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Michael Schilder: Lebensgeschichtliche Erfahrungen in der stationären Altenpflege

Rezensiert von Volker Gussmann, 28.02.2008

Cover Michael Schilder: Lebensgeschichtliche Erfahrungen in der stationären Altenpflege ISBN 978-3-456-84442-8

Michael Schilder: Lebensgeschichtliche Erfahrungen in der stationären Altenpflege. Eine qualitative Untersuchung pflegerischer Interaktionen und ihrer Wahrnehmung durch pflegebedürftige Personen und Pflegende. Verlag Hans Huber (Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2007. 359 Seiten. ISBN 978-3-456-84442-8. 29,95 EUR.
Reihe: Pflegewissenschaft.

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Autor

Michael Schilder; Prof. für klinische Pflegewissenschaft an der EFH Darmstadt; Dr. rer. medic (Promotion in Pflegewissenschaft), Studium der Pflegewissenschaft (Diplom-Pflegewirt (FH)), Krankenpfleger

Entstehungshintergrund und Thema

Gegenstand des Buchs ist eine Promotionsstudie, in der die Bedeutung der Biografie in stationären Altenpflegeeinrichtungen lebender Bewohner für deren Pflegenden im Pflegealltag untersucht wird. Damit wird das Thema der Biografiearbeit und dessen Verbindung mit konkreten pflegerischen Handlungsabläufen erstmals wissenschaftlich untersucht. Biografiearbeit stellt zwar ein zentrales Thema für die Altenpflege - zumindest in der Theorie - dar, aber es ist anhand wissenschaftlicher Studien unklar, welche Bedeutung die damit verbundene Arbeit für Pflegende hat und wie sie mit der Biografie der Bewohner in konkreten Alltagssituationen wie der morgendlichen Pflege umgehen. Darüber hinaus nimmt dieses Buch auch die Abstimmungsvorgänge der an der Situation der morgendlichen Pflege beteiligten Bewohner und Pflegenden in den Blick. Es wird aufgezeigt, welche Bedingungen in die Aushandlung der Themen dieser Pflegesituation hineinspielen und welche Bedeutung dem lebensgeschichtlichen Hintergrund der Bewohner in diesem Zusammenhang zukommt. Damit wird ein bislang nicht untersuchter bedeutender Praxisbereich erschlossen, der für Praktiker in unterschiedlichen pflegerischen Handlungsfeldern, neben den direkt Pflegenden vor allem auch für Pflegemanager, Lehrende und Lernende in der Pflege und nicht zuletzt für in der externen Qualitätssicherung tätige Personen wichtige Erkenntnisse zur Gestaltung ihrer Aufgaben aufweist (Zielgruppe der Publikation).

Aufbau und Inhalt

Die Arbeit enthält auf der Basis einer Einführung in die Thematik die folgenden fünf Kapitel, welche durch ein umfangreiches Literaturverzeichnis und einen Anhang mit exemplarischen Ergebnissen ergänzt wird:

  1. Entwicklung und Hintergrund der Studie
  2. Die Bedeutung lebensgeschichtlicher Erfahrungen in Interaktionsprozessen in der stationären Altenpflege
  3. Planung und Durchführung der Hauptuntersuchung
  4. Untersuchungsergebnisse
  5. Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse

Im ersten Kapitel "Entwicklung und Hintergrund der Studie" werden die Hintergründe der Themenwahl beleuchtet. Ausgangspunkt der Vorstudie bildet die Fragestellung nach der Bedeutung kulturgebundener und lebensgeschichtlicher Erfahrungen in der stationären Altenpflege. Zur Beantwortung dieser werden 28 teilnehmende Beobachtungen verschiedener Pflegesituationen, 6 qualitative Interviews mit pflegebedürftigen Personen und Pflegenden sowie 6 qualitative Dokumentenanalysen von Pflegedokumentationen und Biografiebögen durchgeführt. Diese erbringen, dass sich zwischen den Akteuren von Pflegesituationen mehr oder weniger an der pflegebedürftigen Person orientierte Abstimmungsvorgänge ereignen, die Pflegenden unterschiedlich viel über das Leben und die Pflegesituation der Bewohner wissen und dass vor allem die Situation der morgendlichen Pflege als ein häufig wiederkehrendes Ereignis im Pflegealltag identifiziert wird, anhand dem die Frage nach der Bedeutung lebensgeschichtlicher Erfahrungen in der Hauptstudie vertiefend untersucht werden soll.

