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Georg Auernheimer (Hrsg.): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität

Rezensiert von Prof. Dr. Veronika Fischer, 28.01.2003

Cover Georg Auernheimer (Hrsg.): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität ISBN 978-3-8100-3441-0

Georg Auernheimer (Hrsg.): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2002. 235 Seiten. ISBN 978-3-8100-3441-0. 24,90 EUR.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-531-15821-1 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.

Interkulturelle Kompetenz - viel diskutiert und zugleich umstritten

In dem vorliegenden Sammelband "Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität" bündelt der Herausgeber Georg Auernheimer verschiedene Beiträge zum Thema. Er fasst Facetten einer Diskussion zusammen, die sich um das Selbstverständnis einer pädagogischen Profession bemüht, die sich mit Anforderungen der Einwanderungsgesellschaft konfrontiert sieht.

Ziel des Bandes - so der Herausgeber - sei die kritische Bilanz der bisherigen Diskussion, wobei es Georg Auernheimer nicht bloß um den Nachvollzug eines Diskurses geht, sondern auch um den Bezug zu pädagogischen Praxen.

Der Band ist in drei Kapitel gegliedert, die das Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln darstellen:

1. Im ersten Kapitel, das mit dem Titel "Interkulturelle Kompetenz - ein kontroverses Thema" überschrieben ist, wird der Begriff grundlegend thematisiert und teilweise aus soziologischer, sprachwissenschaftlicher und philosophischer Perspektive erörtert. In den ersten beiden Artikeln von Paul Mecheril und Mar‘a do Mar Castro Varela wird der Begriff der interkulturellen Kompetenz kritisch hinterfragt. Mecheril spitzt seine Kritik in der paradoxen Wortschöpfung einer "Kompetenzlosigkeitskompetenz" zu. Er sieht im deutschsprachigen Raum eine problematische Verkürzung des Begriffs und einen fragwürdigen Umgang mit kulturell ethnischer Differenz. Er problematisiert, dass die kulturell ethnisch Anderen in der Regel als AdessatInnen von interkulturellen Fortbildungsveranstaltungen nicht vorkommen, die bestehenden Angebote im Zusammenhang mit einem einseitigen Kulturverständnis der "Kulturalisierung" Vorschub leisteten und mit einem instrumentellen Verständnis von pädagogischem Handeln einhergingen. Interkulturelle Professionalität stelle sich im Unterschied dazu als ein Versuch dar, "Wissen zu erarbeiten, das sich in der Annäherung an die Perspektive des Gegenüber konstituiert, ohne im Konstitutionsprozess den Rest, das Nicht-Wissen zu überspringen"; Verstehen des anderen sei ein (koloniales) Phantasma. Der Artikel von Mar‘a do Mar Castro Varela hinterfragt - am Beispiel einer konkreten Fortbildungsmaßnahme - den Nutzen von interkulturellen Trainings, zumal wenn diese von "oben" angeordnet sind und die Teilnehmenden unfreiwillig kommen. Sie zeigt an diesem Beispiel auf, dass solche Programme nie die Tiefenstrukturen, etwa den verdeckten Rassismus der Beteiligten erreichen und ihr Ziel folglich verfehlen. Ihrer Ansicht nach sei vielmehr eine (Re-)politisierung der Pädagogik vonnöten und selbstreflexive Prozesse, die die Pädagogik auf ihre disziplinierenden und machtstabilisierenden Diskurse hin befragen. Doron Kiesel und Fritz Rüdiger Volz plädieren in ihrem philosophisch ausgerichteten Aufsatz für eine Doppelperspektive, die sowohl die Orientierung an Menschenwürde und Menschenrechten beinhaltet als auch die Person als Subjekt seiner Lebensführung berücksichtigt. Nötig sei ein stereoskopischer Blick" mit den beiden Brennpunkten: der moralischen und der ethischen Anerkennung". Für interkulturelle Kompetenz bildet die moralische Anerkennung des anderen als Mitglied einer Gruppe, die eine andere kulturelle Lebensform vertritt, den zentralen Aspekt, da sie Interaktionen zwischen sprach- und handlungsfähigen Angehörigen ethnisch kultureller Gemeinschaften zu regeln vermag. Interkulturelle Kompetenz hätte dann zweierlei zu leisten, zum einen eine Moral der Anerkennung zu entwickeln, die sich auf Gruppen und Subkulturen mit je eigener kollektiver Identität bezieht und zum anderen eine Ethik der Anerkennung der Person als Träger eines je eigenen Lebensentwurfs herauszubilden. Hierzu sollten mit den Betroffenen Lern- und Bewältigungsmuster entworfen werden, um die in der multikulturellen Situation zwangsläufig entstehenden Konflikte zu meistern. Das erste Kapitel schließt mit einem Aufsatz von Annelie Knapp, die interkulturelle Kompetenz aus einer sprachwissenschaftlichen Perspektive beleuchtet. Ausgangspunkt ihres Beitrags ist die Erkenntnis, dass Sprache als Mittel zur Verständigung grundsätzlich auch Quelle für Missverständnisse ist. Knapp weist einleitend darauf hin, dass es aufgrund der Unschärfe des Kulturbegriffs schwierig sei, zu bestimmen, wann interkulturelle Kommunikation vorliegt. Unbestreitbar sei aber die zusätzliche Problembelastetheit der kommunikativen Situation, wenn die Interaktanten unterschiedliche Muttersprachen sprächen. Diese Problemdimensionen werden von Knapp erläutert, um schließlich Komponenten interkultureller Kommunikationsfähigkeit herauszuarbeiten.

