Boris Rapp: Praxiswissen DRG
Rezensiert von Prof. Dr. phil. Stephan Dettmers, 21.04.2008

Boris Rapp: Praxiswissen DRG. Optimierung von Strukturen und Abläufen.
Verlag W. Kohlhammer
(Stuttgart) 2008.
218 Seiten.
ISBN 978-3-17-019396-3.
35,00 EUR.
Reihe: Kohlhammer Krankenhaus.
Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-17-020542-0 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.
Thema
Nach mittlerweile fünf Jahren der Einführung der Diagnosis Related Groups (DRG) als fallorientiertes empirisches Abrechnungssystem ist deutlich erkennbar, dass sich grundlegend Strukturen, Dokumentation und Behandlungszeiten in den Krankenhäusern geändert haben. Diese große Herausforderung wurde aber in den meisten Kliniken noch nicht zufriedenstellend gelöst. Soziale Arbeit in ihrer Sozialdienstfunktion wird immer wieder mit unterschiedlichsten Kenntnisständen anderer (und auch der eigenen) Berufsgruppen und unklaren Entscheidungswegen hinsichtlich der Entlassungsterminierung konfrontiert.
Boris Rapp als Kaufmännischer Direktor einer Klinik stellt ein zielorientiertes Buch vor, in dem es um die praxisnahe Darstellung der Bedeutung der DRG geht. Das schließt mögliche Orientierungen, Herausforderungen und eine Darstellung der aktuellen Kodiermodelle ein.
Aufbau
Das Buch gliedert sich in sieben Kapitel:
- DRG-Kodiermodelle
- Besondere Herausforderungen im DRG-System
- Maßnahmen zur Steigerung der Kodierqualität
- Arbeitshilfe und Werkzeuge
- Kostenträger- und MDK-Anfragen
- DRG-Nachkalkulation und Erlösrechnung
- DRG-Berichtswesen
1 DRG-Kodiermodelle
Rapp stellt seinem ersten Kapitel ein Abkürzungsverzeichnis voran, das für einen sicheren und gezielten Umgang beim Lesen des Buches sorgt. Bei der Einführung in die Thematik stellt er die unterschiedlichen Qualitätsperspektiven seitens Kostenträger (i.d.R. Krankenkassen) und Leistungserbringer (Krankenhäuser) voran. So gehe es den Krankenkassen vor allem um eine korrekte Kodierung, während sich Kliniken häufig auf die vollständige Darstellung ihrer kodierten Leistung beschränkten. Dabei gebe es Differenzen zwischen der Qualität der Patientenakten und den Anforderungen, die sich aus dem DRG-System ergeben (15). Die Darstellung von zehn "Qualitätsdimensionen" (16) geben dann übersichtlich die für die Kodierung zu berücksichtigen Parameter an. Die momentan schon erprobten und etablierten Kodiermodelle werden im Folgenden beschrieben. Dazu gehören
- das "Ärztemodell",
- das "Profiler-Modell",
- das "Koder-Modell",
- die "Aktenprüfung",
- das "Fallbegleiter-Modell",
- das "Outsourcing von Kodierdienstleistungen" (18-33)
Kurz und bündig werden jeweils die Kennzeichen und praktische Bedeutung skizziert und in tabellarischer Form Vor- und Nachteile der einzelnen Modelle diskutiert, ohne dass der Autor eine klare Präferenz für ein bestimmtes Modell äußert. Deutlich werden dabei auch die jeweiligen Zuständigkeiten bei der Kodierung von Medizinern oder Verwaltung und die eigentliche Durchführung. Sinnvoll ist ebenso die Einbindung von empirischen Forschungsergebnissen zur Fragestellung, wie Modelle in der Praxis umgesetzt werden. In einer beschriebenen Studie wurde bspw. die "Aktenprüfung" durch sekundäre Aktenanalysen kontrolliert und damit der immense Umfang fehlerhafter Krankenakten in deutschen Krankenhäusern erkennbar (28-29). Daher ist eine daraus folgende fehlerhafte Kodierung nachvollziehbar, zumal auch z.B. Diagnosen mit Pflegerelevanz oftmals zu Lasten der Kliniken nicht abgerechnet werden. Die Nichtberücksichtigung aller nichtmedizinischen Professionen in den DRGs ist somit bei dem heutigen Erkenntnisstand anachronistisch. Im Fallbegleiter-Modell stellt Rapp eine methodische Möglichkeit vor, die DRG-Kodierung mit einzelnen Elementen des (kaufmännisch interpretierten) Case Managements zu verknüpfen. Bei dieser Variante sind die zuständigen Mitarbeiter direkt in den stationären Ablauf eingebunden und nehmen so z.B. an Visiten teil, um die momentan günstigsten Verweildauergrenzen zeitig zu kommunizieren. Auch hier wieder die Gegenüberstellung der Vor- und Nachteile, wobei die Kostenintensität durch einen gesteigerten Personalaufwand wohl eher gegen dieses System spreche. Bei den Outsourcing-Modellen ist laut Rapp festzustellen, dass sie sich in Deutschland bisher nicht etablieren konnten.
