlich geworden ist: Das Buch ist weder ein Ratgeber, noch möchten die Autoren vorgefertigte Rezepte an die Hand geben. Dies entspricht im Übrigen ganz dem philosophischen Ethos von Miguel Benasayag, der eine eigene Auseinandersetzung mit Themen anregen will, anstatt einen akademischen oder politischen Führungsanspruch zu postulieren.
Als Psychotherapeuten stehen die beiden Autoren mit ihrem Werk in guter Tradition: Insofern Sigmund Freud bereits forderte, psychoanalytische Erkenntnisse und gesellschaftliche Bedingungen aufeinander zu beziehen. Wie er es im "Unbehagen an der Kultur" im Jahre 1930 dann auch umsetzte. So werden bei Benasayag und Schmit methodische Reminiszenzen an das Freudsche „Unbehagen“ deutlich. Doch inhaltlich bildet ihr Buch eine aktuelle Auseinandersetzung, die für alle interessant sein dürfte, die sich für eine gesellschaftskritische Standortbestimmung pädagogischen und therapeutischen Handelns interessieren.
Zielgruppe
Das Buch spricht einen breiten Leserkreis an. Vor allem Berufsgruppen, die pädagogisch und/oder therapeutisch mit jungen Menschen umgehen: Sei es als Lehrkräfte, in der Therapie oder in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Aber auch Eltern und darunter diejenigen, die sensibel für gesellschaftliche Themen sind, werden in dem Buch zahlreiche anregende Gedankengänge finden.
Fazit
Dieses kleine Büchlein hat es in sich. Als ein kritisches und engagiertes Buch eröffnet es auf eingängige Weise den komplexen Zusammenhang von Gesellschaft, psychischer Störung und Therapie, wie es so nur selten zu finden ist. Schon deshalb liegt mit der Übersetzung meines Erachtens eine längst überfällige Veröffentlichung für den deutschen Markt vor. Jenseits aller Rezept- und Ratgeberliteratur bieten Benasayag und Schmit viele inspirierende Impulse - zum Nachdenken, Querdenken und Umdenken.
Rezension von
Dr. Stefan Anderssohn
Sonderschullehrer an einer Internatsschule für Körperbehinderte. In der Aus- und Fortbildung tätig.
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Es gibt 47 Rezensionen von Stefan Anderssohn.
Zitiervorschlag
Stefan Anderssohn. Rezension vom 17.12.2007 zu:
Miguel Benasayag, Gérard Schmit: Die verweigerte Zukunft. Nicht die Kinder sind krank, sondern die Gesellschaft, die sie in Therapie schickt. Verlag Antje Kunstmann GmbH
(München) 2007.
ISBN 978-3-88897-492-2.
Originaltitel: Les passions tristes. Aus dem Französischen übersetzt von Karola Bartsch und Inge Leipold.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/5427.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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