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Peter Mösch Payot: Der Kampf gegen häusliche Gewalt

Rezensiert von Prof. Dr. Anna Maria Riedi, 12.11.2008

Cover Peter Mösch Payot: Der Kampf gegen häusliche Gewalt ISBN 978-3-906413-42-6

Peter Mösch Payot: Der Kampf gegen häusliche Gewalt. Zwischen Hilfe, Sanktion und Strafe. Kriminalpolitische Veränderungen und die Funktionalisierung des Strafrechts zum Opferschutz am Beispiel der Reformen im Kampf gegen häusliche Gewalt in der Schweiz. Interact Verlag Hochschule Luzern (Luzern) 2007. 146 Seiten. ISBN 978-3-906413-42-6.

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Thema

Der Autor zeigt auf, wie sich der Diskurs um häusliche Gewalt sehr schnell (weg) von einer ursprünglich feministischen Forderung zu einem politischen und strafrechtlichen Top-Thema entwickeln konnte. Die punitive Symbolik des spätmodernen Strafrechts mit Nulltoleranz gegenüber häuslicher Gewalt und ihrer Entprivatisierung stand zunehmend im Vordergrund, was sich auch in der Offizialisierung des Delikts spiegelte. Reformen, welche sich eher auf sozialstaatliche, zivilrechtliche, spezialpräventive oder sozialarbeiterische Elemente stützten, traten in den Hintergrund.

Der Autor plädiert heute für einen Marschhalt, der es erlaubt, vor neuen Erweiterungen von Sanktionen und Interventionen wieder die konkreten Interessen der beteiligten Menschen in den Vordergrund zu rücken. Der Ausweitung des Einsatzes von Strafrecht steht der Autor skeptisch gegenüber. Intensiviert werden sollte hingegen der Diskurs um die Problembearbeitung durch Angebote der sozialstaatlich gestützten Opfer- und Täterarbeit. Im Mittelpunkt steht dabei auch eine interdisziplinär und kulturanalytisch orientierte Differenzierung häuslicher Gewaltformen.

Entstehungshintergrund

Das vorliegende Fachbuch basiert auf der Magisterarbeit zum "Master of advanced studies in Criminology" an der School of Criminology, International Criminal Law and Psychology of Law der Universität Bern.

Autor

Der Autor, Peter Mösch Payot, Mlaw, LL.M., Manager Nonprofit NDS FH, geb. 1970,  ist Dozent und Projektleiter an der Hochschule Luzern, Soziale Arbeit und Mitarbeiter in einer Berner Anwaltskanzlei

Zielgruppen

Fachpersonen der Sozialen Arbeit, der Kriminologie, der Politik sowie allgemein an der strukturellen Bearbeitung sozialer Probleme Interessierte

Aufbau

Das Buch ist in vier Teile gegliedert:

  1. Analyse der Diskussion um die Offizialisierung von Delikten im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt
  2. Die Kriminalpolitik der Spätmoderne als Hintergrund der Reformen
  3. Abbildungen spätmoderner kriminalpolitischer Tendenzen in der Diskussion um häusliche Gewalt und die Offizialisierung
  4. Fazit und eigene weiterführende Gedanken des Autoren

1. Analyse der Diskussion um die Offizialisierung von Delikten im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt

Der Diskurs um häusliche Gewalt war aus Sicht des Autoren ursprünglich eng verknüpft mit feministischen Forderungen nach Antidiskriminierung. Im Regelfall galt häusliche Gewalt als Gewalt verübt von Männern gegen Frauen im Rahmen von asymmetrischen Machtverhältnissen. Im  Ergebnis werden heute alle Formen von häuslicher Gewalt miteinbezogen, jedoch ohne vertiefte Diskussion über Differenzierungen innerhalb dieser Gewaltformen oder Gewalttypen.

Bei der Begründung der Reformen stand gemäss Mösch Payot die abstrakte Ebene der Symbolik im Vordergrund: es ging symbolisch um die Entprivatisierung der entsprechenden Konflikte und darum, häusliche Gewalt nicht (länger) als Bagatell- oder Privatangelegenheit zu tolerieren.Konkrete Opferschutzinteressen standen zunehmend weniger im Vordergrund. Die mögliche, zusätzliche Viktimisierung der Opfer durch Struktur und rechtsstaatliche Form der Strafverfahren blieb im Diskurs praktisch unberücksichtigt.

