Sebastian Roth: Krisen-Bildung. [...] KriseninterventionshelferInnen
Rezensiert von Prof. Dr. Burkhart Brückner, 31.05.2008
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Sebastian Roth: Krisen-Bildung. Aus- und Weiterbildung von KriseninterventionshelferInnen.
Verlag Dr. Kovač GmbH
(Hamburg) 2008.
448 Seiten.
ISBN 978-3-8300-3537-4.
98,00 EUR.
Reihe: Studien zur Erwachsenenbildung - 28.
Thema und Überblick
Der Titel des umfangreichen Buchs von Sebastian Roth lässt auf den ersten Blick hoffen, dass eine Lücke in der Fachliteratur geschlossen wird. Denn es fehlen wissenschaftliche Untersuchungen über die Inhalte, Lehrpläne und Didaktik in der Ausbildung von Krisenarbeitern. Tatsächlich geht die Dissertation von der Frage aus (S. 2), welche Kompetenzen die Krisenhelfer "in gemeindenahen Kriseninterventionsteams" benötigen. Zudem möchte der Verfasser wissen, "weshalb" die Entscheidung für eine entsprechende Ausbildung und Praxis "eine Entscheidung für alltagsbegleitendes und Lebenslanges Lernen" darstelle. Mit diesen Forschungsfragen solle ein "neues", interdisziplinäres Konzept der einsatz- und lebenslaufbezogenen "Krisen-Bildung" entstehen. Als Sozialarbeiter/Sozialpädagoge sowie Sucht- und Soziotherapeut besitzt Roth eigene Einsatzerfahrungen in einem Kriseninterventionsteam der Bundeswehr.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in drei Teile mit insgesamt neun Kapiteln gegliedert.
Im ersten Teil beschäftigt Roth sich auf 100 Seiten mit der "Theorie der Krisen-Bildung". Nach einer einleitenden Revue verschiedener Krisenbegriffe definiert er Krisen als "Spannungszustände, in dessen Verlauf sich die Vergangenheit im 'Hier und Jetzt' zukunftsgewandt entäußert" (S. 20). Diese sperrige Bestimmung führt zu einer vom Ansatz her interessanten, aber lediglich skizzenhaften "existenzphilosophischen Betrachtung von Krisen". Griffiger ist der folgende Bezug auf Bijan Adl-Aminis "Krisenpädagogik" und auf die "Lernmöglichkeiten, in denen sich Individuen mit gesellschaftlichen, institutionellen, subjektiven als auch persönlichen Krisen und deren kollektiven und individuellen Bedeutung präventiv, begleitend und reaktiv, befassen" (S. 45). Den bekannten Gedanken, Krisen seien Lernchancen, differenziert Roth als "Lernen in, an und von Krisen". Denn "Krisenlernen" in "Grenzsituationen" sei ein "lebenslanges Lernen", das in der Weiterbildung sowohl für das berufliche als auch persönliche Wachstum genutzt werden könne. Allerdings fehlt eine gründliche und systematische Auseinandersetzung mit der kognitiven Bewältigungstheorie und dem life-event-Ansatz, ja überhaupt mit der einschlägigen Stressforschung.
Im zweiten Teil beschreibt der Verfasser auf weiteren 100 Seiten die Arbeit von notfallpsychologischen Teams im Rettungsdienst. Er resümiert deren kurze Geschichte im deutschsprachigen Raum seit 1994, ihre wichtigsten Aufgaben und Prinzipien, und konzentriert sich auf die Situation der ehrenamtlichen Mitarbeiter. Deren Motive und Anforderungen werden anhand der Fachliteratur und eines Ausbildungsplans des Roten Kreuzes verdeutlicht. Dann trägt Roth erste Schlussfolgerungen vor: Er benennt neun Lernfelder (etwa "Umgang mit Belastungen", "Annäherung an das Unfassbare" oder "Handeln in Unübersichtlichkeit auf lockerem Terrain") und erläutert fünf zentrale Kompetenzanforderungen ("Wissensaneignung", "Erweiterung von Fertigkeiten", "Ausbildung einer therapeutischen Haltung", "Hoffnungskompetenz", und "aufgabenbezogene Resilienz"). Diese Eingrenzungen sind plausibel, sie spiegeln gängige und praxisrelevante Arbeitsprinzipien.
