Werner Thole, Hans G. Rossbach et al. (Hrsg.): Bildung und Kindheit (Frühpädagogik)
Rezensiert von Prof. i.R. Dr. Peter Bünder, 05.10.2008
Werner Thole, Hans G. Rossbach, Maria Fölling-Albers, Rudolf Tippelt (Hrsg.): Bildung und Kindheit. Pädagogik der Frühen Kindheit in Wissenschaft und Lehre. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2008. 345 Seiten. ISBN 978-3-86649-154-0. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 49,90 sFr.
Thema
Dieser Herausgeberband präsentiert den Stand der Dinge des aktuellen sozialisations- und bildungstheoretischen Wissens zur frühen Kindheit und gibt Einblicke in den Handlungsbedarf von Politik und Professionen.
Autor/innen
- Prof. Dr. habil. Werner Thole lehrt am Institut für Sozialpädagogik und Soziologie der Lebensalter, Fachbereich Sozialwesen an der Universität Kassel.
- Prof. Dr. habil. Hans-Günther Roßbach lehrt Elementar- und Familienpädagogik an der Universität Bamberg.
- Prof. Dr. pead. habil. Maria Fölling-Albers lehrt Grundschulpädagogik und Grundschuldidaktik am Institut für Pädagogik der Universität Regensburg.
- Prof. Dr. habil. Rudolf Tippelt lehrt Allgemeine Pädagogik und Bildungsforschung am Institut für Pädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Aufbau und Inhalt
Das Buch wird durch zwei Vorworte gerahmt, die von Günter Gerstberger von der mitfinanzierenden Robert-Bosch-Stiftung und Rudolf Tippelt, dem Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, stammen. kann. In der folgenden Einleitung positionieren sich die übrigen drei Herausgeber, indem sie den Aufbau des Buches und die einzelnen Beitrage skizzieren.
- In der ersten Abteilung – Wissen über Kinder und Kindheit – gibt Maria Fölling-Albers in einem ersten Beitrag einen Überblick über den Forschungsstand zu Kindern und Kindheit. Die wesentlichen Veränderungen, die Kinder heutzutage erleben, stellt sie unter der Bezeichnung "Scholarisierung des Kindergartens" vor, wodurch das frühere absichtsfreie Lernen im Spiel mehr und mehr zu einem angeleiteten Lernen wird (S. 37). Es schließt sich ein Beitrag von Marcus Hasselhorn, Martin Lehmann und Cora Tietz aus entwicklungspsychologischer Sicht an. Sie weisen auf, dass die viel beschworenen Bildungsangebote nur dann die erhoffte Wirkung zeigen können, wenn es gelingt, sie entwicklungsangemessen auf die verfügbaren Potenziale der einzelnen Kinder abzustimmen. Der dritte Beitrag dieser Abteilung stammt von Andreas Lange, der eine soziologische Perspektive vorstellt. Er legt ein interdisziplinär offenes Verständnis der Soziologie der Kindheit zugrunde. Aus dem breiten Diskursgeschehen weist er schlaglichtartig auf einige kritische Aspekte hin, die es zu problematisieren gilt. So darf es nicht sein, dass das Kind als Ressource oder Rohstoff gesehen wird, welches in eine angemessene, d.h. verwertbare Form gebracht werden soll. Frühe Bildung darf nicht auf die Nützlichkeit des Einzelnen für die wirtschaftliche Gesamtproduktion reduziert werden.
