Beate Schnabel, Mariagrazia Bianchi Schaeffer (Hrsg.): Das interkulturelle Klassenzimmer
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 28.05.2008

Beate Schnabel, Mariagrazia Bianchi Schaeffer (Hrsg.): Das interkulturelle Klassenzimmer. Potentiale entdecken. Anregungen für Lehrerinnen und Lehrer. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2008. 172 Seiten. ISBN 978-3-86099-203-6. 14,90 EUR.
Der erste Blick gilt den Defiziten – und der zweite?
Die Zeiten, wo Lehrerinnen und Lehrer eher mit Erstaunen und Überraschung, als mit einer bewussten Wahrnehmung das Kind, das, vielleicht mit Kopftuch oder einer anderen Hautfarben und Aussehen, plötzlich am Morgen vor dem Klassenzimmer steht, hilflos und verschüchtert mit wenigen Brocken Deutsch, vielleicht auch nur mit einem Zettel in der Hand, Einlass in die Klasse begehrt, sind längst vorbei. In den Klassenzimmern heute, vor allem in den städtischen Schulen, mischen sich Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund und anderer kultureller Herkunft mit Einheimischen. Nicht selten sogar überwiegen in den Klassen, vor allem in den Grund- und Hauptschulen, Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien gegenüber den deutschen Kindern. Doch bei der Benennung stutzt man bereits: Die meisten Kinder mit Migrationshintergrund, die in deutschen Schulen unterrichtet werden, sind in Deutschland geboren und beherrschen ihre Herkunfts- und Muttersprache nur noch rudimentär. Freilich haben sie in nicht wenigen Fällen auch Schwierigkeiten, die deutsche Sprache vollständig zu beherrschen. Das ist die unselige "Defizitschau" im deutschen Bildungswesen. Kinder anderskultureller Herkunft werden im Lern- und Bildungsprozess in der Schule nach wie vor überwiegend mit ihren Schwächen, besonders den deutschsprachigen, wahr genommen. Die curricularen und methodischen Lernplanungen sind in deutschen Schulen nach wie vor monokulturell ausgerichtet. Auf die Veränderungen, die sich durch die immer interdependenter entwickelnde und entgrenzende Welt ergeben, reagieren die Lehrpläne und Rahmenrichtlinien überhaupt nicht oder in unzureichendem Maße. Zwar wird in der gesellschaftlichen Diskussion schon mal der Slogan von den Chancen der kulturellen Vielfalt benutzt, doch in den Klassenzimmern ist diese Auffassung bisher nur durch engagierte Lehrerinnen und Lehrer zu spüren, die dem interkulturellen Lernen eine besondere Bedeutung zumessen. In den Richtlinien und Lehrplänen der Bundesländer ist interkulturelles Lernen als Lern- und Bildungsprinzip nirgendwo verankert, eher dort, wo es sich aus fachspezifischen Gründen anbietet und unausweichlich ist. Zwar hat die Kultusministerkonferenz am 25. 10. 1996 die Empfehlung "Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule" vorgelegt und dabei die schöne und zutreffende Beschreibung geliefert: "Wo sich Menschen unterschiedlicher Sprache, Herkunft und Weltanschauung begegnen, wo sie zusammen leben oder sich auseinandersetzen, verändern und entwickeln sich Weltbilder und Wertsysteme: Kulturen bilden ein sich veränderndes Ensemble von Orientierungs- und Deutungsmustern, mit denen Individuen ihre Lebenswelt gestalten" – doch direkte Auswirkungen dieser Analyse sind am konkreten Lernort, dem Klassenzimmer, nur in Einzelfällen erkennbar. Die Fähigkeit, dem anderen Menschen in seinem (kulturellen) Anderssein wahrzunehmen, zu verstehen und zu akzeptieren, wird mittlerweile mit dem Begriff "interkulturelle Kompetenz" ausgewiesen, und, bezogen auf die Interaktionen, die in einem Klassenzimmer sich vollziehen, als "interkulturelle Kommunikation" benannt.
Herausgeberinnen und Inhalt
Die Frankfurter Soziologin, Sozialpädagogin und Gruppenanalytikerin, Beate Schnabel und die Psychologin und Supervisorin Mariagrazia Bianchi Schaeffer, legen als Herausgeberinnen einen Sammelband vor, in dem sie einerseits eine Reihe von Defiziten bei konkreten Lernanlässen im "interkulturellen Klassenzimmer" aufzeigen, andererseits aber auch auf Möglichkeiten hinweisen, wie dem interkulturellen Bildungsauftrag gerecht werden kann.
