Erika Steinert, Hermann Müller: Ein misslungener innerdeutscher Dialog
Rezensiert von Dr. Olga Frik, 04.08.2008

Erika Steinert, Hermann Müller: Ein misslungener innerdeutscher Dialog. Biografische Brüche ostdeutscher älterer Frauen in der Nachwendezeit.
Centaurus Verlag & Media KG
(Freiburg) 2007.
268 Seiten.
ISBN 978-3-8255-0418-2.
24,90 EUR.
Reihe: Soziologische Studien - Band 28.
Autorin und Autor
Erika Steinert, geb. 1950, Prof. Dr. phil., ist Professorin für Sozialwissenschaft am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Zittau/Görlitz (FH), Leiterin des Arbeitskreises Sozialarbeitsforschung der Deutschen Gesellschaft für Sozialarbeit und Sprecherin der Fachsektion Gesundheit und soziale Probleme des Akademischen Koordinierungszentrums in der Euroregion Neisse (ACC).
Hermann Müller, geb. 1951, Diplom-Soziologe, Dr. Rer. Pol., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Medizintheorie und Komplementärmedizin der medizinischen Fakultät der Universität Witten-Herdecke.
Thema
Die Berufstätigkeit der Frau war in der DDR selbstverständlich. Dementsprechend als selbstverständlich wurde die Vereinbarkeit zwischen Beruf und Familie angesehen. So musste die DDR-Frau verschiedene soziale Rollen gleichzeitig meistern. Die typisch sozialistische Frau stand selbst an der Werkbank, nebenbei erzog sie die Kinder und begann noch ein Abendstudium. In der DDR wurde die Erwerbstätigkeit gewünscht bzw. verordnet und galt als Voraussetzung für die Emanzipation der Frau. Die Deutsche Einheit 1990 eröffnete für ostddeutsche Frauen neue berufliche Perspektiven. Der Neuanfang brachte aber auch Probleme, wie Arbeitslosigkeit mit sich. Arbeitslosigkeit traf die ostdeutschen Frauen völlig überraschend. Auch heute noch ist die Frauenarbeitslosigkeit im Osten sehr hoch. Ältere Frauen sind davon in einem höherem Maße betroffen.
Entstehungshintergrund und Forschungsinteresse
Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um eine wissenschaftliche Darstellung der Thematik des politischen Umbruchs, des Zusammenbuchs der DDR, des Zusammenschlusses Deutschlands und der folgenden tief greifenden Transformationsprozesse. Als das System der DDR zusammenbrach, folgte eine grundlegende politische und wirtschaftliche Umgestaltung der Gesellschaft - Prozesse, in denen Biographien und Lebenswelten von Menschen in beträchtlichem Maße verändert wurden. Das Forschungsinteresse der Autoren gilt älteren und alten ostdeutschen Frauen, die die DDR mit aufbauten und deren Lage sich nach dem politischen Umbruch schlagartig veränderte. Das Thema der Studie, das im Kontext der Frauen- und Geschlechterforschung steht, bezieht sich auf die Frage, wie die vielfältigen Veränderungen durch die Systemtransformation von älteren und alten Frauen erlebt und bewältigt werden. Der Titel des Buches klingt spannend, macht auf den Inhalt neugierig und weist daraufhin, dass die innerdeutsche Vereinigung in manchen Milieus gescheitert ist.
Aufbau und Inhalte
In der Einleitung beschreiben die Autoren die Situation der ostddeutschen Frauen und stellen ihre Studie dar. Sie gehen davon aus, dass Frauen in der DDR in mancherleit Hinsicht anders als ihre Geschlechtsgenossinnen in Westdeutschland lebten, das gilt insbesondere für ihre soziale Situation und ihre Erwerbsbiografien (vgl. S.9). Die Relevanz des Untersuchunsthemas ergäbe sich laut Autoren aus der demografischen Entwicklung. Die Bevölkerung altert schneller als je zuvor (vgl. S.10). Steinert und Müller weisen darauf hin, dass mit der vorliegenden Studie untersucht wird, "wie mit der Systemtransformation Identität verändert wurde" (S. 9). Die Erhebung, die sich auf die Grenzregion zu Polen und Tschechien konzentriert, wurde im Jahr 2001 durchgeführt. Es wurden drei Alterskohorten der Frauen untersucht: zwischen 55 und 60 Jahre, zwischen 61 und 70 Jahre und die über 71-Jährigen.
Das vorliegende Buch besteht aus acht Kapiteln.
