Gabriele Kawamura-Reindl, Lydia Halbhuber-Gassner et al. (Hrsg.): Gender mainstreaming - ein Konzept für die Straffälligenhilfe?
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 15.03.2008
Gabriele Kawamura-Reindl, Lydia Halbhuber-Gassner, Cornelius Wichmann (Hrsg.): Gender mainstreaming - ein Konzept für die Straffälligenhilfe? Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2007. 338 Seiten. ISBN 978-3-7841-1787-4. 22,00 EUR. CH: 38,90 sFr.
Thema
Geschlechtsspezifische Unterschiede wirken sich in allen gesellschaftlichen Bereichen aus, besonders deutlich wird dies jedoch im Bereich der Kriminalität. Das Deliktverhalten, die Art und Häufigkeit von Straftaten unterscheiden sich wesentlich zwischen Frauen und Männern. Unterschiedlich ist auch die gesellschaftliche Reaktion auf Kriminalität, je nachdem ob von Frauen oder Männern begangen. Der vorliegende Band befasst sich mit geschlechterspezifischen Sichtweisen und Aspekten und greift auf fachlicher Ebene blinde Flecken und Vorurteile in der Wahrnehmung von Tätern und Opfern auf. Dadurch werden Perspektiven für einen geschlechtergerechten Umgang mit straffällig gewordenen Menschen entworfen. Auf Grundlage der in vielen gesellschaftlichen Bereichen eingeführten Gender Mainstreaming-Prozesse werden Möglichkeiten zu verbesserten Hilfeangeboten (für die Klienten der Straffälligenhilfe) aufgezeigt, sowie Entwicklungsaufgaben und Defizite im Arbeitsfeld Straffälligenhilfe (mit Blick auf Resozialisierungsinstanzen und Geschlechterhierarchien) benannt.
Autorinnen und Autor
- Gabriele Kawamura-Reindl ist Diplom Sozialpädagogin und Diplom Kriminologin. Nach Berufstätigkeit in der Straffälligenhilfe in unterschiedlichen (Leitungs)funktionen lehrt sie seit 1998 Sozialarbeit an der Georg-Simon-Ohm Hochschule Nürnberg mit den Schwerpunkten Gefährdetenhilfe/ Resozialisierung, Theorien Sozialer Arbeit und Handlungslehre, Mediation.
- Lydia Halbhuber-Gassner, Diplom Sozialpädagogin, arbeitet als Fachreferentin für Gefährdetenhilfe beim Sozialdienst katholischer Frauen in München.
- Cornelius Wichmann ist Fachreferent in der Abteilung Soziales Gesundheit, Basisdienste und besondere Lebenslage beim Deutschen Caritasverband in Freiburg, Vorstandsmitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe BAGS.
Entstehungshintergrund
Grundlage des Readers ist eine von der Katholischen Bundes-Arbeitsgemeinschaft Straffälligenhilfe im Deutschen Caritasverband (KAGS) und der Evangelischen Konferenz für Straffälligenhilfe im Diakonischen Werk der EKD (EKS) im November 2006 veranstaltete Fachwoche Straffälligenhilfe zum Thema "Gender Mainstreaming - Ein Konzept für die Straffälligenhilfe?". Die Tagungsbeiträge wurden um vertiefende wissenschaftliche Fachbeiträge und Praxisberichte ergänzt. Der Reader versteht sich als Beitrag zur Weiterentwicklung des Arbeitsbereichs Straffälligenhilfe durch Berücksichtigung der Erkenntnisse der Geschlechterforschung.
Aufbau
Der Sammelband ist in drei Bereiche unterteilt.
- Im ersten Abschnitt erfolgt eine grundlegende Einführung in das Konzept und die Sprache des Gender Mainstraiming (Kawamura-Reindl, Kersten) und ein Überblick zu gesellschaftlichen Bedingungen zur Konstruktion und Wahrnehmung geschlechtsspezifischer Kriminalität, etwa zu "Abweichendem Verhalten und Geschlecht" (Bereswill), oder "Zur sozialen Wahrnehmung von Mädchen und Frauen als Täterinnen" (Popp). Der erste Abschnitt endet mit Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Genderaspekten und Kriminalpolitik (Frommel).
