Wolfgang Bergmann, Gerald Hüther: Computersüchtig. Kinder im Sog der modernen Medien
Rezensiert von Dr. rer. nat. Volker Premper, 20.10.2009
Wolfgang Bergmann, Gerald Hüther: Computersüchtig. Kinder im Sog der modernen Medien. Beltz Verlag (Weinheim, Basel) 2007. 4. Auflage. 164 Seiten. ISBN 978-3-491-42112-7. 18,00 EUR. CH: 31,90 sFr.
Autoren
Wolfgang Bergmann ist Diplom-Pädagoge und renomierter Familien-, Kinder- und Jugendlichen- Therapeut. Er ist Leiter des Instituts für Kinderpsychologie und Lerntherapie in Hannover. Er ist bekannt durch zahlreiche Publikationen zu den Themen Erziehung und Psychologie des Kindes- und Jugendalters. Er beteiligt sich pointiert an der öffentlichen Debatte um mehr Disziplin und Gehorsam in der Erziehung und spricht sich dabei gegen eine „neue Kälte in der Erziehungskultur“ aus.
Gerald Hüther ist Professor für Neurobiologie in Göttingen und einer der bekanntesten Hirnforscher in Deutschland. Neben zahlreichen Publikationen auf dem Gebiet der experimentellen Hirnforschung und mehreren wissenschaftlichen Monographien ist er Autor mehrerer populärwissenschaftlicher Sachbücher. Darüber hinaus ist er der Öffentlichkeit bekannt durch zahlreiche Interviews zu Befunden der modernen Hirnforschung und der daraus ableitbaren Konsequenzen für das alltägliche Leben, insbesondere die Erziehung.
Ziel und Zielgruppe
Der vorliegende Taschenbuchband möchte all denjenigen, denen die Welt der Computer und des Internets bisher eher fremd geblieben sind, einen Einblick in die Beschaffenheit virtueller Welten geben und deutlich machen, was deren Faszination vor allem für Kinder und Jugendliche ausmacht. Ein weiteres Anliegen des Buches ist es, darauf aufmerksam zu machen, wie sich das häufige und lange Bewegen in virtuellen Welten auf die Gehirnentwicklung und damit letztlich auf die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen auswirkt. Die Autoren wollen warnen, vor einer zunehmenden Lebensuntüchtigkeit von Heranwachsenden in der realen Welt, einer zunehmenden Unfähigkeit, ihre Anforderungen und Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Schließlich sollen Wege aufgezeigt werden, wie dieser Entwicklung zu begegnen ist. Primäre Zielgruppe sind Eltern, Lehrer, Erzieher und alle, die sich um das Wohl und die Entwicklung der nächsten Generation Gedanken machen.
Inhalt
Im ersten Kapitel, bezeichnet als „First Task“, wird der Leser mit den Charakteristika und Eigenschaften der virtuellen Computerwelten vertraut gemacht. Die Autoren arbeiten heraus, wie durch die mühelose Überwindung räumlicher und zeitlicher Grenzen im Computerspiel und beim Internetsurfen sowie durch die Möglichkeit, sich der Grenzen der eigenen Persönlichkeit und der eigenen Kompetenzen zu entledigen, eine verlockende Welt narzisstischer Befriedigung entsteht. Am Beispiel des bekanntesten und wohl auch am weitesten verbreiteten Online-Rollenspiel „World of Warcraft“ wird aufgezeigt, wie die virtuelle Spielwelt Bedürfnisse nach Selbstbestätigung, Verbindlichkeit, Regelhaftigkeit und sozialer Anerkennung zu befriedigen vermag. Obwohl diese Bedürfnisse dem Anschein nach befriedigt werden, bleiben sie trotzdem mit der Person unverbunden, eben virtuell. Dieses Suchen und Finden von Ersatzbefriedigung beim Computerspielen wird gesehen vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklungen der letzten Jahrzehnte. Diese kennzeichnen die Autoren durch den zunehmenden Verlust von existenzieller Sicherheit und sozialer Verbindlichkeit. Das Fehlen von Beständigkeit und Halt wird von Kindern und Jugendlichen kompensatorisch und nur scheinbar mittels der Computerwelten befriedigt.
