Fritz Reheis: Bildung contra Turboschule! Ein Plädoyer
Rezensiert von Dr. Stefan Anderssohn, 18.01.2008
Fritz Reheis: Bildung contra Turboschule! Ein Plädoyer.
Verlag Herder GmbH
(Freiburg, Basel, Wien) 2007.
224 Seiten.
ISBN 978-3-451-03008-6.
14,90 EUR.
Herder Spektrum ; 5931.
Thema
"Nicht die Kinder sind ungeeignet für die Schule, sondern die Schule ist ungeeignet für die Kinder. Und das vor allem, weil sie falsch mit der Zeit umgeht" (Seite 12). Damit ist die Hauptthese des Plädoyers von Fritz Reheis formuliert. Nach Ansicht des Autors werden der Unterricht im Schnelldurchgang und die künstliche Zersplitterung in Fachgebiete weder den Schülern und Lehrern noch den Inhalten gerecht. Vielmehr würden negative Effekte gefördert: Vom "Fastfood-Wissen", das schnell angelernt nur für die nächste Prüfung reiche, bis hin zum Einzelkämpfertum und zum "Super-GAU", dem bewaffneten Amoklauf in der Schule.
Gerade in Zeiten von PISA stellt sich die Frage, in welche Richtung sich Schule entwickeln sollte: stromlinienförmiger auf Effektivität ausgerichtet oder individueller, den Lerntempi der Schülerinnen und Schüler angepasst. Keine Frage, dass für Reheis nur der letzte Weg in Frage kommt. Und dies versucht er in seinem Plädoyer für eine entschleunigte Schule zu begründen.
Autor
Fritz Reheis, Jahrgang 1949, blickt auf rund 25 Jahre Berufserfahrung als Gymnasiallehrer zurück. Als promovierter Soziologe und habilitierter Erziehungswissenschaftler war er an verschiedenen Hochschulen als abgeordneter Dozent tätig. Zurzeit lehrt er an der Universität Bamberg, im Bereich Sozial- und Wirtschaftswissenschaften.
In seiner seit 1990 ausgeübten Tätigkeit als Publizist ist Reheis durch Veröffentlichungen wie "Entschleunigung. Abschied vom Turbokapitalismus" oder "Die Kreativität der Langsamkeit" bekannt geworden. (Weitere Informationen auf der Homepage des Autors: www.fritz-Reheis.de)
Inhalt und Aufbau
In der komprimierten Einleitung bietet Reheis einen Ausblick auf den gesamten Buchinhalt: die so genannte "Turboschule" und ihre Folgen. Dabei lautet seine Kernbotschaft, dass das System Schule zu schnell voranschreite und dabei zu wenig auf die Eigenzeiten und Lernrhythmen der Schüler und Lehrkräfte acht gebe. Diese These gilt es nun in vier zusammenhängenden Teilen systematisch zu entfalten.
Der erste Teil, betitelt: "Die Turboschule", beschreibt den chronischen Zeitdruck und die Zeitnot von Schülern und Lehrern im Tagesablauf, vornehmlich auf dem Gymnasium (Stichwort: "verkürzte Oberstufe"). Eine so unter Zeitdruck verabreichte Bildung führe nach Reheis“ Ansicht zur Fastfood-Bildung, die auf geistigem Gebiet dasselbe anrichte, wie Fastfood-Ernährung mit dem Körper. Auf diese Weise gerieten Bildungsinhalte zu Wegwerfprodukten, die nicht mehr an und für sich, sondern nur noch durch ihren „Tauschwert“ (Noten, Punkte usw.) interessant seien. Reheis zitiert Studien und Fallbeispiele von Schülern, welche die mangelhafte Passung des starren 45-Minutentaktes, die starke Prüfungsorientierung und die Fehlerintoleranz im pädagogischen Prozess deutlich werden lassen. Da wundert es nach Ansicht des Autors kaum, wenn die deutsche Schulbildung im internationalen Vergleich nur noch zum Mittelmaß gereiche und darüber hinaus für das Individuum nur geringe persönlicher Relevanz besäße. Diese besorgniserregende Entwicklung betreffe jedoch auch die Lehrer, die in einem derartigen Bildungsbetrieb Gefahr liefen, des pädagogischen Ethos verlustig zu gehen.
Schlimmeres drohe nach Reheis “ Ansicht in der nahen Zukunft: Ihre zunehmende Vermarktung und ein kommerzialisiertes Anbieter-Nachfrager-Sponsorship-Verständnis von Schule ließen für die Ware "Bildung" nichts Gutes erahnen.