- In einem zweiten Abschnitt werden Tätergruppen unter dem Blickwinkel geschlechterspezifischer Phänomene und die Umsetzungsmöglichkeiten und -hindernisse des Gender Mainstreaming in unterschiedlichen Arbeitsfeldern ("Soziales Training für straffällig gewordene jugendliche Schwangere und Mütter", "Gewaltberatung und Tätertherapie", "Umwandlung von Gewaltkraft in eine produktive Ressource") beleuchtet.
- Der abschließende dritte Teil des Bandes beschreibt europäische Perspektiven des Strafvollzugs unter Gendergesichtspunkten, dabei werden die unterschiedlichen, oft defizitären und reformbedürftigen Lebensbedingungen inhaftierter Frauen betrachtet.
Zu Abschnitt 1
Kawamura-Reindl beschreibt in ihrem umfassenden Einführungskapitel die Grundlagen und Strategien des Konzepts Gender Mainstreaming und dessen Chancen für die Soziale Arbeit. Gender Mainstreaming macht Chancengleichheit der Geschlechter zum Querschnittsthema, zur Entwicklungsaufgabe, die in alle Bereiche und Politikfelder zu integrieren ist. Dabei geht es nur vordergründig um den Abbau von Ungleichheiten und Ungerechtigkeit (welche zweifelsohne weiter drängende Aufgabe sind); bedeutungsvoll ist die gesellschaftspolitische Dimension des Konzepts: nicht individuell zugewiesene, "konstruierte" Eigenschaftsmerkmale, welche qua Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe ("Männer", "Frauen") existieren, sind Grundlage für Entscheidungsprozesse zur Struktur und Gestaltung von Prozessen, Arbeitsabläufen und Lebensbedingungen, sondern reale Stärken und Schwächen einer konkreten Person definieren deren Position in gesellschaftlichen Kontexten. Diese idealtypische Zielsetzung korrespondiert mit dem stark an emanzipatorischen Prinzipien ausgerichteten Ansätzen sozialer Arbeit. Die Entwicklungsmöglichkeiten bestehen hier in zwei Ebenen: einmal die Chance der Profession Sozialarbeit, sich von einer "Frauendomäne in Männerregie" fort zu entwickeln zu einer an konkreten Wissens- und Leistungsaspekten orientierten Struktur des Arbeitsfeldes (also die "gerechte" Verteilung von Macht und Kompetenz) und in der Entwicklung angemessener Angebote für die Klientel. Kawamura-Reindl zeigt konkrete Umsetzungsmöglichkeiten des Konzepts Gender Mainstreaming in so unterschiedlichen Feldern wie Jugendhilfe, Drogenhilfe, Gesundheitshilfe und Altenhilfe auf. Deutlich wird dabei, dass der Abbau von Zugangsbarrieren zu spezifischen Angeboten oder die Entwicklung emanzipatorischer Arbeitsansätze diskontinuierlich verlaufen ist und weiter verläuft. Die Autorin schätzt den Entwicklungsbedarf insgesamt weiter als hoch ein. Der Einführungsbeitrag endet mit der Benennung von Risiken des Gender Mainstreaming-Konzepts in der Praxis, welche in strukturellen Bedingungen, aber auch im Konzept selbst, etwa durch die Vernachlässigung von ideologischen oder politischen Prozessen und Rahmenbedingungen, ausgemacht werden. Wenig optimistisch schätzt Kawamura-Reindl die Umsetzung des Gender Mainstreaming abschließend als "Quadratur des Kreises" ein.