Schließlich äußert sich der Autor zu der Verbreitungsrate der jeweiligen Modelle in deutschen Kliniken und gibt auch noch Informationen zu Kalkulation der Kosten durch Personal- und Sachmitteleinsatz.
Eine aktualisierte Beschreibung von gegenwärtigen Weiter- und Fortbildungsangeboten zu DRG-Kodierern werden auf den folgenden Seiten dargestellt. So werden mittlerweile an diversen Ausbildungsstätten spezielle Aus- und Weiterbildungsprogramme aufgelegt, die allerdings bezüglich Inhalt und Umfang Unterschiede aufweisen. Rapp hat die ebenfalls die unterschiedlichen Qualifikationsvoraussetzungen von Medizinischen Dokumentationsassistenten bis zu Diplom-Dokumentaren gesichtet und diskutiert sodann Kriterien für die Auswahl von Mitarbeitern und "Zuordnungen" (68) in Abhängigkeit zu dem jeweiligen Kodiermodell. Hier finden sich hilfreiche und übersichtliche Grafiken und Tabellen.
Die Frage, warum das DRG-System so zäh und auch widerwillig in der Praxis aufgenommen wird, führt Rapp zu dem Erklärungsansatz möglicher Konfliktsituationen zwischen dem eigentlichen klinischen Interesse der Gesundheitsberufe (insbesondere Mediziner) und der eingeforderten ökonomischen Blickrichtung mit dem damit verbundenen erhöhten administrativen Aufwand. Hier liefert der Autor konkrete Zahlen zum medizinischen Dokumentationsaufwand.
Mögliche Nachteile durch die stark ausgerichtete "wirtschaftliche Orientierung" (83) können sich für Ärzte durchaus ergeben. Dazu benennt Rapp Beispiele hinsichtlich der erhöhten Arbeitsbelastung durch verkürzte Verweildauern, der erhöhten Kontrolle der Kostenträger bei guter und vollständiger Kodierung und der Nichtkoppelung von der Kodierleistung und dem Gehaltsgefüge. Insofern zeigen sich die Konsequenzen allerdings auch für alle anderen Berufsgruppen, die direkt mit dem Patienten arbeiten. Dazu bietet Rapp mögliche ärztliche Anreizmodelle für die Praxis an.
2 Besondere Herausforderungen im DRG-System
Im zweiten Kapitel beschäftigt sich der Autor mit den aktuellen Herausforderungen, die sich in Krankenhäusern durch das Abrechnungssystem ergeben. Hier zeigt sich, dass die Notwendigkeit für die einheitliche Erstellung von Arztbriefen besteht, die den Anforderungen der DRG-Vergütung Rechnung trägt. Auch an dieser Stelle präsentiert Rapp sehr pragmatisch mögliche Lösungsansätze zur Vereinheitlichung bestimmter Dokumentationswege auf. Ziel ist die Plausibilitätserhöhung beim Vergleich von Kodierungen und Arztbriefen.
Als weitere Problematik erwähnt Rapp die Komplexitäten in der Behandlung von Patienten, die (immer häufiger) mit multiresistenten Erregern infiziert werden. Das führt zu Mehrkosten in der Behandlung und durch die verlängerten Verweildauern ist oftmals auch das Entlassungsmanagement beeinträchtigt. Hier zeigt sich abermals die Notwendigkeit umfassender Dokumentation zu vollständigen Kodierung der erweiterten Problematik.