Der Grundsatz, wonach Strafrecht als Ultima Ratio eingesetzt werden sollte, wurde damit umgekehrt. Strafrecht wurde bei häuslicher Gewalt zur Prima Ratio, welche von anderen Interventionsmassnahmen (polizeiliche und zivilrechtliche) subsidiär zu ergänzen war.Im Diskurs wurde wenig Wert auf die Frage gelegt, ob präventive Ziele wie generelle Abschreckung der Täter und erleichterter Ausstieg der Opfer aus Missbrauchsbeziehungen tatsächlich mit dem Strafrecht erreicht werden oder ob sich dazu nicht auch andere Reformen auf zivil- und polizeirechtlicher Ebene und durch proaktive Opferberatung erreichen liessen.

2. Die Kriminalpolitik der Spätmoderne als Hintergrund der Reformen

In diesem Teil der Publikation geht der Autor der Frage nach, weshalb häusliche Gewalt so schnell zu einem Top-Thema werden konnte. Andere Anliegen der Frauenbewegung wie Lohngleichheit, ausserfamiliäre Kinderbetreuung, Kaderstellen in Teilzeit etc. haben vergleichsweise nie diesen Stellenwert erhalten. Mösch Payot stellt fest, dass der Einsatz von Strafrecht und Sanktionen im Kampf gegen häusliche Gewalt im Vergleich zu Unterstützung und Hilfe sehr dominant wurden. Und er zeigt auf, wie neue soziale und wirtschaftliche Unsicherheiten sich auf das Konzept des demokratisch verfassten modernen Rechts- und Sozialstaat auswirken.
Gemäss Mösch Payot stand die sozioökonomische Entwicklung der westlichen Gesellschaften nach dem 2. Weltkrieg zunächst im Zeichen von Wachstum, Wohlstand und wirtschaftlicher Sicherheit.  Mit der Ölkrise anfangs der 1970er Jahre wurde dieses Wachstum jedoch abrupt gebremst. Arbeitsmärkte wurden flexibilisiert, die Mobilität des Kapitals erhöhte sich. Die Lebenssituation vieler Menschen bis tief in die klassischen Mittelschichten hinein wurden prekarisiert oder waren zumindest geprägt von der Angst davor.
Die Krise des aufstrebenden Wohlfahrtsstaates kann aus Sicht des Autoren gesehen werden als Krise des souveränen Staates. Der Ausbau der sozialstaatlichen Institutionen wurde in der Schweiz spätestens ab den 1990er Jahren gestoppt und bewirkte gleichzeitig eine erhebliche strukturelle Veränderung im Verständnis des Staates und seiner Problemlösungskapazität.

Soziologisch gilt der Begriff der Individualisierung als ein prägendes Merkmal dieser sozioökonomischen und rechtsstaatlichen Entwicklungen auf gesellschaftlicher Ebene.  Dem soziologisch geprägten Begriff der Risikogesellschaft stellt der Autor den Begriff der spätmodernen Kontrollgesellschaft im Zeichen der Gouvernementalität entgegen. Ein neuer Strafdiskurs entfaltete sich in dieser Spätmoderne. Das moderne Resozialisierungsparadigma geriet in die Krise. Das Opfer wurde  im Strafrechtsdiskurs "entdeckt" und ersetzte den prozessual verwendeten Begriff des Verletzten oder des Geschädigten. In der Wissenschaft etablierte sich die Viktimologie (Opferlehre) in der Kriminologie, und wurde zunächst begleitet von politischen Forderungen nach Solidarität mit Opferinteressen und einer Verbesserung der Opferstellung im Strafprozess. Der Autor stellt heute eine ambivalente Entwicklung zwischen dem strafrechtlichen Ausbau von Opferschutz und Beteiligungsrechten einerseits sowie dem sozialstaatlichen Abbau von Opferunterstützung und –beratung andererseits fest. Er spricht von spätmodernem Risikomanagement. Die Tonlage im öffentlichen Diskurs gegenüber Straftätern ist schärfer geworden (Nulltoleranz), besonders im Zusammenhang mit schwerer Gewalt- und Sexualdelinquenz. Die Selbstbeschränkung des Strafrechts durch das Erfordernis, die Täterproportionaliät zu wahren, wird zu Gunsten der Tendenz, Strafrecht primär symbolisch einzusetzen, aufgegeben.