Im ersten Kapitel werden die Ergebnisse der empirischen Untersuchung dargestellt. Zu Beginn des Kapitels formulieren die Autoren die Fragestellung:
- wie die mit der Transformation einhergehenden Veränderungen erlebt und bewältigt werden,
- welche Bedeutung dem Altern, insbesondere bei dem Übergang ins Rentenalter, beigemessen wird und
- ob es Zusammenhänge in der Bewältigung von Alter/Altern und der Bewältigung der Systemtransformation gibt (vgl.S.12)
Im 3. Kapitel ("Erwerbsbiografien älterer Frauen in Ostsachsen während der Systemtransformation") werden beide jüngere Altersgruppen verglichen und unterschiedliche Typen von Erwerbsbiografien rekonstruiert:
- die Wende als berufliche Chance;
- beruflicher Bestandserhalt nach der Wende;
- krisenhafter Verlauf der Erwerbsbiografie nach der Wende.
Im gleichen Kapitel werden ferner Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Umschulungen dargestellt.
Im 4. Kapitel ("Alltag, Familie und soziale Beziehungen der Rentnerinnen") werden folgende Aspekte dargestellt:
- zur Partnerbeziehung der Rentnerinnen;
- zu den Kindern und Enkeln der Rentnerinnen;
- Alltag, Aktivitäten und soziale Beziehungen der Rentnerinnen;
Das 5. Kapitel ("Krankheit, Pflegebedürftigkeit und der Tod von Eltern, Schwiegereltern und Ehemännern") ist den Auswirkungen der Pflege kranker Angehöriger auf die Biografien älterer Frauen gewidmet. Zum Thema Pflege werden drei Haltungstypen herausgearbeitet und dargestellt. In diesem Teil liefern die Autoren m.E. wichtige Erkenntnisse für die gerontologische Forschung.
Im 6. Kapitel ("Zur materiellen Situation der Rentnerinnen") werden die Einkommen der Rentnerinnen auf der Grundlage im Projekt erhobener Daten verglichen. Zu Beginn des Kapitels wird interessanterweise betont, "dass von einer generellen Altersarmut keine Rede sein kann. Auch für eine grundsätzliche Benachteiligung der Rentnerhaushalte in den neuen Bundesländern finden sich keine Hinweise. Dennoch gibt es Fälle von geringerem Alterseinkommen" (S.128). In diesem Kapitel gehen die Autoren auf die Themen "Die soziale Situation lediger, gesschiedener und verwietweter Rentnerinnen", "Lebensstandard", "Wohnen als ältere Frau" ein.
Im 7. Kapitel ("Zur Rekonstruktion sozialer Milieus") wird versucht, soziale Milieus nach Vester u.a. ("Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel", 2001) durch Fallvergleiche zu rekonstruieren. Zu Beginn des Kapitels analysieren die Autoren den Milieubegriff in der soziologischen Literatur. Im weiteren Verlauf wird aufgezeigt, "dass die individualbiografische und familiengeschichtliche Perspektive für die Rekonstruktion der sozialen Milieus eine entscheidende Bedeutung hat" (S.174).
Im Kapitel 8 ("Zusammenfassung und abschließende Diskussion") werden zentrale Ergebnisse der Studie in den Kontext der Fachdiskussion gestellt und praxisrelevante Überlegungen formuliert.
Im Anhang befinden sich die theoriebezogenen Kapitel und Fallstudien. Dabei wurden solche Fälle ausgewählt, die unterschiedliche biografische Verläufe repräsentieren. Im Anhang kann auch das Forschungsdesign nachgelesen werden. Schließlich wird ein Bezug zur Praxis sozialer Arbeit hergestellt.
Die Darstellungsart und der Schwierigkeitsgrad
Die Autoren verfügen über eine umfangreiche Erfahrung in der Erstellung wissenschaftlicher Bücher. Die Sprache wie der didaktische Aufbau dieses Werkes ist sehr ansprechend; hier sind "Profis" am Werk. Aus Lesersicht ist es ein anregendes Buch und macht Freude darin zu lesen.
Fazit
Mein Eindruck zum vorliegenden Buch ist sehr positiv. Das Ergebnis der Studie, die als Sozialarbeitsforschung zu verstehen ist, kann für die Praxis der Sozialarbeit mit älteren Menschen bedeutsam werden. Die Studie bietet Anregungen für innovative Ansätze in der Arbeit mit älteren Menschen, um sie gesellschaftlich zu intergieren.
Das vorliegende Buch bietet sowohl für denjenigen viel Neues, der sich mit professionell mit Soziologie befasst, als auch LeserInnen mit soziologischem oder historischem Interesse an der DDR. Zweifelsfrei ist es den Autoren gelungen, das Thema lebensnah, empirisch und theoretisch darzulegen.
Rezension von
Dr. Olga Frik
Omsker Staatliche Universität für Agrarwissenschaften (benannt nach P.A. Stolypin), Omsk, Russische Föderation. Ehemalige Lehrbeauftragte und Gastwissenschaftlerin an der Leibniz-Universität Hannover
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