Das darauf folgende Kapitel "Die Bedeutung lebensgeschichtlicher Erfahrungen in Interaktionsprozessen in der stationären Altenpflege" beinhaltet die Literaturstudie, welche den folgenden Themenbereichen gewidmet ist: die Bedeutung der Begriffe Lebensgeschichte, Biografie und lebensgeschichtliche Erfahrungen. Außerdem beinhaltet die Literaturstudie den Forschungsstand zum Pflegeheim als totale Institution, zur Übersiedlung pflegebedürftiger Personen in Pflegeeinrichtungen, zu den Arbeitsbedingungen Pflegender in der stationären Altenpflege, zum biografischen Wissen Pflegender und dessen Stellenwert im Berufsverständnis und zur Biografiearbeit in der Pflege. Diese Ergebnisse der Literaturstudie verdeutlichen die Wissenslücke in Hinblick auf die Bedeutung lebensgeschichtlicher Erfahrungen im Pflegealltag stationärer Altenpflegeeinrichtungen, die in der vorliegenden Arbeit geschlossen werden soll.

Das Kapitel "Planung und Durchführung der Hauptuntersuchung" enthält neben dem theoretischen Bezugsrahmen dieser Studie in Form von Ausschnitten der fördernden Prozesspflege Krohwinkels und des Begriffs der sozialen Situation nach Dreitzel, die sich aus der Fragestellung ergebende methodische Strategie der Untersuchung. In mehreren Wohnbereichen zweier weiterer stationärer Altenpflegeeinrichtungen werden insgesamt 8 Bewohner qualitativ befragt, in 21 Pflegesituationen teilnehmend beobachtet und schließlich 9 Pflegende qualitativ befragt. Außerdem wird die Qualitative Analyse der Daten beleuchtet, die mit der Studie verbundenen ethischen Fragen diskutiert und deren Grenzen herausgestellt. Zahlreiche Abbildungen verdeutlichen die einzelnen Analyseschritte.

Die "Untersuchungsergebnisse" im darauf folgenden Kapitel beziehen sich zuerst auf die Bedeutung, die die befragten Pflegenden der Lebensgeschichte der von ihnen betreuten Bewohner beimessen. Hierzu wird zunächst die Kategorie Wissen über die Lebensgeschichte pflegebedürftiger Personen erläutert. Diese enthält die zum Wissenserwerb identifizierten fördernden und hemmenden Bedingungen im Pflegealltag, die direkten und indirekten Wissensquellen und die Strategien Pflegender zum Erwerb und zum Umgang mit dem Wissen (Informationsarbeit). Des Weiteren wird die Beschaffenheit des biografischen Wissens Pflegender, deren Form, Reichweite und Inhalt, dargelegt. Schließlich werden die mit diesem Wissen verbundenen Bedeutungen (Einstellungen zum Stellenwert des Wissens, (Be)wertung des Wissens, Verwertung und Ergebnis der Einbeziehung des Wissens in pflegerische Handlungsprozesse) dargelegt. Die Ergebnisse in Bezug auf die befragten und beobachteten Bewohner erbringen weiter, dass die Bedeutung lebensgeschichtlicher Erfahrungen für diese darin liegt, auf welche Weise sie mit den eingetretenen örtlichen, sozialen und auf die eigene Person bezogenen Veränderungen umgehen und inwiefern sie diese in einer für sie akzeptablen Weise integrieren. Der Umgang damit und die Adaption an sie gehen mit existentiellen Erfahrungen des Lebens einher. Die von den Pflegenden verliehene Bedeutung zeigt sich weiter darin, wie auf- oder verschlossen sie den mit der Biografie der Bewohner zusammenhängenden Themen in der untersuchten Situation gewesen sind. Diese Ergebnisse werden in Form einer Typologie dargelegt. Diese beschreibt zum einen das Auftreten oder Unterbleiben von Themenabgleiche der Akteure und zum anderen die darauf bezugnehmenden Reaktionen der Bewohner. Die drei Typen des Themenabgleichs lauten:

  1. "Erfolgte Themenabgleiche";
  2. "uneinheitlich erfolgte Themenabgleiche" und
  3. "mehrheitlich nicht erfolgte Themenabgleiche".

