Pasqualina Perrig-Chiello, François Höpflinger (Hrsg.): Jenseits des Zenits
Rezensiert von Prof. Dr. Harro Kähler, 01.05.2001
Pasqualina Perrig-Chiello, François Höpflinger (Hrsg.): Jenseits des Zenits. Frauen und Männer in der zweiten Lebenshälfte. Haupt Verlag (Bern Stuttgart Wien) 2000. 204 Seiten. ISBN 978-3-258-06215-0. 34,00 EUR.
Thema
"Obwohl die geschlechtstypischen Unterschiede in der zweiten Lebenshälfte bloss in grossen Zügen bekannt sind, haben viele sozial- und geisteswissenschaftliche Studien diese Perspektive vernachlässigt. Umgekehrt haben die ‚Gender Studies‘ Fragen des Alterns ausgeblendet" (S.7) Mit dieser Äußerung begründet P.Perrig-Chiello als Mitherausgeberin das Vorhaben des vorliegenden Buchs, das darauf abziele, genau diese Lücke zu schließen. Dabei komme der Betrachtung der mittleren Lebensspanne im Verhältnis zu den späteren Lebensphasen in dieser Perspektive eine besondere Bedeutung zu. Als Zenit des Lebens wird der Wendepunkt in der mittleren Lebensphase angesehen, in der eine deutliche Veränderung der Zeitperspektive stattfindet: "Man hört auf, die Jahre seit der Geburt zu zählen, und fängt an, das Leben in Hinsicht auf die Zeit, die noch zum Leben bleibt, zu sehen. Angesichts dieser Perspektive werden notgedrungen die Prioritäten anders gesetzt."(S. 8)
Entstehungshintergrund
Das Buch basiert im wesentlichen auf Beiträgen zu einer interdisziplinären Tagung zum Thema, die am 22.10.1999 am Institut Kurt Bösch (IUKB) in Sion (Schweiz) stattfand.
Inhalte
Geschlechtsspezifische Parallelen und Unterschiede in der Ausgestaltung der zweiten Lebenshälfte, insbesondere der mittleren Lebensspanne, werden in den ersten Beiträgen des Buchs diskutiert (mit Beiträgen von P.Perrig-Chiello, M.Kohli & H.Künemund, F.Höpflinger). Um Liebe, Partnerschaft und Sexualität geht es in einem zweiten größeren Abschnitt (mit Beiträgen von M.Martin & M.Schmitt, I.Fooken, A.Thiele, M.Kirsten-Krüger). Deutlich von den anderen Beiträgen verschieden sind dann Beiträge zum Altern im Spiegel von Shakespeares Werk (Th.Steffen) und im Märchen "Die Gänsehirtin am Brunnen" mit Darstellungen der Weiblichkeit in der bildenden Kunst (I.Fooken). Ein Ausblick auf die weitere Entwicklung der Forschung und Praxis zum Thema des Buchs (S.Perren & P.Perrig-Chiello) schließen die Sammlung von Beiträgen ab.
Aus diesen vielfältigen Themenstellungen seien exemplarisch einige Befunde und Hinweise aufgeführt, die helfen können, den Nutzen des Buchs für Leserinnen und Leser besser einschätzen zu können:
- Die Hypothese des sogenannten "cross-over" der Geschlechterrollen in der zweiten Lebenshälfte, nach der einer zunehmenden Feminisierung des alternden Mannes eine Maskulinisierung der alternden Frau entspricht, wird mit Hilfe aktueller Forschungsergebnisse in Zweifel gezogen.
- Bezogen auf körperliches und psychisches Wohlbefinden erweist sich auch bei Untersuchungspersonen in der mittleren Lebensspanne die Kontrollüberzeugung als wesentliche Einflußgröße. Noch stärker ist dies aber bei Untersuchungspersonen im höheren Lebensalter der Fall, wenn die Anlässe zur stärkeren Auseinandersetzung mit Themen wie Abhängigkeit, Krankheit und Tod zunehmen.
- Besonders Männer, etwas abgeschwächter aber auch Frauen, haben im Vergleich zum eher negativen Fremdbild überwiegend positive Selbstbilder – ein Befund, der bisher nicht eindeutig erklärt werden kann.
- Die Altersgrenzen von 60 und 65 Jahren sind nach wie vor verhaltenswirksam – Angebote für gleitende Übergänge in den Ruhestand werden kaum wahrgenommen, eine Verlängerung des Lebensalterszeit wird so gut wie nie geplant. Demgegenüber wird die Einstufung als alt von den Betroffenen erst sehr viel später, nämlich mit etwa 10-jähriger Verzögerung, vorgenommen. Untersuchungspersonen fühlen sich durchschnittlich um diese Spanne jünger als ihr chronologisches Alter.
- Geschlechtsspezifische Unterschiede in den Lebenserwartungen nehmen eher weiter zu. Das weibliche Verwitwungsrisiko steigt. Die Wirkungen der langen Lebensphase ohne Partner auf Lebensformen und Generationenbeziehungen sind vielfältig und bedürfen weiterer Forschungsanstrengungen.
- Protektive Wirkungen von Partnerschaften lassen sich nur nachweisen, wenn die Qualität der Beziehungen mit berücksichtigt wird. Noch wenig erforscht ist der Normalfall langjähriger Beziehungen in den mittleren Erwachsenenjahren. Ein hohes Scheidungsrisiko weisen insbesondere Ehen mit traditioneller Geschlechtsrollendifferenzierung auf.
- Bei Scheidungen scheint nicht nur das Heranwachsen der Kinder, sondern auch die Beziehung zu den alten Eltern eine Rolle zu spielen.
- Die subjektive Bedeutung der Männlichkeitsnomierung für das Umgehen mit Krankheitssymptomen bei älter werdenden Männern ist nach neueren Forschungsergebnissen nicht eindeutig und bedarf weiterer Untersuchungen, die die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei Krankheitsrisiken und Mortalität erklären können.
Fazit
Die Auswahl an Diskussionsbeiträgen in diesem Buch verdeutlicht zweierlei: das Buch bietet einen anregenden Einstieg in eine Fragestellung, die in der Fachliteratur zum Thema Alter und Altern eher randständig, allein wegen der Zahl der angesprochenen Personen der Zielgruppe aber von großer und zunehmender Bedeutung ist. Dabei sind die Beiträge eher forschungs- als anwendungsorientiert. Zugleich wird auch – bei einem aus einer Tagung hervorgegangenen Sammelband und angesichts des unterentwickelten Forschungsstandes nicht überraschend – keine einheitliche Perspektive erkennbar. Insofern kann dem Buch bescheinigt werden, trotz der ungünstigen Ausgangssituation einen erstaunlich fruchtbaren Beitrag zum Beginn einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Lebenslage alternder Frauen und Männer zu leisten.
Rezension von
Prof. Dr. Harro Kähler
Bis zur Emiritierung Fachhochschullehrer an den Hochschulen Hagen, Dortmund und Düsseldorf. Bis 2019 Redakteur der socialnet Rezensionen, Mitarbeiter in der Redaktion des socialnet Lexikons.
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