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Irvin D. Yalom: Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie

Rezensiert von Prof. Dr. Harald Uhlendorff, 29.02.2008

Cover Irvin D. Yalom: Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie ISBN 978-3-608-89020-4

Irvin D. Yalom: Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie. Ein Lehrbuch. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2007. 9., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage. 704 Seiten. ISBN 978-3-608-89020-4. D: 39,50 EUR, A: 40,60 EUR, CH: 65,00 sFr.
Reihe: Leben lernen - 66. Originaltitel: The theory and practice of group psychotherapy.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-608-89162-1 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.

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Autor und Entstehungshintergrund

Irvin D. Yalom wurde 1931 als Sohn russischer Einwanderer in den USA geboren. Als Professor für Psychiatrie in Stanford interessiert er sich für vor allem für Gruppenpsychotherapie und existenzielle Ansätze. Yalom lässt sich nicht eindeutig einer psychotherapeutischen Schule zuordnen und will explizit auch selber keine gründen. Er glaubt, dass seine Ideen unabhängig von Schulen hilfreich sein können und empfiehlt neuen Generationen von Psychotherapeuten eine pluralistische Haltung, bei der sich effektive Interventionen aus unterschiedlichen Ansätzen speisen. Yaloms Werk wird sowohl von verhaltenstherapeutischer Seite (Pennecke, 2001) als auch von Psychodynamikern (Tschuschke, 1999) wahrgenommen und als weiterführend eingeschätzt. Nach einer Befragung von erfahrenen Gruppenpsychotherapeuten ist Yalom der meistgenannte und einflussreichste Autor in ihrem Bereich (Dies, 2005). Breiteren Leserkreisen ist Yalom durch seine Romane (z.B. "Und Nietzsche weinte") bekannt geworden.

Die "Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie" erschien in ihrer ersten Auflage im Jahre 1970. Grundlage der vorliegenden Rezension ist die neue, eingehend überarbeite amerikanische Auflage von 2005, die Yalom unter Mitarbeit von M. Leszcz verfasste, bzw. deren deutsche Übersetzung aus dem Jahr 2007.

Ausgewählte Inhalte

Bei der Rezension eines so umfangreichen Werkes muss eine pointierte Auswahl der zu besprechenden Themen vorgenommen werden. Zunächst möchte ich mich auf die therapeutischen Faktoren konzentrieren, die Yalom an anderer Stelle als "Rückgrat des Lehrbuches" bezeichnet.  (Yalom, 2004, S. 15). Eine zentrale Aufgabe des Therapeuten besteht darin, das Auftauchen dieser Faktoren zu erleichtern und Hindernisse aus dem Weg zu räumen.