Als Endpunkt eines jeden Typus werden Hypothesen formuliert, in denen die im Rahmen dieser Studie identifizierten Bedingungen herausgestellt werden. So erhöht sich die Möglichkeit des Themenabgleichs, wenn Pflegende auf der Basis einer personenorientierten Einstellung über die Kompetenz verfügen, soziale Beziehungen zu pflegebedürftigen Personen auf einer fachlichen Grundlage zu gestalten. Außerdem bringen sie in die Gestaltung von Pflegesituationen personenbezogenes Wissen u. a. in Form von biografischem Wissen ein. An dieser Stelle ist entscheidend, dass Pflegende die an die pflegebedürftige Person gebundene Information nicht allein aus ihrer eigenen Perspektive bewerten, sondern es vermögen, sich flexibel der originären Bedeutung der Bewohner anzunähern und diese mit ihrem fachlichen Hintergrund abzugleichen. Gerade dieser Ausschnitt der Ergebnisse dieses Buches verdeutlicht, dass nicht alleine die Tatsache des biografischen Wissens, sondern vielmehr das Vermögen im Umgang mit diesem von pflegefachlicher Bedeutung ist.

Im letzten Kapitel des Buchs "Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse" werden die Ergebnisse der Studie mit anderen Untersuchungsergebnissen abgeglichen und verdeutlicht, in welcher Weise diese Studie neue Befunde hervorgebracht hat. Zudem werden weitergehende Empfehlungen für die Pflegepraxis und die Pflegeforschung aufgezeigt.

Fazit

Aus meiner langjährigen Erfahrung als Mitarbeiter der Heimaufsicht und als Pflegedienstleiter schätze ich diese Publikation als überaus wertvoll ein. Zum einen deshalb, weil der Forschungsprozess sehr klar, logisch und nachvollziehbar beschrieben ist. So versäumt es der Autor nicht, die einzelnen Entscheidungsschritte transparent zu machen, so dass der Leser in der schrittweisen Erschließung des Untersuchungsgegenstandes "an die Hand genommen wird". Zum anderen - und dies ist für mein beruflichen Handlungsfeld der Heimaufsicht von besonderer Bedeutung - liegen mit diesem Buch äußerst praxisnahe und die Alltagsrealität stationärer Altenpflege exakt widerspiegelnde Befunde vor, die meine Erfahrungen und die meiner Kollegen in der Heimaufsicht bzw. in anderen Arbeitsgruppen bestätigen. Die aufgezeigten Lösungen enthalten daher aus meiner Sicht vielfältige und praxisnahe Hinweise darüber, in welcher Art biografisches Wissen in Verbindung mit weiteren Bedingungen zu einer an den Bedürfnissen und Vorstellungen des zu pflegenden Bewohners orientierten fachlichen Pflege beitragen kann. Die Erkenntnisse weisen eine hohe pflegepraktische Fundierung auf und können in der Verbindung mit dem sozialwissenschaftlichen Zugang zu einer Erweiterung der fachlichen Perspektive beitragen. Ich wünsche daher diesem Buch eine weite Verbreitung.

Rezension von
Volker Gussmann
MSN, Hessische Heimaufsicht, Leiter des Fachbereichs Pflege

Es gibt 1 Rezension von Volker Gussmann.

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Zitiervorschlag
Volker Gussmann. Rezension vom 28.02.2008 zu: Michael Schilder: Lebensgeschichtliche Erfahrungen in der stationären Altenpflege. Eine qualitative Untersuchung pflegerischer Interaktionen und ihrer Wahrnehmung durch pflegebedürftige Personen und Pflegende. Verlag Hans Huber (Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2007. ISBN 978-3-456-84442-8. Reihe: Pflegewissenschaft. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/5764.php, Datum des Zugriffs 02.12.2023.


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