"Was wachsen soll, muss reifen können " - unter diesen Metaphern entfaltet der Autor im zweiten Teil seine pädagogische Anthropologie. Grundlegend erscheint der Mensch durch drei Kräfte determiniert: Natur, Kultur und Eigentätigkeit. Als Naturgeschöpf unterliegt der Mensch aber auch zeitlichen Einflüssen, an denen Reheis seine Chronobiologie anhand von System- und Eigenzeit, zyklischer und linearer Zeit und Elastizität darstellt. Danach arbeitet er mit Ressourcen, Schwingung und Resonanz und Fehlerfreundlichkeit wesentliche Voraussetzungen kreativen Arbeitens und Denkens heraus. Dazu zieht Reheis Ansätze der Ökologie, Molekularbiologie und Astrophysik heran. Drittens greift er auf die Schichten: Körper, Seele, Geist zurück, um die verschiedenen Bedürfnisse und Funktionsweisen des Menschen für den pädagogischen Prozess zu erläutern. Daraufhin gelingt es ihm, die Termini "Bildung" und "Erziehung" in das Spannungsfeld des Menschen als Natur- und Kulturwesen einzuführen, wobei es ihm als Zeittheoretiker um eine Synchronisation von innen und außen geht.
Der dritte Teil: "Schulen haben Eigenzeiten" widmet sich zunächst dem so genannten "GAU", den bewaffneten Amokläufen an Schulen. Reheis versucht am Beispiel des Erfurter Täters aufzuzeigen, dass eine desolate Zeitökologie in Schule und Elternhaus zu der Tat beitrugen. Aber auch den Betroffenen des Erfurter Schulmassakers wurde seitens der Behörden und Öffentlichkeit nicht die nötige Zeit gewährt, das Erlebte angemessen zu verarbeiten.
Dies nimmt Reheis zum Anlass, wesentliche Aspekte einer zeitmäßig gelingenden Schule darzustellen: Dabei komme es darauf an, auf Zeitfenster im Reifungsprozess zu achten und Schüler nicht als zu befüllende Fässer, sondern vielmehr als selbsttätig Handelnde und wissbegierige Feuer zu sehen. Weiterhin gelte es, die Einheit von Kopf, Herz und Hand wieder herzustellen - angereichert durch Neugier, Kreativität und Reflexivität. Für die Lehrkräfte fordert Reheis Rückzugsräume, um die wesentliche Arbeit vor Ort zu erledigen, Selbstbeschränkung angesichts des nach oben offenen Bildungsauftrages und die Möglichkeit, regelmäßig in anderen Berufsfeldern Erfahrungen machen zu können. Aber auch für die lebendige Erschließung der Bildungsinhalte gilt dem Autor die Zeitdimension als Schlüssel, hier ist von Synchronisation, Rückkoppelung und Resonanz im Unterrichtsprozess die Rede.
Idealtypisch möchte Reheis statt herkömmlicher Lehranstalten kleine Forschungszentren sehen und konstatiert, die Pioniere seien längst aufgebrochen, Schule zu verändern: Handlungsorientiertes Lernen in Projekten, Teamarbeit von Lehrkräften, Abschaffung des 45-Minuten-Taktes, sogar die Aufhebung der Anwesenheitspflicht werden vom Autor angesprochen.
Nichts weniger als "die fundamentale Veränderung der gegenwärtigen Lebens- und Wirtschaftsweise" (Seite 170) projektiert Reheis dann in Teil vier: "Bildung ist mehr". Dazu skizziert der Autor zunächst sein Bildungsverständnis entlang des Schemas von Körper, Seele und Geist: Bildung sei im Wesentlichen etwas Genusshaftes, geschehe in einer sozial anerkennenden Atmosphäre und führe zu individueller Freiheit, die sich in einem kompetenten, selbstbestimmten Umgang mit Zeit niederschlage. An die Eltern ergebe sich hieraus die Forderung, Rhythmen und Rituale zu pflegen, Gegenwartsbezug und Zukunftsorienterung zu geben sowie eine anregende Entwicklung zu ermöglichen. Von der Wirtschaft erwartet Reheis, dass sie Schulbildung zwar angemessen unterstütze, aber nicht über Gebühr Einfluss nehme. Ferner sieht der Autor die Wirtschaft in Bezug auf angemessene Arbeitszeitgestaltung, Entlohnung, Ausbildungsperspektive und Konsumgüter vielfach in der Pflicht. Vielmehr dürfe es sich für Unternehmen gar nicht lohnen, die familiären Interessen zu missachten. Tenor bleibt dabei: Allgemeinbildung müsse auch in Zukunft kostenlos bleiben. Letztendlich bleibt sich Reheis als Zeittheoretiker treu und wagt damit einen Gegenentwurf, der nicht durch das monetäre Prinzip bestimmt wird, sondern durch die Ressource Zeit.
Im Schlussteil "Arbeit und Muße" sucht der Autor, das Symptom „Turboschule“ in den Zusammenhang einer rastlosen Wegwerfgesellschaft einzuordnen und mit seinem Entwurf einer mußevollen, arbeitsamen und selbstbildnerischen Alltagsinsel - ganz nach Vorbild der mittelalterlichen Klosterschulen - zu kontrastieren.
