Hans Förstl (Hrsg.): Theory of mind. Neurobiologie [...]
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 07.11.2008
Hans Förstl (Hrsg.): Theory of mind. Neurobiologie und Psychologie sozialen Verhaltens. Springer (Berlin) 2007. 380 Seiten. ISBN 978-3-540-27240-3. 49,95 EUR. CH: 85,00 sFr.
Thema
Die Neurowissenschaften stehen gegenwärtig im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Endlich greifbare Erkenntnisse über menschliches Bewusstsein, Denken und Fühlen zu erhalten, der Selbsterkenntnis der Spezies Mensch näher zu kommen, all das fasziniert die Öffentlichkeit. Und fordert auch zu tief greifenden Kontroversen heraus, wenn man z. B. an den Disput über den so genannten "freien Willen" denkt, der monatelang recht verbissen zwischen Hirnforschern und Geisteswissenschaftlern in den Feuilletons der großen Tageszeitungen geführt wurde.
Die empirische Forschung im Bereich der Neurobiologie hat durch die modernsten bildgebenden Verfahren wie Computertomographie, funktionelle Magnetresonanztomographie und Positronenemissionstomographie immense Fortschritte im Bereich der Erforschung der Hirnfunktionen erzielt, doch viele wesentliche Wirkmechanismen sind noch nicht bekannt.
Die vorliegende Veröffentlichung beinhaltet Versuche, sich dem Zwischenmenschlichen, dem sozialen Vermögen, der so genannten "sozialen Intelligenz" oder dem Einfühlungsvermögen als Erkenntnishorizont zu nähern. Es wird hierbei der etwas ungewöhnliche Begriff der "Theory of Mind" (ToM) verwendet, der als der "Versuch, andere und ihre Absichten zu verstehen und dadurch unser eigenes Verhalten vernünftig anzupassen" definiert wird.
Autoren
Folgende Autoren, überwiegend aus den Bereichen der Medizin, haben Beiträge zu diesem Buch angefertigt: Mathias Berger, Martin Brüne, Michael von Cranach, Janine Diehl-Schmid, Matthias Dose, Petra Dykierek, Evelyn Ferstl, Hans Förstl, Franz Freisleder, Ulrike Gehring, Harald Gündel, Gerrit Hohendorf, Alexander Horn, Rudolf Janzen, Tilo Kircher, Dirk Leube, Klaus Mainzer, Peter Marx, Andreas Meyer-Lindenberg, Arnulf Möller, Albert Newen, Georg Northoff, Detlef Ploog (verstorben), Josef Reichholf, Michael Rentrop, Gerhard Roth, Wulf Schiefenhövel, Elisabeth Schramm, Beate Sodian, Herbert Steinböck, Kai Vogeley, Claudia Wendel, Gunna Wendt und Juliane Wilmanns.
Inhalt
Die insgesamt 30 Beiträge sind untergliedert in die Abschnitte Grundlagen, Störungen und Synopse entstammen u. a. folgenden Wissensgebieten:
- Zoologie,
- Ethnologie,
- Evolution und Sozialbiologie,
- Entwicklungspsychologie,
- genetische Grundlagen sozialer Kognition,
- der Neurophilosophie des Selbstbewusstseins,
- Psychodynamik und Psychosomatik,
- literarische und bildnerische Aspekte,
- Identität und Missidentifikation,
- Spiritualität und Religion.
In dem Abschnitt Grundlagen versucht man sich der Thematik von den verschiedenen Zugangswegen und Wissensdisziplinen der geistigen Welterfassung her zu nähern und zu systematisieren. U. a. werden hierbei Erkenntnisse aus dem Tierreich, der Ethnologie (Kultur der Eipo in Neuguinea), der Entwicklungspsychologie des Kindes und neuropsychologische Forschungsergebnisse angeführt. Darüber hinaus werden Abhandlungen aus den Bereichen der Psychosomatik, der Kunst ("künstlerischer Selbstzweifel") und der Medizinpsychologie (Spiritualität und Religiosität – Sinnfragen als Thema der Medizinpsychologie) angeführt. Auch die Thematik der Willensfreiheit wird in diesem Kontext aufgearbeitet.
Der Abschnitt Störungen enthält Beiträge aus vielen und sehr unterschiedlichen Forschungsfeldern der Psychiatrie: Psychiatrie im Nationalsozialismus u. a. unter den Aspekten der Euthanasie und der Rassenhygiene, Borderline-Persönlichkeitsstörungen, Schizophrenie, Depression, Autismus, Frontalhirninfarkte und degenerative Erkrankungen des Frontalhirns. Aus der Forschung im Bereich der Kriminalität werden Fragestellungen zu Sexualstraftaten, Täterprofilen, Glaubwürdigkeitsbeurteilungen und den Gewaltdelikten jugendlicher Täter unter dem Aspekt der Theory of Mind bearbeitet.
Den Abschluss bildet eine Synopse mit dem Titel "Ich, der andere und mein Wille: Anmerkungen zur Theory of Mind".
Diskussion
Es ist eine äußerst verwirrende Publikation, die Vielzahl an Disziplinen und damit zugleich verbunden die Vielzahl an unterschiedlichen Terminologien, Methoden, Zugangswegen und Reflexionsebenen zu nur einem Thema, da geht der rote Faden verloren. Erst recht zu einem derart bedeutsamen Gegenstandsbereich wie dem Einfühlungsvermögen und den anderen sozialen Kompetenzen. Ein Wissensbereich, der sich gerade erst aus den Fängen geisteswissenschaftlicher Beheimatung löst und dank neuester bildgebender Verfahren ein Sujet der Neurobiologie zu werden scheint.
Hier wäre Reduktion auf die wesentlichen empirischen Zugangswege und Wissensbestände angemessen gewesen, kein breites und geradezu buntes Spektrum teils ohne direkten Bezug zum Gegenstand. Der Forschungsstand zu Bewusstsein, Selbstbewusstsein und anderen Phänomenen der Wahrnehmung wird nämlich noch überwiegend von Annahmen und Hypothesen bestimmt, denn Neurobiologie und Neuropsychologie sind noch nicht zu einem Wissensstrang zusammengeschmolzen.
Die vorliegenden Beiträge entfalten weder implizit noch explizit diese Fragestellungen, daher können von ihnen auch keine neuen Impulse für die weitere Forschung erwartet werden. Es fehlt konkret das Problembewusstsein über den augenblicklich doch noch begrenzten Stand der Forschung (siehe hierzu u. a. das Manifest der elf Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung - in Gehirn&Geist 6/2004).
Fazit
Es bleibt das Fazit zu ziehen, dass die vorliegende Publikation den Charakter einer bloßen Tour d'Horizon besitzt. Und damit hat sie ein Problem dergestalt, dass sie weder den Kreis der Leser populärwissenschaftlicher Texte noch die Zielgruppe der in diesen Arbeitsfeldern Forschenden anzusprechen vermag.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 07.11.2008 zu:
Hans Förstl (Hrsg.): Theory of mind. Neurobiologie und Psychologie sozialen Verhaltens. Springer
(Berlin) 2007.
ISBN 978-3-540-27240-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/5731.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.
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