Andrea Grabert: Salutogenese und Bewältigung psychischer Erkrankung
Rezensiert von Ilja Ruhl, 14.04.2008

Andrea Grabert: Salutogenese und Bewältigung psychischer Erkrankung. Einsatz des Kohärenzgefühls in der sozialen Arbeit. Verlag Hans Jacobs (Lage) 2007. 104 Seiten. ISBN 978-3-89918-165-4. 16,90 EUR.
Autorin
Andrea Grabert, Jahrgang 1976, ist Dipl.-Sozialpädagogin und Master of Social Work. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Salutogenese, chronisch psychische Erkrankungen sowie Stationäre Jugendhilfe. Die Autorin ist Mitarbeiterin beim Sozialpsychiatrischen Dienst in München und bietet u.a. Fortbildungen und Workshops zu verschiedenen Themen an. Sie ist außerdem Gründungsmitglied der Arbeitsgruppe "Soziale Arbeit forschtÓ.
Thema
Im Rahmen von Ansätzen wie Empowerment und Recovery gewinnt auch Antonovskys Theorie von der Salutogenese wieder an Bedeutung, insbesondere weil sich in ihr für diese Ansätze eine frühe wissenschaftliche Fundierung abzeichnet. Gerade wegen der immer wieder angeführten Unheilbarkeit psychischer Erkrankungen hat der Grundgedanke der Salutogenese von einem Kontinuum zwischen den Punkten "gesund" und "krank" zurecht einen gewissen Charme. Die Autorin fokussiert auf die möglichen Implikationen der Salutogenese für die Soziale Arbeit, sie macht sich also an den Transfer von der Theorie zur Praxis.
Aufbau
Das Buch enthält einen theoretischen und einen praktischen Teil sowie Schlussfolgerungen.
A. Theoretischer Teil: Chronisch psychische Erkrankung aus der Sicht der Salutogenese und die Rolle des Kohärenzgefühls
A. I. Entwicklung vom Krankheits- zum Gesundheitsverständnis in der Psychiatrie. Die Autorin geht zunächst auf das biomedizinische und biopsychosoziale Modell psychischer Erkrankungen ein, um dann den salutogenetischen Ansatz insbesondere in Hinblick auf seine Bedeutung für die psychische Gesundheit und die psychiatrische Sichtweise auf die PatientInnen näher zu beleuchten. Hier sind es vor allem die sogenannten chronisch Erkrankten, die von der Idee der Salutogenese profitieren könnten, weil der Fokus auf die gesunden Anteile beim Umgang mit der oft als unheilbar beschriebenen Erkrankung hilft.
A. II. Bedeutung des Kohärenzgefühls für die Bewältigung chronisch psychischer Erkrankung. Die Bedeutung der Salutogenese für die Psychiatrie ist aus Sicht der Autorin in der Vergangenheit zwar wahrgenommen worden, vernachlässigt worden sei dabei aber die konzeptionelle Einbettung des Kohärenzgefühls. Das Kohärenzgefühl als "eine grundlegende und auf die persönliche Umwelt gerichtete, in der Persönlichkeit verankerte Orientierung" setzt sich aus den drei Komponenten Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit zusammen. Die Autorin erläutert die drei Komponenten ausführlich, diese werden an späterer Stelle die Kategorien innerhalb ihrer qualitativen Datenanalyse bilden.
Antonovsky selbst hat keine Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen psychischer Gesundheit und dem Kohärenzgefühl angestellt, solche sind später aber von anderen WissenschaftlerInnen gemacht worden. So wurde u.a. ermittelt, dass die Schwere einer psychischen Erkrankung negativ mit dem Kohärenzgefühl korreliert oder dass Personen mit einem hohen Kohärenzgefühl nach einem Trauma weniger häufig eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickeln.
B Empirischer Teil: Sichtweise der Betroffenen kontrastiert zum Kohärenzgefühl
Die Autorin geht von der These aus, dass die soziale Arbeit einen großen Anteil an der Versorgung psychisch kranker Menschen – insbesondere in deren Lebenswelt – hat, und das Kohärenzgefühl ein hinreichendes Konzept zur Bewältigung chronisch psychischer Erkrankung darstellt. Vor diesem Hintergrund untersucht sie im zweiten Teil ihres Buches den Zusammenhang zwischen der subjektiven Betroffenenperspektive in Bezug auf die Krankheitsbewältigung und das Kohärenzgefühl.
Grabert bedient sich dabei der qualitativen Erhebungsmethode des problemzentrierten Interviews und wertet das gewonnene Datenmaterial in Form der strukturierenden Inhaltsanalyse aus. Die Personen in der Untersuchungsgruppe leiden an unterschiedlichen psychischen Erkrankungen, u.a. an Schizophrenie und an der Borderline-Persönlichkeitsstörung.