Die Intensivmedizin als nächstes Problemfeld im DRG-System beinhaltet "Komplizierende Prozeduren" und in einer Übersicht werden einige "Eingriffe und Verfahren" dargestellt (106). Dazu gehören z.B. die Intensivüberwachung von Patienten oder Reanimationen.
Weitere Fragestellungen sind prä- und poststationäre Behandlung von Patienten, "Zusatzentgelte" durch Medikation und Blutprodukte, Umgang mit verstorbenen Patienten, Obduktionen sowie alternative Behandlungsmethoden.
3 Maßnahmen zur Steigerung der Kodierqualität
Nachdem Rapp systematisch mögliche Einflüsse auf die Kodierqualität durch vorgegebene Krankenhausstrukturen bzw. Kompetenz der ausführenden Personen und Berufsgruppen dargestellt hat, geht es im dritten Kapitel um konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Kodierqualität. Hier benennt Rapp unterschiedlich Ansätze, die von der Einrichtung von DRG-Hotlines (119) bis zu anderen Maßnahmen wie gezielte Schulungen, Teamkodierung mit Einbeziehung auch anderer Berufsgruppen.
4 Arbeitshilfen und Werkzeuge
Handfest erfolgen im vierten Kapitel Hinweise auf mögliche Hilfen, die i.d.R. kostenfrei im Internet zu erhalten sind. Dazu gehören ebenso Empfehlungen der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung (MDK) wie auch DRG-Handbücher, unterschiedlichste Kodierleitfäden oder gezielte Internetadressen, die Rapp übersichtlich in Tabellenform präsentiert. Selbst Berechnungsgrundlagen für die abrechnungsrelevanten Gesamtschweregrade und Plausibilitätsprogramme analog zur eigenen jährigen Steuererklärung mit den aus Sicht des Autors notwendigen Prüfungsparametern finden sich wieder.
5 Kostenträger- und MKD-Anfragen
Das fünfte Kapitel ist den gesetzlichen Grundlagen und aktueller Rechtsprechung im Zusammenhang mit den DRG gewidmet. Insbesondere die Hintergründe, Inhalte und Grenzen der Überprüfungen der Krankennhäuser durch die Kostenträger werden hier von Rapp thematisiert. Von der Einzelfallprüfung (148 ff.) bis zur Stichprobe wird auch der interpretatorische Spielraum für den MDK diskutiert. Begleitend sind aktuelle gerichtliche Entscheidungen zu den Verpflichtungen der Kostenträger, formale Anfragen an die Kliniken, Leistungsdefinitionen der Leistungsträger und strittige Verweildauern von Patienten erwähnt.
6 DRG-Nachkalkulation und Erlösrechnung
Im sechsten Kapitel plädiert Rapp für eine Kostenträgerrechnung im Zusammenhang mit der notwendigen DRG-Nachkalkulation (183ff.). Detailliert beschreibt der Autor die Vorteil, die sich aus diesen Verfahren ergeben und anhand von Beispielen werden Berechnungsmodell vorgestellt.
7 DRG-Berichtswesen
Um in den Krankenhäusern einen guten Überblick über Patientenbewegungen und Kodierleistungen zur erhalten, fordert der Autor auch ein funktionierendes Berichtswesen in Kapitel sieben ein, Die Fülle von Informationen und Daten können für Rapp zur Überforderung und Orientierungsverluste der Mediziner führen. Demnach nutzt es nicht nur, Daten aufzubereiten, sondern auch zeitgleich die Interpretationsmöglichkeiten zu entwickeln. Dazu bietet der Verfasser unterschiedliche "Kennzahlen zur Kodierqualität" bis zur Optimierung der "Prozessqualität" an (198ff.).