2. Der zweite Teil des Sammelbandes enthält Artikel, die sich mit interkultureller Kompetenz in Sozialarbeit und Schule beschäftigen. Zunächst führen Leenen / Groß und Grosch aus, was sie unter interkultureller Kompetenz in der Sozialen Arbeit verstehen. Ausgangspunkt ihrer Erörterung ist die in der Fachdiskussion immer wieder konstatierte Einsicht, dass ein Mangel an interkultureller Professionalität in der Praxis sozialer Arbeit die Gefahr von Wahrnehmungsverzerrungen, Fehlzuschreibungen, Fehldiagnosen und unsachgemäßen Interventionen sowie die Missachtung der Identität des Gegenübers in der Kontaktsituation beinhaltet. Kernstück ihres Beitrags ist ein Modell, das neben der klassischen Dimension Sozialer Arbeit, die auf den Ausgleich sozialer Benachteiligung abzielt, den Aspekt der Kulturbegegnung einführt. Während die klassische Verteilungsdifferenz in diesem Modell auf einer vertikalen Linie angeordnet wird, symbolisiert die Horizontale die Verständigungsdimension, wo es um das Recht auf Verschiedenheit geht, um die Anerkennung verschiedener Identitäten im Rahmen interkultureller Kommunikation. Im Anschluss an dieses Modell entwickeln die Autoren ein Kompetenzprofil, das sie vier Bereichen zuordnen, wobei sie an ein von der GTZ entworfenes Schema anknüpfen (interkulturell relevante allgemeine Persönlichkeitseigenschaften, soziale Kompetenzen, spezifische Kulturkompetenzen und kulturallgemeine Kompetenzen). Was die Nachhaltigkeit einer interkulturellen Kompetenzentwicklung im Rahmen von Personalentwicklung betrifft, wird auf die Relevanz einer entsprechenden Organisationsentwicklung verwiesen. Schließlich formulieren die Autoren eine Reihe von Fragen, die künftig für eine Praxisforschung auf diesem Gebiet relevant wären. In Abgrenzung von kulturalistischen Ansätzen wählt Edwin Hoffman mit seinem sogenannten TOPOI-Modell einen "inklusiven" Ansatz von interkultureller Kommunikation, der - in Anlehnung an Watzlawick u.a.(1974) - ein Denken und Handeln propagiert, das ein Wir-Denken impliziert und Raum für Unterschiede lässt. In dem von ihm gewählten systemtheoretischen Ansatz von interkultureller Kommunikation stehen die Kommunikation, das Situationsgebundene und Einzigartige der Persönlichkeit im Vordergrund. Im TOPOI-Modell werden fünf Bereiche unterschieden, in denen kulturelle Unterschiede und Missverständnisse zur Geltung kommen, nämlich Taal (ndl. Sprache) Ordening (Ordnung), Personen, Organisatie (Organisation) und Inzet (wörtl. Einsatz). Das Modell schlägt darüber hinaus verschiedene kommunikative Interventionsstrategien vor. Das TOPOI - Modell kann während der Kommunikation als Referenzrahmen genutzt werden und im nachhinein als Instrument eingesetzt werden, um Kommunikationssituationen zu analysieren und die neuralgischen Punkte für das Entstehen von Missverständnissen herauszuarbeiten. Mit einer Fallstudie aus der Jugendhilfe macht Thomas Zitzmann auf die Bedeutung von Alltagstheorien für das berufliche Handeln in der Jugendhilfe und in Migrationsdiensten aufmerksam. Ihn interessiert in diesem Kontext, in welcher Beziehung diese Alltagstheorien zu organisatorischen Entwicklungen im Zuge der sog. Interkulturellen Öffnung der Institutionen stehen. Nachdem der Autor grundlegende Begriffe und sein Untersuchungsdesign erklärt hat, interpretiert er exemplarisch ein Interview mit einem Mitarbeiter eines Jugendhilfebüros. Auch der Beitrag von Dorothea Bender-Szymanski stützt sich auf eine empirische Untersuchung, die allerdings im Schulbereich angesiedelt ist und der Frage nachgeht, was interkulturelle Kompetenz im Lehrberuf bedeutet. Sie entwickelt eine Reihe von Komponenten für ein interkulturelles Kompetenzprofil, das sie aus eigenen empirischen Analysen im Schulbereich gewonnen hat, wo sie Studienreferendare in interkulturellen Situationen untersucht und die verschiedenen Akkulturationsverläufe nachgezeichnet hat.