Die Hauptkategorien bilden die drei Komponenten, aus denen sich das Kohärenzgefühl zusammensetzt:
- Verstehbarkeit,
- Bedeutsamkeit und
- Handhabbarkeit,
wobei die ersten beiden Voraussetzungen für die Handhabbarkeit sind. Operationalisiert werden die drei Begriffe durch weitere Unterkategorien, denen Aussagen der befragten Personen zugeordnet und unter dem Aspekt ihrer Bedeutung bezüglich des Kohärenzgefühls analysiert werden.
C Schlussfolgerungen
Die Autorin kommt aufgrund ihrer empirischen Analyse und Ergebnissen anderer Untersuchungen zu dem Schluss, dass das Kohärenzgefühl einen bedeutenden Anteil an der Erhaltung und Wiederherstellung psychischer Gesundheit hat. Von dieser These ausgehend, entwickelt sie konkrete Leitlinien und Maßnahmen für die Soziale Arbeit, die sie jeweils den drei Kategorien Handhabbarkeit, Verstehbarkeit und Bedeutsamkeit zuordnet und ausführlich erläutert.
Zielgruppen
Als Zielgruppe kommen meines Erachtens vor allem Personen in Frage, die sich mit den wissenschaftlichen Fragen der Sozialen Arbeit beschäftigen, sowie jene, die in ihrer Berufspraxis mit dem Kohärenzgefühl arbeiten wollen und hierfür eine Einführung und Praxistipps benötigen. Diese müssen sich aber beim Kauf darüber im Klaren sein, dass hier der theoretische Anteil und die Beschreibung der Durchführung des empirischen Forschungsprozesses viel Raum einnehmen, während der Bezug zur praktischen Arbeit in geringerem Umfang gegeben ist.
Diskussion
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Frage danach, inwieweit das Kohärenzgefühl für die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit – insbesondere chronisch psychisch kranker Menschen – von Bedeutung ist, ist vor dem Hintergrund sich etablierender Ansätze wie der Empowerment- und Recoverybewegung von größter Aktualität. Die Wahl der qualitativen Methode trägt der Fragestellung sicher Rechnung, spannend hätte ich hier auch eine zusätzliche quantitative Erhebung des Sense of Coherence gefunden, um diese mit den qualitativ erhobenen Daten in Beziehung zu setzen und so die Grundthese zu untermauern, insbesondere deshalb, weil in anderen Studien m.W. mit eben einem solchem Instrument gearbeitet wurde.
Die Autorin weist also nach, dass für Menschen mit chronisch psychischen Erkrankungen/Störungen die drei Kategorien, aus denen sich das Kohärenzgefühl zusammensetzt, von großer Bedeutung für die Bewältigung der Erkrankung sind. Über die tatsächliche Ausprägung des Kohärenzgefühls werden aber aufgrund der Methodenwahl keine Aussagen getroffen.
Positiv hervorzuheben ist, dass Grabert die Auswertung den Befragten im Anschluss an ihre Untersuchung vorstellte. Sie begründet dies mit methodischen Aspekten, dieses Vorgehen (Transparenz) wird zugleich auch von der Recovery-Bewegung gefordert, insofern schließt sich hier ein Kreis.
Die Leitlinien und Maßnahmen, die die Autorin aus ihrer Untersuchung ableitet, sind zum größten Teil bereits aus der Literatur zur Sozialen Arbeit mit psychisch kranken Menschen bekannt. Sie stellen aber eine gute Zusammenfassung und Übersicht dar und sollten für psychiatrisch tätige MitarbeiterInnen handlungsleitend sein.
Fazit
Die Autorin untersucht, inwieweit der salutogenetische Ansatz für die Soziale Arbeit mit chronisch psychisch kranken Menschen hilfreich und umsetzbar ist und wählt hierzu eine qualitative Methode. Das Buch "Salutogenese und Bewältigung psychischer Erkrankung. Einsatz des Kohärenzgefühls in der sozialen Arbeit" zeigt nach einer theoretischen Einführung den Ablauf einer Untersuchung im Rahmen der Wissenschaft Soziale Arbeit.
Die von der Autorin aus ihrer Analyse entwickelten Leitlinien und Maßnahmen sind zwar nicht neu. Es kann aber für die praktische Arbeit hilfreich sein, der salutogenetischen Perspektive, wie sie die Autorin in ihrem Buch ausbreitet, mehr Raum zu geben. Zudem ist es erfreulich, das Vorgehen in der Praxis auch durch eine wissenschaftliche Studie bestätigt zu sehen.
Rezension von
Ilja Ruhl
Soziologe M.A.
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