  1. Hoffnung einflößen: Hoffnung in Gruppen entsteht durch die Glaubwürdigkeit des Therapeuten und durch die Fortschritte, die der Patient bei anderen Patienten wahrnimmt. Zu Anfang bewirkt die Hoffnung, dass der Patient überhaupt in der Therapie bleibt.
  2. Universalität des Leidens: Viele Patienten glauben, nur sie allein hätten erschreckende Gedanken, Impulse und Phantasien. Der Abbau dieser Einschätzung durch die Gespräche in der Gruppe bringt Erleichterung mit sich.
  3. Mitteilung von Informationen: Hierunter versteht Yalom einerseits psychoedukative Unterweisungen über seelische Gesundheit und Krankheit durch den Therapeuten, andererseits auch Ratschläge, die sich Patienten gegenseitig geben. In diesem Prozess des Ratgebens zeigt sich oft die zwischenmenschliche Problematik einzelner Patienten, z.B. die des Klagenden, der jede Hilfe ablehnt oder desjenigen, der Ratschläge aufsaugt, andere aber niemals unterstützt.
  4. Altruismus: Anfangs glauben viele Patienten den anderen Gruppenmitgliedern nichts Wertvolles bieten zu können. Aber schon bald werden engagierte Anmerkungen von Gruppenmitgliedern mit großer Bereitschaft aufgenommen und als besonders glaubwürdig hoch geschätzt.
  5. Korrigierende Rekapitulation der primären Familiengruppe: Die meisten Patienten haben in ihrer Familie, der ersten und wichtigsten Gruppe, unbefriedigende Erfahrungen gemacht. Für sie ist deshalb die Bewältigung von Problemen in der Gruppe auch ein Durcharbeiten "unerledigter Geschäfte" aus Familie und Vergangenheit.
  6. Entwicklung von Techniken des mitmenschlichen Umgangs: Da es den Patienten oft an engen zwischenmenschlichen Beziehungen fehlt, ist die Gruppe ein wichtiger Ort für ehrliche Rückmeldungen zu ihrem Sozialverhalten. Die Rückmeldungen bilden Ansatzpunkte für die Entwicklung alternativer Interaktionsmöglichkeiten.
  7. Nachahmendes Verhalten: Gruppentherapeuten und auch Gruppenmitglieder mit ähnlichen Problemen und guten Therapieerfolgen dienen als Modelle, z.B. für Selbstenthüllung und für Unterstützung.
  8. Katharsis: Hier geht es um den offenen Ausdruck von intensiven Gefühlen. Katharsis scheint notwendig und wirksam für ein gutes Therapieergebnis zu sein, vor allem wenn der interpersonale Kontext berücksichtigt wird und stützende Gruppenbindungen entstanden sind. Blindes Ausagieren von Gefühlen hat dagegen eher ungünstige Folgen.
  9. Existenzielle Faktoren. Gruppen kommen immer wieder auf Themen wie Leben und Tod, Krankheit und Gesundheit, Einsamkeit und Gemeinsamkeit, Verantwortung und Ausgeliefertsein zu sprechen. Erfahrene Gruppenmitglieder betrachten existenzielle Einsichten als bedeutsam für ihre Fortschritte, z. B. "So nahe ich anderen auch kommen mag, dem Leben muss ich dennoch allein gegenübertreten." oder "Die letzte Verantwortung für die Art, wie ich mein Leben lebe, muss ich selber übernehmen; gleichgültig, wie viel Anleitung und Unterstützung ich von anderen bekomme." Die existenziellen Faktoren spielen bei Patienten mit lebensbedrohlichen Krankheiten oder bei Hinterbliebenengruppen eine besonders  große Rolle.
  10. Gruppenkohäsion: Der Gruppenzusammenhalt oder das Wir-Gefühl einer Gruppe ist ähnlich wichtig wie die therapeutische Beziehung in der Einzeltherapie. Therapeuten investieren viel Energie in den Aufbau von Gruppenkohäsion, weil die Kohäsion eine Vorbedingung dafür ist, dass andere therapeutische Faktoren wirksam werden können, z.B. Katharsis.
  11. Interpersonales Lernen: Yalom beruft sich auf Neo-Freudianische Theoretiker (Karen Horney, Erich Fromm, Harry Stack Sullivan), die für die Psychotherapie eine interpersonale Grundlage gelegt haben. Nach Sullivan ist die Entwicklung der Persönlichkeit ein Produkt der Interaktion mit anderen wichtigen Menschen. Seelische Störungen, die im Laufe dieser Entwicklung auftreten können, sollten wieder ins Interpersonale übertragen und entsprechend aktualisiert und behandelt werden. Dazu ist die Therapiegruppe bestens geeignet.
  12. Gruppe als sozialer Mikrokosmos: Mit der Zeit werden die Gruppenmitglieder so interagieren, wie sie in ihrer sozialen Umgebung außerhalb der Gruppe auch interagieren, d.h. die Patienten werden ihre Störung vor den Augen der anderen Gruppenmitglieder ausleben. Die Aufgabe des Therapeuten ist es nun, das unangepasste Sozialverhalten zu identifizieren und therapeutisch damit zu arbeiten.

Arbeiten im Hier und Jetzt:  Nach den therapeutischen Faktoren möchte ich mich dem "Hier und Jetzt" zuwenden, laut Yalom ein "Kernkonzept des Zugangs zur Gruppenpsychotherapie"  (Yalom, 2004, S.13). Yalom betont, dass die Konzentration auf das Hier und Jetzt die Hauptantriebskraft der Gruppe darstellt und die Probleme mit festgefahrenen, leblosen Gruppen fast immer aus dem Versäumnis des Therapeuten resultieren, das Hier und Jetzt passend einzusetzen. Dazu konzentriert der Gruppenleiter die Energie auf die Beziehungen innerhalb der Gruppe und drängt die Erörterung äußerer Dinge zurück.

Zur Aktivierung des Hier und Jetzt setzt der Therapeut zahlreiche Techniken ein, z.B. kann er in einer besonders schweigsamen Sitzung vorschlagen: "Stellen Sie sich vor, sie wären schon auf dem Heimweg. Was würden Sie bezüglich der heutigen Sitzung als besonders enttäuschend empfinden?" Bei den anschließenden Interaktionen werden wahrscheinlich Bedürfnisse und Emotionen (z.B. Ärger oder Neid) deutlich und zwischenmenschliche Probleme der Gruppenmitglieder treten zu Tage. Nach dieser oftmals sehr lebendigen Sequenz  wird von der Gruppe untersucht, was gerade geschehen ist. Der Therapeut leitet diese neue Phase etwa wie folgt ein: "Es ist eine Menge los heute. Vielleicht treten wir mal einen Schritt zurück und versuchen zu verstehen, was hier eigentlich passiert ist." Ein Patient kann auf diese Weise erfahren, was er bei anderen für Gefühle auslöst und welche Meinungen sich andere über ihn bilden. Noch entscheidender ist aber, dass der Patient bemerkt, wie sein Verhalten, vermittelt durch die anderen Gruppenmitglieder, auf ihn selbst zurückwirkt und mitbestimmt, wie er über sich selber denkt und wie er sich erlebt. Wenn er erkennt, welches Verhalten dazu führt, dass andere z.B. nicht mit ihm befreundet sein möchten und dass er sich selber als Außenseiter fühlt, kann er entscheiden, ob er das kritische Verhalten beibehalten will oder nicht. (An dieser Stelle wird der Zusammenhang zur kognitiv-behavioralen Psychotherapie sehr deutlich.). Manchmal muss dann explizit an der Veränderungsmotivation gearbeitet werden, oft verändern Patienten aber ihr Verhalten sofort, wenn sie den Zusammenhang zwischen Verhalten und zwischenmenschlichen Problemen erkannt haben.