Diskussion
Rapp hat hier ein Buch geschrieben, dass in seiner konkreten und lesefreundlichen Form sicherlich wesentliche Unterstützung für die Menschen in Krankenhäusern leistet, die tagtäglich mit der Aufgabe des DRG-Kodierens betraut sind. So ist mir nochmals das vielschichtige Bild bei der Beurteilung von fall- und abrechnungsrelevanten Faktoren im DRG-Zeitalter deutlich geworden. Leider führt Halbwissen in der Praxis über die DRG auch häufig zu einer gänzlich kritiklosen Sichtweise auf ein gesellschaftlich relevantes Thema wie eine menschenwürdige Gesundheitsversorgung. So stehen häufig bei der Planung und Durchführung von geeigneten Therapien für den einzelnen Menschen mächtige ökonomische Interessen im Hintergrund, die unreflektiert in die Behandlungsargumentation einbezogen werden. Deshalb fehlt mir bei aller Klarheit und Übersichtlichkeit dieses Buches auch eine kritische Auseinandersetzung mit den "Blüten" dieser Entwicklung, die letztlich auch mit erheblichen Konsequenzen für die Patienten und deren Familien verbunden sein können. Um so mehr ist es für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen notwendig, sich mit dem DRG-System zu beschäftigen, zumal soziale Faktoren trotz aller wissenschaftlichen Erkenntnisse bisher nur unzureichend abgebildet und somit vergütbar sind. Möglichkeiten sind beispielsweise die eigene (Weiter-) Entwicklung empirischer Klassifikationsmodelle, wie von Albert Brühl schon publiziert oder die Nutzung von deskriptiven Systemen wie die Fallgruppen der Deutschen Vereinigung für Sozialarbeit im Gesundheitswesen (DVSG). Gleichzeitig sollte ein kritischer Umgang in der konkreten Entlassungssituation mit vorgebenen Zeitfenstern erfolgen, denn die Erfordernisse einer sicheren und zielführenden Überleitung in Richtung Stabilisierung des Gesundheitszustandes von Patienten unter Berücksichtigung der näheren sozialen Netzwerke sind aus Sicht Sozialer Arbeit nicht zu diskutieren. Man denke hier beispielsweise nur an die Themen Pädiatrie und Kindeswohlgefährdung oder Selbstbestimmung und Geriatrie. Nur lässt sich das bisher kaum über DRG abbilden. Das könnte meines Erachtens allerdings sehr gut gemeinsam mit einer vernünftigen und tragfähigen Gesamttherapieplanung unter ökonomischer Grundierung durch die veränderungsfähigen DRG erfolgen.
Fazit
Bei Berücksichtung der politischen und sozialen Kontexte halte ich das Buch auch für Nicht-Kodierer und Nicht-Mediziner gut geeignet, die praktische Bedeutung der DRG für die Krankenhäuser zu beurteilen. Insofern hat Rapp ein systemkonformes Werk erstellt, das es allerdings hervorragend ermöglich, sich strategisch den Sichtweisen von direkt beteiligten Kostenträgern und den Kodierern, Medizinern und Kaufleuten in den Krankenhäusern zu nähern. Für die Soziale Arbeit ist dies gerade hinsichtlich ihrer eigenen ungelösten internen Finanzierung in den Krankenhäusern trotz ihrer dokumentierten theoretischen und praktischen Notwendigkeit für die eigene Sicherung in der Zukunft bedeutungsvoll.
Literatur
- Geißler-Piltz, Brigitte (2006). Historische Verortung: Von der Sozialen Diagnose zum Clinical Social Work. Klinische Sozialarbeit (Sonderausgabe), 7-11.
- Brühl, Albert (2004). Fallgruppen der Sozialarbeit (FdS) als Antwort auf die Einführung der diagnosis related groups in Akut-Krankenhäusern. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden).
- DVSG-Fallgruppen für die Sozialarbeit im
Gesundheitswesen (2006). DVSG (Mainz).
Rezension von
Prof. Dr. phil. Stephan Dettmers
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Zitiervorschlag
Stephan Dettmers. Rezension vom 21.04.2008 zu:
Boris Rapp: Praxiswissen DRG. Optimierung von Strukturen und Abläufen. Verlag W. Kohlhammer
(Stuttgart) 2008.
ISBN 978-3-17-019396-3.
Reihe: Kohlhammer Krankenhaus.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/5691.php, Datum des Zugriffs 29.09.2023.
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