- In der zweiten Abteilung – welche Bildung wünschen und brauchen Kinder – geben sechs Beiträge aus unterschiedlichen Perspektiven Antworten und Anregungen. Ludwig Liegle beginnt mit einer Überblickdarstellung der (neuen) Aufgaben der Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen im Hinblick auf eine frühpädagogische Didaktik. Liegle versteht Tageseinrichtungen als erste Stufe des Bildungswesens und versucht, eine Klammer zwischen Erziehung, Bildung, Betreuung und Didaktik herzustellen. Fabienne Becker-Stoll thematisiert die theoretischen Grundlagen von frühpädagogischen Ansätzen und Bildungsbegriffen. Sie plädiert dafür, Spiel als wertvolle Aktivität anzuerkennen und alle curricularen Vorstellungen an entwicklungspsychologischen Grundlagen auszurichten. Gerd Schäfer fokussiert auf die Grenzen der pädagogischen Einwirkung und ihrer Folgen. Er weist darauf hin, dass Selbstbildung nicht als "von-selbst-Bildung" missverstanden werden dürfe (S. 138). Vielmehr beziehe sich Selbstbildung auf den Anteil der Selbständigkeit und Partizipation des Kindes innerhalb einer vorgefundenen Lern-Kultur. Lilian Fried beschreibt in ihrem Beitrag eine eigene Pilotstudie zur Entwicklung von Sprachkompetenz mit dem Titel DO-RESI (Dortmunder Ratingskala zur Erfassung sprachentwicklungsrelevanter Interaktionen). In einem fünften Beitrag stellt Detlef Diskowski aus Sicht des Bildungsministeriums in Brandenburg etwas zur Steuerung von Bildungsstandards vor. Hans Rudolf Leu schließlich problematisiert Fragen der Beobachtung von Bildungs- und Lernprozessen in der frühpädagogischen Praxis. Er stellt Arbeitsschritte einer prozessorientierten Beobachtung vor und benennt entsprechende Qualifikationsanforderungen.
- In einer dritten Abteilung – Soziale Ungleichheit, Heterogenität und Differenz – thematisieren vier Beiträge die Probleme einer sich spaltenden Gesellschaft. Peter Büchner arbeitet im ersten Beitrag über die Zugangsproblematik zu hochwertiger Bildung. Für ihn ist eine zentrale Frage, ob es über eine breite Bildungsförderung gelingen kann, der vermeintlichen Schicksalhaftigkeit der Herkunftsfamilie zu entkommen (S. 186). Hannelore Faulstich-Wieland problematisiert den Zusammenhang von frühkindlichen Bildungsprozessen und Geschlechterdifferenz. Sie greift den Gendergedanken heraus, um eine adäquate Begleitung kindlicher Entwicklung leisten zu können. Isabell Diehm bezieht sich in ihrem kurzen Beitrag auf Fragen der Einwanderungsgesellschaft. Sie plädiert dafür, bei Kindern mit Migrationshintergrund nicht wie früher auf eine Ausnahmepädagogik zu setzen, sondern die bestehenden Konzepte Interkultureller Pädagogik umzusetzen. Karl Dieter Schuck schließlich bezieht sich in seinem Beitrag auf Aspekte von behinderten oder von Behinderung bedrohten Kindern. Für ihn steht außer Frage, dass für eine Bildungsoffensive die bestehende Schule ihre Homogenitätsphantasien überwinden muss (S. 213).
- Eine kleine vierte Abteilung – Übergänge produktiv gestalten und bewältigen – umfasst nur zwei Beiträge von Gabriele Faust und Wilfried Griebel. Faust thematisiert zuerst den Übergang von der Kindertagesstätte zur Schule, Griebel anschließend den Übergang von der Familie in die Tageseinrichtung. Beide Autoren favorisieren einen Transitionsansatz, mit dem komplexe, ineinander übergehende uns sich überblendende Wandlungsprozesse beschrieben und erklärt werden können (S.227).