3. Abbildungen spätmoderner kriminalpolitischer Tendenzen in der Diskussion um häusliche Gewalt und die Offizialisierung

In diesem dritten Teil der Publikation werden Argumente und Ergebnisse aus den ersten beiden Teilen – häusliche Gewalt und Strafrecht der Spätmoderne - einander gegenübergestellt.

Die Entwicklung der Familie – vom Hort zum entzauberten Ort -  bietet eine Erklärung dafür, dass häusliche Gewalt mehr Resonanz fand als andere Forderungen der Frauenbewegung bezüglich Gleichberechtigung und Antidiskriminierung.

Der grenzüberschreitende und internationalisierte Diskurs um häusliche Gewalt widerspiegelt sich in paradigmatisch neuen Forschungszugängen und Interventionsprojekten als auch darin, dass internationale Organisationen bis heute als Schrittmacher bei der Umsetzung mitwirken. 

Die durchaus erwünschte Aufwertung der bislang marginalisierten Opfer – und damit verbunden der fragliche Niedergang des Resozialisierungsparadigmas ebenso marginalisierter Straftäter – geht wenig reflektiert einher mit der Tendenz zur punitiven Symbolik und dem "Signale setzen" durch das Strafrecht.

Der symbolische Einsatz von Strafrecht – neu als Prima Ratio - kann gelesen werden als Ausdruck von Aktivität des Staates gegen Missstände. Damit erringt der in seiner Souveränität in Zweifel gezogene spätmoderne Staat aus Sicht des Autoren ein Stück moralischer Legitimation zurück.
Dass Hilfe und Unterstützung der Opfer in Zusammenhang mit polizei- und zivilrechtlichen Interventionen nicht oder nur sehr beschränkt in den letzten Jahren erweitert wurden, hingegen Wegweisungsverfügungen und Kontaktverbote kaum zeitliche Beschränkungen kennen und Täterkurse im Wesentlichen als Verhaltenstrainings gestaltet sind, weist gemäss Mösch Payot darauf hin, dass die Kontrollvorstellung des spätmodernen Staates nur in geringem Masse als sozialstaatlich motivierte Krisenintervention zu verstehen ist resp. die sozialstaatliche Motivation nur sehr untergeordnet zum Tragen kommt.

4. Empfehlungen, Fazit und weiterführende Gedanken des Autoren

Damit man bei der Bekämpfung häuslicher Gewalt nicht mehr und mehr ein Phantom jagt, sondern die Beteiligten tatsächlich unterstützt und die Opfer schützt, entwickelt der Autor abschliessend im vierten Teil der Publikation thesenartige Vorschläge.Er plädiert heute für einen Marschhalt, der es erlaubt, vor neuen Erweiterungen von Sanktionen und Interventionen wieder die konkreten Interessen der beteiligten Menschen in den Vordergrund zu rücken.

Der Ausweitung des Einsatzes von Strafrecht steht der Autor skeptisch gegenüber. Intensiviert werden sollte hingegen der Diskurs um die Problembearbeitung durch Angebote der sozialstaatlich gestützten Opfer- und Täterarbeit. Dabei wären Bedürfnisse, Ursachen und Folgen hinsichtlich Opfer und Täter interdisziplinär und kulturanalytisch weiter zu differenzieren.
Nicht verwundern würde es den Autoren, wenn sich daraus ergäbe, dass Massnahmen und Angebote viel mehr nach gesellschaftlichen Gruppen zu differenzieren wären.
Auch nicht verwundern würde ihn, wenn dabei verschiedene Typen von  Gewaltakten sichtbar würden. Zum Beispiel der Gewaltakt als Ausdruck von systematischem Kontroll- und Unterdrückungsverhalten mit klaren Opfer- und Täterdynamiken, der Gewaltakt als Ausdruck von Widerstand, bei dem das Opfer zum Täter wird. und der Gewaltakt als situative Gewalt, welche nicht in einer Macht-Ohnmacht-Dyade stattfindet.