Bereswill beschreibt anhand der Deliktgruppe "Sexualstraftaten" die Wirksamkeit von Zuweisungs- und Ettiketierungsprozessen, die gerade in der Wahrnehmung von Kriminalität wirken. Die Autorin belegt, dass die gesellschaftliche Konstruktion soziologischer Kategorien ("Die Männer", "Die Frauen") Grundlage für eine Vielzahl von zugeschriebenen Eigenschaften ist, etwa die Verknüpfung von "Männlichkeit-Stärke-Täterschaft", oder "Weiblichkeit-Schwäche-Opferrolle". Tatsächlich zeigen sich jedoch in unserer Gesellschaft längst Prozesse, welche die Geschlechtertrennung als überholt wirken lassen. Die Diskussion um Mädchengewalt, oder Jungen als Opfer von Gewalttaten belegen diesen Prozess. Bereswill proklamiert, dass "eine primäre Form" von abweichendem Verhalten ebenso wenig existiert wie "zwei (soziale) Geschlechter". Derartige Kategorien existieren lediglich durch Zuschreibung und in Folge durch ein spezifisches "Geschlechterverhältnis". Als Konsequenz für die praktische Arbeit fordert Bereswill eine reflexive Praxis, wodurch subtile Bewertungen und latent vorhandene Geschlechterhierarchien identifiziert und aufgehoben werden können.
In einem weiteren Beitrag vertieft Popp die soziologischen Überlegungen des vorhergehenden Kapitels. Auf Grundlage eines ausführlichen Referats des Forschungsstands zur Evidenz von Jungen und Männern im Kontext gewaltsamen Handelns, belegt sie, dass normative Erwartungen an das Verhalten der Geschlechter unsere soziale Wahrnehmung beeinflussen. Die Bedeutung dieser Analyse liegt in der Gültigkeit der Aussagen sowohl für private, als auch professionelle Kontexte: Steuern derartige Rollenerwartungen Konzeption und Intervention in der Sozialen Arbeit, wird so ein erheblicher "Beitrag" für den Erhalt von Ungleichheit im Geschlechterverhältnis geleistet.
In einem weiteren kriminologischen Kapitel belegt Seuss die Wirksamkeit von Genderaspekten im Zusammenwirken mit Prozessen der gesellschaftlichen Marginalisierung, etwa durch Zugehörigkeit zu bestimmten Ethnien, oder Merkmale wie (geringer) Bildungsstand und Arbeitslosigkeit. Kriminelles Handeln übernimmt hier -auch- die Funktion der Entwicklung/Aufrechterhaltung männlicher Identität, wenn die herkömmlichen Handlungsfelder (Beruf, Familie) als Handlungs- und Erlebensbasis nicht zur Verfügung stehen. Delinquenz, insbesondere Gewaltstraftaten sind, so die Autorin, gleichzeitig Ausdruck der psychosozialen Konflikte Einzelner und Ausdruck einer spezifischen Männlichkeitsinszenierung.
Zu Abschnitt 2
Der zweite Abschnitt stellt die soziologischen und kriminologischen Überlegungen des ersten Abschnitts in den Zusammenhang konkreter Arbeitszusammenhänge. Schreier, Toprak, Kugler/Fiedler und Lempert befassen sich in ihren jeweiligen Beiträgen mit präventiven bzw. Freiheitsentzug vermeidenden Projekten. Zielgruppe der Projekte sind dabei straffällige Mädchen, gewalttätige junge Männer, oder straffällige türkische Jugendliche. Beiträge u. a. von Jansen und Hüdepohl befassen sich mit geschlechtsspezifischen Defiziten in den Vollzugsanstalten und konkreten Arbeitsansätzen im Strafvollzug, u. a. einem Projekt zur Entlassungsvorbereitung für inhaftierte Frauen.