Im zweiten Kapitel („Second Task“) wird beschrieben, auf welche Weise das Bewegen in Computerwelten das seelische Erleben und die Gehirnentwicklung beeinflusst. Leben und Erleben in der virtuellen Welt findet fast ausschließlich visuell statt und muss insbesondere ohne Verankerung des Erlebten in der Körperlichkeit auskommen. Raum- und Zeitwahrnehmung verändern sich, beliebige räumliche Distanzen lassen sich sofort überwinden, alles geschieht jetzt. Kommunikation mit anderen bekommt im Netz einen neuen Charakter. Ob im Chat oder beim VoiceMail oder TeamSpeak, es spricht nicht das reale Selbst, das sich auf Basis seiner Erfahrungen die Welt angeeignet hat, sondern es „kommuniziert“ ein virtuelles Ich, ein „Avatar“, die Kommunikation bleibt überwiegend auf das Geschehen im Spiel oder die im Netz dargestellte Person begrenzt. Es entsteht ein neues „Jetztbewusstsein“ im Netz, das nur begrenzt in der realen Person und seinen Erfahrungen und Erleben verankert ist. Der Bezug zur Realität verschiebt sich, das reale Ich und die reale Welt verlieren immer mehr an Bedeutung zugunsten des fiktiven Ich und der fiktiven Welt. Diese bietet scheinbar die Selbstwertbestätigung, Wunscherfüllung und soziale Nähe, die in der realen Welt nicht gelingen mögen. Manchmal gelingt es, in der virtuellen Welt erworbene Fähigkeiten auch in das reale Leben zu übertragen und nicht alle spielenden Kinder und Jugendlichen verfangen sich suchtartig in der virtuellen Welt, es bleibt jedoch offen, unter welchen Bedingungen eine Wendung ins Positive gelingt.
Im
dritten Kapitel („Third Task“) wird genauer darauf
eingegangen, wie süchtiges Erleben und Verhalten und speziell
Computersucht entsteht. Unbefriedigte Bedürfnisse nach
Orientierung, Kontrolle und Verbindlichkeit machen Kinder und
Jugendliche vulnerabel für Maschinen (Computer), die mittels
bestimmter Programme genau diese Bedürfnisse zu erfüllen
scheinen. Werden bestimmte Aktivitäten mit positiver emotionaler
Erregung oder mit dem Verschwinden stark negativ getönter
Emotionen immer wieder ausgeführt, so wird im Belohnungszentrum
vermehrt Dopamin ausgeschüttet. Dopamin seinerseits setzt
Reaktionen in Gang, die die Neuroplastizität fördern. So
wird die Festigung und Erweiterung von neuronalen Verbindungen in
Gang gesetzt, die mit der Ausübung eines bestimmten positiv
konnotierten Verhaltens verbunden sind. Auf diese Weise wird die
Ausübung des Verhaltens weiter gefestigt.
Im
Folgenden wenden sich die Autoren der Frage zu, welche Personen
besonders gefährdet sind, „computersüchtig“ zu
werden. Es wird konstatiert, dass unsere heutige Gesellschaft Kindern
und Heranwachsenden zu wenig positiv erlebte Herausforderungen bietet
und Kinder und Jugendliche nicht lernen können, Probleme und
Konflikte konstruktiv zu lösen. Weiter erhalten sie zu wenig
Gelegenheit, die Freude über eigene Leistungen mit anderen zu
teilen und eine positive Rückmeldung zu bekommen. Es wird
betont, dass der „Feind“ nicht das „Suchtmittel“
ist, sondern die gesellschaftliche Situation, die es Kindern und
Jugendlichen nicht erlaubt, ein hinreichend starkes Selbstwertgefühl
zu entwickeln und sich glücklich und zufrieden in ihrer
Lebensumwelt zu fühlen. Weiter wird versucht, zu erklären,
weshalb in erster Linie Jungen von exzessiven Computerspielen
betroffen sind. Es wird dargelegt, dass Jungen von Geburt an
vulnerabler und empfindlicher sind. Daher reagieren sie auch in den sensiblen Phasen der neuronalen Entwicklung stärker auf fehlende Orientierung, zu wenig positive Herausforderung und den Mangel an unterstützender Zuwendung. Sie sind empfänglicher für jede Art Ersatzorientierung und Befriedigung, so auch für die Verlockungen virtueller Welten.
Das
vierte Kapitel („Forth Task“) geht der Frage nach,
wie den Ursachen der Entwicklung von Computersucht entgegenzuwirken
ist. Die Autoren benennen hier folgende Faktoren: die Überwindung der Gestörtheit von Beziehungen, positive Herausforderungen, Orientierung gebende Vorbilder, sowie die Möglichkeit, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erwerben, die dem eigenen Kompetenzerleben und den Ausbau des Selbstwertes zuträglich sind. Weiter geht es um die Wiedergewinnung von Vertrauen in förderliche soziale Beziehungen und die Überwindung von Entfremdung. Dies zu erreichen wird primär als Aufgabe der sozialen Gemeinschaft und der Gesellschaft konzipiert.
Die Irrwege der
Orientierungssuche und Selbstfindung in virtuellen Welten wird in
eine Reihe gestellt mit anderen Formen außenorientierter
Orientierungs- und Sinnsuche, wie Identifikation mit Idolen der Pop-
und Show-Welt oder Sportgrößen. Einen Teil der
Jugendlichen gelingt es, sich aus eigener Kraft zu ihrem „wahren
Selbst“ zurückzufinden. Der Hintergrund, vor dem dies
möglich ist, wird allgemein skizziert, die konkreten Bedingungen
für ein Gelingen oder Misslingen bleiben jedoch vage. Die
angedeuteten Auswege bestehen im Wesentlichen in der Forderung nach
Umkehrung von ungünstigen oder defizitären
Entwicklungsbedingungen für Kinder und Jugendliche.