Weitere Inhalte des Buches möchte ich nur erwähnen:

  • Vorbereitung der Gruppe und chronologisches Geschehen in der Therapiegruppe (z.B. Auswahl der Patienten, Zusammenstellung der Gruppen, Bildung von Untergruppen, Therapieabbrüche, Abschluss der Gruppe),
  • Umgang mit problematischen Patienten,
  • spezielle therapeutische Techniken (z.B. wenn Patienten gleichzeitig Gruppen- und Einzeltherapie in Anspruch nehmen),
  • spezielle Therapiegruppen (z.B. für Krebspatienten) und
  • Ausbildung von Gruppentherapeuten.

In die neue Auflage des Buches wurde die relevante Literatur aus den letzten Jahren eingearbeitet.  Zusätzlich wurden z.B. Abschnitte zu kognitiv-behavioralen Gruppen eingefügt.

Fazit

Der Autor bietet einen wertvollen Ansatz der Gruppenpsychotherapie, der sich für unterschiedliche Therapieschulen als anschlussfähig erweist und der sowohl Praktiker als auch Wissenschaftler ansprichtl. Das mag dazu führen, dass manchen Psychoanalytikern das Buch z.B. zu verhaltenstherapeutisch erscheinen mag und dem "einen oder anderen verhaltenstherapeutisch arbeitenden Therapeuten zu psychoanalytisch, Praktikern zu wissenschaftlich, und Wissenschaftlern zu praxisbezogen. Der Grund für diese Eindrücke liegt darin, dass Yalom alle genannten Gesichtspunkte in einer Person vereinigt." (P. Kutter im Vorwort zur deutschen Ausgabe). Völlig eindeutig dagegen sind die gute Lesbarkeit des Buches und die Lebendigkeit der Schilderungen zu bewerten. Sie wecken großes Interesse und überzeugen den Leser immer wieder, ein außergewöhnlich wertvolles Buch in Händen zu halten. Nicht nur dem Autor, auch den Übersetzern ist hierfür herzlich zu danken. Als Einführung oder Begleitlektüre sei dem Leser der Roman von Yalom "Die Schopenhauer Kur" (2006) empfohlen, eine belletristische Verarbeitung des Themas Gruppentherapie auf hohem Niveau.

Literatur

  • Dies, R. R. (2005). Group Psychotherapies. In A. S. Gurman & S. B. Messer (Hrsg.). Essential Psychotherapies. New York: Guilford Press.
  • Pennecke, C. (2001). Interaktionelle Gruppentherapie - verhaltenstherapeutisch betrachtet. Gruppenpsychotherapie & Gruppendynamik, 37, 337-348.
  • Tschuschke, V. (1999). Gruppenpsychotherapie - die "dritte Säule" de psychotherapeutischen Versorgung? Gruppenpsychotherapie & Gruppendynamik, 35, 114 -144.
  • Yalom, I. D. (2006). Die Schopenhauer-Kur. München: btb-Verlag.
  • Yalom, I.D. (2004). Liebe, Hoffnung, Therapie. München: btb-Verlag.

Rezension von
Prof. Dr. Harald Uhlendorff
Psychologischer Psychotherapeut
apl. Prof. am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Potsdam
Tätigkeitsfelder: Gleichaltrigenbeziehungen von Kindern und Jugendlichen, Erziehung in Schule und Familie, Entwicklung im höheren Erwachsenalter, psychische Belastungen im Beruf

Es gibt 10 Rezensionen von Harald Uhlendorff.

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Zitiervorschlag
Harald Uhlendorff. Rezension vom 29.02.2008 zu: Irvin D. Yalom: Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie. Ein Lehrbuch. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2007. 9., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage. ISBN 978-3-608-89020-4. Reihe: Leben lernen - 66. Originaltitel: The theory and practice of group psychotherapy. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/5466.php, Datum des Zugriffs 23.09.2023.


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