Diskussion: "Zeit heilt alle Wunden?"
Zweifellos setzt Reheis mit seinem zeitökologischen Ansatz für die Schulentwicklungsdiskussion einen interessanten Akzent. Dabei geht es nicht um die Beachtung des Biorhythmus und den legendären Mittagsschlaf des Lehrers. Weitaus ambitionierter erscheint Reheis“ didaktischer Ansatz, die Eigenzeiten von Schülern, Lehrern und Inhalten im pädagogischen Prozess zu respektieren. Dabei merkt man dem Autor sein Interesse für eine klassische pädagogische Anthropologie an, etwa wenn er auf die Funktionsprinzipien von Körper, Seele und Geist abhebt, wie bereits Aristoteles in seiner Schrift "Über die Seele", oder Pestalozzis pädagogischen Dreiklang von Kopf, Herz und Hand.
Insgesamt scheint es dem Autor darum zu gehen, sowohl den richtigen Zeitpunkt zu treffen als auch die nötigen Zeiträume im Bildungsprozess zu schaffen. Ein durchaus umfangreiches Vorhaben, welches Reheis hier skizziert. Dass der Autor dazu auf viele kleine Mosaiksteinchen, von Studien bis zu Anekdoten und Erfahrungsberichten aus unterschiedlichen Schulformen, von Erkenntnissen der Astrophysik bis zur Molekularbiologie zurückgreift, macht die Sache nicht unbedingt übersichtlicher.
Was aus meiner Sicht jedoch in jedem Falle kritisch anzumerken ist, bezieht sich auf die Tatsache, dass die Respektierung der Eigenzeiten und fächerübergreifenden Sachzusammenhänge bereits Eingang gefunden hat in die Lehrpläne. Nicht nur an Sonderschulen, wo Unterricht ohne diese Prinzipien kaum ernsthaft zu denken wäre. Nein, auch an Regelschulen, wo fächerübergreifendes Arbeiten an lebensbezogenen Fragestellungen innerhalb von Leitthemen durchaus erwünscht ist. Eine andere Sache ist, - und hier dürfte die Kritik von Reheis im Einzelfall punkten - dass diese Prinzipien nicht in jeder Schulform gleichermaßen (schnell) umsetzbar sind.
Erfreulich aber, dass Reheis Lehrer nicht als Gegenspieler in einem maroden System sieht, sondern als potentielle Pioniere der Veränderung. Die Vision von Schule als Forschungszentrum, wo die Schüler, "unterstützt durch Ärzte und Anwälte aus der Elternschaft" (Seite 156), ihr Feuer der Wissbegierde nähren sowie die Aneinanderreihung von Good-practice-Beispielen lassen mich selbst als veränderungswillige Lehrkraft aber etwas ratlos zurück. Mag eine derartig global-abgehobene Sichtweise für die Textform des Plädoyers noch angehen, so wirkt in manchen Passagen das Zeit-Paradigma überstrapaziert. Beispielsweise dürfte nicht allein Zeitmangel der Grund dafür sein, dass immer mehr Kinder ohne Frühstück in die Schule kommen (Seite 194).
Ich persönlich war am stärksten von der Kritik an der kommerzialisierten Bildung im ersten Teil des Buches angesprochen. Ein aktueller und spannender Gedankengang, der sich meines Erachtens parallel zur Zeit-Debatte noch tiefgehender zu entwickeln gelohnt hätte.
Zielgruppe
Das Buch richtet sich in Thematik und Stil an eine breite Öffentlichkeit: Darunter fallen sowohl Eltern und Lehrkräfte aller Schularten als auch Personen, die sich für die Diskussion um die Weiterentwicklung von Schule interessieren.
Fazit
Gerade in Zeiten empirischer Vergleichsstudien ist die Frage nach einer gelingenden Schule immer lauter geworden. Reheis legt mit seinem Plädoyer den Finger tief in die Wunde eines Bildungsverständnisses, das reine Zeitersparnis als Effektivität wertet. Er gibt über die Schlüsselkategorie "Zeit" einige Impulse, Schule menschenfreundlicher und allen Beteiligten angemessener zu denken.
Rezension von
Dr. Stefan Anderssohn
Sonderschullehrer an einer Internatsschule für Körperbehinderte. In der Aus- und Fortbildung tätig.
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Zitiervorschlag
Stefan Anderssohn. Rezension vom 18.01.2008 zu:
Fritz Reheis: Bildung contra Turboschule! Ein Plädoyer. Verlag Herder GmbH
(Freiburg, Basel, Wien) 2007.
ISBN 978-3-451-03008-6.
Herder Spektrum ; 5931.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/5648.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.
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