Im abschließenden Kapitel („Logging out“) wird noch einmal eine kurze Zusammenfassung der bisher dargelegten Gedanken gegeben, verbunden mit dem Appell an die „Erwachsenen“, darüber nachzudenken und zur Besinnung zu kommen, was an dem vorgelebten Lebensstil und den gesellschaftlich vermittelten Werten und Sinnangeboten nicht stimmt, wenn so viele Kinder und Jugendliche die virtuelle Welt der realen vorziehen.
Diskussion
Die exzessive Nutzung elektronischer Medien und insbesondere des Computers vor allem durch junge Menschen ist in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Aufmerksamkeit gelangt. Weshalb die Computer- und Internetnutzung für viele Menschen der jüngeren Generation so eine enorme Faszination hat, bleibt den Mitgliedern der älteren Generation, die nicht mit Computern aufgewachsen sind und in ihm primär eine „erweiterte Schreibmaschine“ und ein Arbeitsinstrument sehen, häufig verborgen. Erklärungsversuche wirken oftmals hölzern, können den Kern der Faszination nicht einfangen oder werden moralisierend. Hier nun liegt die Stärke des vorliegenden Buches, die Faszination der virtuellen Welt auch für diejenigen, die nicht selber ausführlich in sie eintauchen, verstehbar und nachvollziehbar zu machen. Es wird deutlich, was das Faszinierende ausmacht und auf welchem persönlichen Entwicklungshintergrund die Anfälligkeit für die Flucht in virtuelle Welten gedeiht. Weiter wird in der Schilderung der Autoren nachvollziehbar, wie soziales und gesellschaftliches Klima auf die persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen einwirken und die Entwicklung hin zu einer Flucht aus der realen Welt befördern. Ein weiterer Verdienst des Buches ist es, auf einfache Weise deutlich zu machen, wie sich exzessive als befriedigend und faszinierend erlebte Computernutzung auf die Gehirnentwicklung auswirkt und dort strukturelle, später nur unter großen Mühen korrigierbare Veränderungen hinterlässt.
Nicht einlösen kann der Band den im dritten Kapitel formulierten Anspruch, zu erklären, wer besonders gefährdet ist, sich in virtuellen Welten zu verlieren. Hier werden noch einmal mit anderen Worten die schon zuvor benannten ungünstigen sozialen und gesellschaftlichen Entwicklungsbedingungen benannt. Vage bleiben auch die Vorschläge, wie vorbeugend oder im Nachhinein Hilfestellung gebend das Problem gelindert oder vermieden werden kann.
Wünschenswert wäre weiter gewesen, wenn der plakative Begriff der „Computersucht“ diskutiert worden wäre. Es wird allgemein von Computersucht gesprochen, während tatsächlich in erster Linie Online-Rollenspiele gemeint sind. Weiter ist durchaus kontrovers zu diskutieren, ob sich mit dem Suchtbegriff das Phänomen der exzessiven Computernutzung adäquat beschreiben lässt oder ob nicht eine andere Begrifflichkeit wie z.B. „dysfunktionaler oder pathologischer PC-Gebrauch“ (vgl. Petry, 2009) das Phänomen besser beschreibt. Vermisst habe ich auch den Bezug zu vorhandenen empirischen Befunden. Im Rahmen einer Längsschnittstudie an 5200 Schülern kommen beispielsweise Meixner und Jerusalem (2009) zu dem Ergebnis, dass die exzessive Internetnutzung zu weiten Teilen ein entwicklungsbezogenes Problem ist, das die meisten Jugendlichen überwinden und das nur bei einer kleinen Kerngruppe zu ernsthaften persistierenden Problemen führt. Die Gedankenführung von Bergmann und Hüther legt hingegen nahe, das es sich bei der Computersucht um ein ubiquitäres Phänomen handelt.
Fazit
Das Buch ist lesenswert für alle, die sich einen ersten Eindruck von dem Phänomen der exzessiven Computernutzung und möglichen Erklärungen dafür verschaffen wollen. Wer konkrete Handlungsansätze für Prävention, Beratung oder Behandlung erwartet, wird enttäuscht. Auch besorgte Eltern oder andere Angehörige finden hier eher allgemeine Hinweise. Das Buch macht die Faszination von Computerwelten und die Gefahren, die mit ihnen verbunden sind nachvollziehbar und verstehbar und regt zum Nachdenken an. Nicht weniger und nicht mehr.
Rezension von
Dr. rer. nat. Volker Premper
Leitender Psychologe, MEDIAN Klinik Schweriner See, Lübstorf (Mecklenburg-Vorpommern)
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Zitiervorschlag
Volker Premper. Rezension vom 20.10.2009 zu:
Wolfgang Bergmann, Gerald Hüther: Computersüchtig. Kinder im Sog der modernen Medien. Beltz Verlag
(Weinheim, Basel) 2007. 4. Auflage.
ISBN 978-3-491-42112-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/5627.php, Datum des Zugriffs 16.10.2024.
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