Der dritte Teil umfasst eine 2007 durchgeführte,
webbasierte Onlinebefragung von 185
ehrenamtlichen Mitarbeitern in Kriseninterventionsteams aus fast dem
gesamten deutschsprachigen Raum auf 170 Seiten. Die als "Pilotumfrage"
bezeichnete Erhebung sollte die im zweiten Teil gebildeten Hypothesen mit 70
Frageclustern "verifizieren" (S. 221) und weitere Daten über die Ausbildung,
die Kompetenzen und die Zufriedenheit der ehrenamtlichen Helfer liefern. Neben
soziodemographischen Angaben und vorstrukturierten Antwortmöglichkeiten waren
auch offene Antworten vorgesehen, die inhaltsanalytisch erschlossen werden
sollten. So ergeben sich aufschlussreiche Einblicke, unter anderen in die individuellen
Gründe für die notfallpsychologische Arbeit (etwa persönliches Wachstum, Gemeinschaftserleben,
ethische Verpflichtung) ebenso wie Annahmen über die "sinnvollsten Lernsituationen"
("Gespräche mit Betroffenen", "Zusammenarbeit mit KollegInnen", "Überbringen
einer Todesnachricht") oder über effektive Entlastungsmöglichkeiten (etwa kollegiale
Nachbesprechungen, Gespräche mit Lebenspartnern, Supervision). Der
Fragebogen wird im Anhang des Buches abgedruckt.
Der Verfassser bescheinigt den Teilnehmern seiner Studie
"eine stabile Ausprägung des Kohärenzgefühls" (S. 373) samt "hoher
Lernbereitschaft" als Schutz vor Burnout. Die Helfer gewännen durch die
"Herausforderung" der Krisenarbeit eine "tiefere Einsicht in die existenzielle
Bedeutung von Notlagen anderer Menschen" und ein "klares Selbstverständnis".
Die Ausbildung werde insgesamt positiv gesehen, abgesehen von Forderungen
nach besserem Versicherungsschutz und einer gesetzlichen Regelung zur
Freistellung vom Arbeitsplatz und der Fortzahlung nach Verdienstausfällen.
Dabei kommt Roth, wie auch an anderen
Stellen des Buches (z.B. S. 242 f.), auf die spannende, aber schwierige Frage
nach dem systematischen Nutzen von eigenen Krisenerfahrungen der
Mitarbeiter für ihre Arbeit zu sprechen: Die ehrenamtliche Mitarbeit sei durchaus
eine "Bewältigungsmöglichkeit für Menschen mit eigenen Verletzungen",
schreibt er, denn letztere könnten zunächst "kompensiert" und schließlich
"reduziert" werden (S. 375). Der Gedanke ist nachvollziehbar, hätte jedoch analytisch
genauer durchdrungen werden können (Wer stellt fest, ob Eigenerfahrungen ausreichend
verarbeitet und integriert sind, um sie als Qualifikationen nutzen zu
können? Welche Hinweise gibt die Fachdiskussion über sekundäre Traumatisierung,
Einsatznachsorge und Debriefing?).
Fazit
Sebastian Roth versucht, einige grundsätzliche Voraussetzungen für die Konzepte der Aus- und Weiterbildung in Krisenintervention zu klären. Der wesentliche Ertrag ergibt sich aus der Überlegung, was ehrenamtliche Krisenarbeiter inhaltlich lernen sollen und können ("Lernfelder", Komptenzanforderungen) sowie aus der empirisch gestützten Beschreibung, mit welchen Gründen, Inhalten und Zielen sie es de facto tun. Insofern arbeitet Roth impliztes Praxiswissen heraus. Leider werden die gewonnenen Befunde nicht in methodische Anregungen für die Weiterbildungsarbeit umgemünzt. Die Arbeit ist ansonsten klar und differenziert gegliedert, zahlreiche Tabellen und Abbildungen erleichtern das Verständnis. Jedoch hätten Kürzungen bzw. ein gründliches Lektorat dem Text gut getan, zumal der Ladenpreis zu hoch ist. Unter dem Strich stärkt der Entwurf von Sebastian Roth die Fachdiskussion über das Lernen und Lehren von Krisenintervention und resümiert treffend typische Einstellungen und Ausbildungsbedingungen der ehrenamtlichen Mitarbeiter.
Rezension von
Prof. Dr. Burkhart Brückner
Hochschule Niederrhein, Fachbereich Sozialwesen
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