Zu Abschnitt 3
Im dritten Abschnitt lenken Zolondek/Dünkel und Cummerow den Blick auf europäische Verhältnisse des Strafvollzugs unter Gendergesichtspunkten. Dabei wird deutlich, dass die spezifische Lebenssituation inhaftierter Frauen, ihre Biografie und ihre besonderen Probleme im Frauenstrafvollzug Europas nur bedingt berücksichtigt werden, was zu nachteiligen Resozialisierungschancen für Frauen führt. Schwierigkeiten in der Kindererziehung (zwischen 53% in Dänemark und knapp 82% in Griechenland der inhaftierten Frauen haben meist minderjährige Kinder), oder in der Bildungsarbeit stellen den Gipfel der Problembereiche im Strafvollzug dar. Dass diese Defizite konstruktiv als Entwicklungsaufgaben aufgefasst werden müssen, belegt Wielpütz in einem Beitrag zu einem Good practice Projekt der EU: Bildungsprojekte, welche die Vorbereitung von Inhaftierten in speziellen Trainings auf Genderaspekte in bestimmten Arbeitsbereichen fokussieren, belegen eindrucksvoll, dass eine Veränderung des Strafvollzug im Sinn einer geschlechtergerechteren Ausgestaltung machbar ist.
Zielgruppe und Diskussion
Der Band richtet sich zunächst an Praktiker und Praktikerinnen im Bereich des Strafvollzugs. Dort soll die Sensibilität für Genderaspekte erhöht werden. Der Band versteht sich in diesem Zusammenhang als Beitrag, den Blick auf geschlechterspezifische Sichtweisen und Bedürfnisse zu lenken und so Perspektiven für einen geschlechtergerechteren Umgang mit straffälligen Menschen zu entwickeln. Das Buch greift gleichzeitig ein für die gesamte Soziale Arbeit zentrales Thema, die Bedeutung von Genderaspekten und die Relevanz des Gender Mainstreaming auf. Dadurch empfiehlt sich die Lektüre auch (sehr) im Kontext von Ausbildungszusammenhängen. Die zahlreichen Praxisbeispiele verdeutlichen, wie die im Band umfangreich dargestellten Theorie- und Analyseansätze konstruktiv umgesetzt werden können. Praktikern aus dem Bereich der Straffälligenhilfe werden so wertvolle Hinweise für die eigene berufliche Tätigkeit gegeben.
Fazit
Umfangreiche theoretische Überlegungen und Analysen zu Genderaspekten in der Arbeit mit Straffälligen werden im vorliegenden Band mit konkreten Anwendungsbeispielen kombiniert. So erhält der Leser die Möglichkeit, die vorgestellten Theorien anhand praktischer Hinweise nachzuvollziehen und zu vertiefen. Schon unter diesem Gesichtspunkt muss der vorliegende Band als beispielhaft für die Verbindung von Theorie und Praxis bezeichnet werden. Die Ausführungen im ersten Abschnitt des Bandes verdeutlichen, dass die Umsetzung des Gender Mainstreaming eine Herausforderung für die gesamte Soziale Arbeit darstellt. Genderkompetenz ist in der Sozialen Arbeit ein zentrales Professionalitätsmerkmal, welches den Professionellen ermöglicht, geschlechtersturkurelle Bedingungen und Lebenschancen zu erkennen und deren Verortung in Wissenschaft, auf der biografischen Ebene und in der Ausgestaltung institutioneller Bedingungen aufzudecken und zu gestalten.
Der vorliegende Band überzeugt grundsätzlich, denn er überträgt nicht einfach ein gesellschaftswissenschafltiches und -politisches Konstrukt auf ein Arbeitsgebiet, sondern eröffnet eine generelle Verbesserung für den gesellschaftlichen Umgang mit abweichendem Verhalten.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 15.03.2008 zu:
Gabriele Kawamura-Reindl, Lydia Halbhuber-Gassner, Cornelius Wichmann (Hrsg.): Gender mainstreaming - ein Konzept für die Straffälligenhilfe? Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb
(Freiburg) 2007.
ISBN 978-3-7841-1787-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/5486.php, Datum des Zugriffs 03.11.2024.
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