3. Im letzten Kapitel dieses Sammelbandes werden die "Schlussfolgerungen für die Konzeptentwicklung und die Ausbildung" skizziert. Georg Auernheimer stellt sich die Frage, ob interkulturelle Kompetenz ein neues Element pädagogischer Professionalität sei. In diesem Zusammenhang schreibt er der angemessenen Bearbeitung von Kommunikationsstörungen im interkulturellen Kontext eine besondere Rolle zu und führt anhand eines Kommunikationsmodells, das auf Schulz von Thun zurückgeht, vier Dimensionen an, die interkulturelle Kommunikation bestimmen: die Machtdimension, Kollektiverfahrungen, gegenseitige Feindbilder und die kulturelle Dimension. Nach einem Exkurs zum Stand der angloamerikanischen und der deutschsprachigen Diskussion, schneidet er einige offene Fragen zum Thema an. Dabei geht er sowohl auf die Bedeutung der persönlichen Qualifikation als auch auf die Veränderung der institutionellen Strukturen zu deren interkultureller Öffnung ein. Darüber hinaus käme der Bereichsspezifik interkultureller Kompetenz eine besondere Bedeutung zu. Nicht zu vernachlässigen sei die Beziehung zu den Klienten im jeweiligen Feld und die zu den Mitgliedern im Team. Wert gelegt würde in der Diskussion um interkulturelle Kompetenz auch auf die Kulturgebundenheit des eigenen Wahrnehmens, Denkens und Handelns und den Stellenwert von Selbstreflexion. Zum Abschluss des Buchs präsentiert Andrea Lafranchi ein in der Schweiz entwickeltes Curriculum für die Lehrerausbildung, das die für die Einwanderungssituation nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten des pädagogischen Personals darstellt.

Die Autorinnen und Autoren

Die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes kommen aus den Bereichen Wissenschaft, pädagogische Forschung und intermediäre Organisationen, die zwischen Praxis und Forschung vermittelnde Funktionen einnehmen.

Zielgruppen

Die Zielgruppen werden von dem Herausgeber nicht explizit benannt. In Frage kommen meines Erachtens alle an Hochschulen (Lehrende und Studierende) und in pädagogischen Praxisfeldern Tätigen, die sich mit den durch die Migrationssituation entstehenden Veränderungsprozessen auseinandersetzen müssen.

Lesbarkeit des Textes

Ein Teil der Texte bewegt sich auf einem hohen Abstraktionsniveau (insbesondere im ersten Teil des Sammelbandes) und bedient sich einer zum Teil komplizierten Fachsprache. Vielfach werden Vorkenntnisse zum Thema vorausgesetzt.

Fazit

Der Sammelband gibt einen sehr guten Überblick über die aktuelle Diskussion zum Thema und fasst die verschiedenen Strömungen und kritischen Facetten des Diskurses gut zusammen. Interessant ist vor allem der unterschiedliche fachtheoretische Zugang zum Thema (z.B. der sprachwissenschaftlich orientierte von Annelie Knapp), der Einblick in die US- amerikanische Diskussion (Georg Auernheimer), der für die Praxis sehr nützliche Ansatz aus den Niederlanden (das TOPOI-Modell) und der anregende Beitrag zur Curriculumentwicklung aus der Schweiz. Wer von dem Buch eine Auflistung von Qualifikationsmerkmalen erwartet, die Aufschluss darüber geben, was denn nun in einem instrumentellen Sinn an Fachwissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten in interkulturellen Berufssituationen verlangt werden sollte, wird enttäuscht. Dies ist auch explizit nicht das Ziel des Sammelbandes. Darin sind sich im Grunde auch alle Autoren und Autorinnen einig, dass es nämlich bei interkultureller Kompetenz nicht um ein technokratisch instrumentelles Verständnis von Qualifizierung geht, die schwerpunktmäßig wissensbasiert erfolgt. Vielmehr bietet der Sammelband eine Vielzahl von unterschiedlichen Deutungsmustern, wie interkulturelle Kompetenz zu definieren sei bzw. Vorschläge, diesen Begriff ganz ad acta zu legen. Einigkeit besteht dabei in der Warnung vor Kulturalisierungstendenzen und dem Hinweis auf das Eingebettetsein des professionellen Tuns in institutionelle Strukturen und Machtasymmetrien.

Rezension von
Prof. Dr. Veronika Fischer
Dr. Veronika Fischer, Professorin (i. R.) der Erziehungswissenschaft, langjährige Berufstätigkeit in der Erwachsenenbildung, Lehr- und Forschungstätigkeit an der Hochschule Düsseldorf mit den Schwerpunkten Erwachsenen- und Familienbildung, Migrationspädagogik, Diversity und interkulturelle Öffnung
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Es gibt 5 Rezensionen von Veronika Fischer.


Zitiervorschlag
Veronika Fischer. Rezension vom 28.01.2003 zu: Georg Auernheimer (Hrsg.): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2002. ISBN 978-3-8100-3441-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/560.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.


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