Damit wäre aus Sicht des Autoren auch ein besserer Zugang gefunden zur Tatsache, dass staatliche Strafinteressen nicht immer deckungsgleich mit den Interessen der Opfer sind. Es wäre besser zu verstehen, weshalb nicht jedes Opfer Interesse an einer strafrechtlichen Aufarbeitung des Geschehenen zeigt oder diese sogar behindert. Und umgekehrt, wäre besser zu verstehen, wo eine strafrechtliche Aufarbeitung tatsächlich Klärung und Katharsis ermöglichen.
Für die Gewährleistung der öffentlichen Verpflichtung – welche auch vom Autoren klar unterstützt wird - , Menschen in Missbrauchsbeziehungen vor sich steigernden Übergriffen zu schützen, ist aus seiner Sicht jedoch nicht die Offizialisierung des Delikts entscheidend. Vielmehr geht es darum über den klassischen Auftrag der Strafverfolgung hinaus, auch den Schutz des mutmasslichen Opfers während des Verfahrens im Auge zu behalten und einen systematischen Kontakt zum Opfer zu halten.

Diskussion

Der Autor entwickelt kurz und bündig die Entstehungsgeschichte der häuslichen Gewalt und deren Offizialisierung im Strafrecht in der Schweiz. Mit Bezügen zu vergleichbaren Entwicklungen in den USA und anderen Staaten unterstützt er seine Argumentationen. Interessierte Fachpersonen habe damit ein kompaktes Handbuch zur Entwicklung des Themas "häusliche Gewalt" in der Schweiz zur Hand.

Bemerkenswert ist dabei, wie es dem Autoren gelingt, einleuchtend nachzuzeichnen, wie sich ein bestimmtes, spezifisches Anliegen (Gewalt von Männern an Frauen in Paarbeziehungen) einer sozialen Bewegung (Frauenbewegung) durch Vermengung mit Interessen ganz anderer Akteure (Politik, Ökonomie, Justiz) zu einem Top-Thema (häusliche Gewalt und deren Offizialisierung im Strafrecht) entwickeln konnte. Nicht selbstverständlich, aber sehr konsequent ist die Forderung des Autoren nach einem Marschhalt und einer gründlichen Analyse resp. einer interdisziplinären und kulturanalytischen Differenzierung. Das Thema hat unbestritten die nötige Anerkennung gefunden. Nun ist es an der Zeit, das, was aus verschiedenen Interessen heraus zu einem Top-Thema vermengt wurde, wieder einer Differenzierung zugänglich zumachen, sozusagen eine Re-Vermengung vorzunehmen, damit auch künftig zugunsten von uns allen häusliche Gewalt adäquat angegangen werden kann.

Damit zeigt dieses Fachbuch aber auch exemplarisch - am Beispiel häuslicher Gewalt – generelle Mechanismen der Entstehung, Analyse und Bearbeitung sozialer Probleme auf. Anschaulich und präzis wird das notwendige Zusammenspiel von sozialen Bewegungen, parlamentarischer Politik sowie sozioökonomischer und rechtsstaatlicher Entwicklungen, welches erst erlaubt, ein soziales Problem zum – allenfalls vermeintlich - gemeinsamen Top-Thema werden zu lassen, analysiert. Dem Autoren gelingt es, die dazu erfolgten Perspektivenwechsel auf das soziale Problem aufzuzeigen, resp. am konkreten Fall aufzuzeigen, wie das Strafrecht funktionalisiert wird und wie soziale Probleme nicht wirklich gelöst sondern verschoben werden.

Fazit

Der Autor argumentiert fachlich nachvollziehbar und stellt die verschiedenen Positionen innerhalb des Diskurses mit Respekt dar. Es gelingt ihm dabei aber auch,  seine eigene Position und die Motivation, aus der heraus er argumentiert und den Diskurs analysiert, klar offen zu legen.

Als Sozialwissenschafterin hat mich die Lektüre dieser Publikation durchaus angenehm angeregt, mich verstärkt mit der Ambivalenz von Strafrecht und Sozialer Arbeit auseinanderzusetzen.

Rezension von
Prof. Dr. Anna Maria Riedi
Sozialwissenschafterin, BFH Berner Fachhochschule, Departement Soziale Arbeit
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Es gibt 10 Rezensionen von Anna Maria Riedi.

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Zitiervorschlag
Anna Maria Riedi. Rezension vom 12.11.2008 zu: Peter Mösch Payot: Der Kampf gegen häusliche Gewalt. Zwischen Hilfe, Sanktion und Strafe. Kriminalpolitische Veränderungen und die Funktionalisierung des Strafrechts zum Opferschutz am Beispiel der Reformen im Kampf gegen häusliche Gewalt in der Schweiz. Interact Verlag Hochschule Luzern (Luzern) 2007. ISBN 978-3-906413-42-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/5683.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.


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