- In der fünften und letzten Abteilung des Buchs – Wissen und "Nicht-Wissen" – Ausblicke – bieten nochmals fünf Beiträge eine Basis für intensive Diskussionen und eventuell Streitgespräche. Hans-Günter Roßbach und Angela Frank eröffnen mit der Frage nach dem Forschungsstand, wobei deutlich wird, dass wir weniger wissen als uns lieb sein kann. So wird zwar beispielsweise der Situationsansatz seit rund dreißig Jahren favorisiert, jedoch ist der Forschungsstand dazu bescheiden zu nennen. Im nächsten Beitrag geht Werner Thole auf das fachliche Potenzial, d.h. die Professionalisierungs-fragen ein. Die Notwendigkeit einer solchen Professionalisierung wird wohl von niemandem bezweifelt. Woran es jedoch mangelt, sind valide Forschungsergebnisse. Thole listet dazu auf, auf welche Aspekte im Rahmen einer Professionalisierungs-offensive fokussiert werden müsste. Der anschließende Beitrag von Matthias Schilling und Thomas Rauschenbach ist geeignet, den größten Sprengstoff für eine Diskussion zu bieten. Mit Hilfe eigener Bedarfsberechnungen weisen sie auf, dass für die von Ursula von der Leyen angestoßenen Bildungsoffensive bis zum Jahr 2013 je nach Berechnung zwischen 33.000 und 50.000 neue Fachkräfte ausgebildet werden müssten. Betrachtet man dazu die Ausbildungsmisere an den Fachhochschulen und das gegebene – als nicht mehr ausreichend abqualifizierte Potenzial der Fachschulen – ist nach Lektüre dieses Beitrags offensichtlich, dass sich hier zwischen Anspruch und Wirklichkeit Abgründe auftun werden. Im vierten Beitrag beschäftigen sich Heinz-Hermann Krüger und Monika Lütke-Entrup mit der Qualität und der Nachfrage von wissenschaftlichen Nachwuchskräften. Dazu haben sie u.a. die Stellenprofile von Setellenausschreibungen in der "Zeit" zwischen Januar 2003 und April 2007 analysiert (S. 319). Die für diesen Zeitraum ausgewiesenen 31 Professuren sind sicherlich wertvoll, hinsichtlich des Qualifizierungsbedarfs jedoch nur einen Tropfen auf den heißen Stein zu nennen. Sonja Adelheid Schreiner wiederum freut sich im letzten Beitrag, dass hinsichtlich der neuen Studiengänge Pädagogik der frühen Kindheit die "Abwehr durchbrochen sei" (S. 329). Die Tatsache, dass nun zumindest in ersten Ansätzen von einer Akademisierung des Fachpersonals der frühen Kindheit gesprochen werden könnte, stimmt sie hoffnungsvoll. Sie lenkt den Blick auf die Frage, wie die noch auf nicht absehbare Zeit unverzichtbaren Fachschulen qualifiziert werden können, um den heutigen Ansprüchen besser zu genügen.
Zielgruppen
Fachkräfte aus Pädagogik und Sozialer Arbeit, die sich einen Überblick über Aspekte früher Erziehung und Bildung verschaffen wollen, sowie die Studierenden der entsprechenden Studiengänge.
Fazit
Es ist ein material- und ideenreiches Buch, welches einen hervorragenden Überblick über die Möglichkeiten, Chancen und Risiken der gewünschten Pädagogik der frühen Kindheit bietet. Es wäre zu wünschen, dass dieses Buch Pflichtlektüre der entsprechenden Politiker/innen auf Landes- und Kommunalebene, Ministerialbeamten und städtischen Bediensteten mit Planungsaufgaben würde.
Rezension von
Prof. i.R. Dr. Peter Bünder
Vormals Hochschule - University of Applied Sciences - Düsseldorf, Lehrgebiet Erziehungswissenschaft am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
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Zitiervorschlag
Peter Bünder. Rezension vom 05.10.2008 zu:
Werner Thole, Hans G. Rossbach, Maria Fölling-Albers, Rudolf Tippelt (Hrsg.): Bildung und Kindheit. Pädagogik der Frühen Kindheit in Wissenschaft und Lehre. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2008.
ISBN 978-3-86649-154-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/5858.php, Datum des Zugriffs 14.09.2024.
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