- Sie beginnen mit Beate Schnabels "Blick durch’s Schlüsselloch". Es sind Unterrichtsbeobachtungen, aus denen die Autorin ihre Schlüsse zieht und Analysen erstellt. Das nicht selten vorfindbare Problem, dass ein Schüler – er wird hier Mohammad genannt – stört und ein Machoverhalten an den Tag legt; gleichzeitig die Situation, dass an der bevorstehenden Klassenfahrt acht Schülerinnen und Schüler muslimischen Glaubens nicht teilnehmen dürfen, lassen den Lehrer resignieren: "Die Gruppe kann nicht zusammenwachsen". Doch mit Formen der Supervision und der Selbstreflexion lassen sich Lösungen der konfliktträchtigen Situation in der Klasse finden.
- Mariagrazia Bianchi Schaeffer stellt die Erfahrungen und Ergebnisse des Marburger Forschungsprojektes "Weibliche Adoleszenz im interkulturellen Vergleich" vor. Dabei reflektiert sie den "Umgang der Schule mit Migration und Adoleszenz". Sie vermisst in der monokulturell verfassten deutschen Schule Identifikationsangebote für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund und stellt "bei manchen Schülerinnen eine Tabuisierung der Differenz und eine Fragmentierung" fest, was ohne Zweifel die adoleszente Identitätsbildung beträchtlich beeinflusst. Sie fordert strukturelle Verankerungen, die es Jugendlichen mit Migrationshintergrund ermöglichen, Perspektiven für deren schulische Laufbahn zu entwickeln.
- Der Zürcher Ethnologe, Psychoanalytiker und Supervisor, Lehrbeauftragter an der Universität Zürich, Mario Erdheim, diskutiert das Problem, dass im allgemeinen interkulturelle Kommunikation starke Verunsicherungen auslöst: "Mit Angehörigen anderer Kulturen zu kommunizieren… bedeutet immer auch, sich von dem abzulösen, was einem bisher familiär war". Es bedarf also neuer Formen, die sich z. B. in der Theaterarbeit Peter Brooks finden lassen.
- Die Erziehungswissenschaflerin der Philipps-Universität Marburg, Elisabeth Rohr, stellt mehrere Fallbeispiele vor, mit denen interkulturelle Kommunikation durch ethnomethodologische und ethnopsychoanalytische Kommunikationsmittel verdeutlicht werden.
- Die Sozialpädagogin an der Fachhochschule Kärnten, Regina Klein, zeigt in einem Fallbeispiel auf, wie mit Hilfe der Tiefenhermeneutischen Kulturanalyse bzw. der Szenischen Symboltheorie Bildungsprozesse in pädagogischen Situationen ablaufen und Identitätsbildung gelingen kann.
- Die Frankfurter Soziologin Katharina Liebsch reflektiert die allenthalben vorfindbare Erfahrung, dass "Interkulturalität… als ein Miteinander verschiedener Wissenskulturen nicht einfach postuliert und verordnet werden kann, sondern als ein Raum für Neues und Anderes lediglich situativ und personenabhängig realisiert wird". Die Konsequenzen aus dieser neuen Form von Wissensaneignung sind eindeutig und sollten in die Merkbücher der Kultusministerien und Schulaufsichtsbehörden eingetragen werden: Die Notwendigkeit für Lehrerinnen und Lehrer, sich neue, didaktische und methodische Wissensinhalte anzueignen nimmt zu. Lehrerfort- und –weiterbildung fällt nicht vom Himmel, sondern bedarf der institutionellen Strukturierung.
- Mariagrazia Bianchi Schaeffer berichtet über Studien und Forschungsergebnisse zur pädagogischen Konzeption zum Unterricht mit nicht deutschen SchülerInnen. Auffallend dabei, dass in den Untersuchungen kaum die Einstellungen und Haltungen von LehrerInnen zur interkulturellen Erziehung nachgefragt werden. In den vorgestellten Interviews mit Lehrerinnen mit Migrationshintergrund wird deutlich, dass deren Umgang mit den internationalen SchülerInnen sich ambivalent zeigt. Neben Gefühlen der Zugehörigkeit treten auch Irritationen und Aufbegehren auf, deren Auswirkungen auf den Bildungs- und Erziehungsprozess weiter untersucht werden müssen.
- Maria Ringler, Referentin für interkulturelle Bildung bei der Bundesgeschäftsstelle des Verbandes binationaler Familien und Partnerschaften (iaf e.V.) bringt ihre Erfahrungen mit der "Mehrsprachigkeit im Klassenzimmer" ein. Entgegen der lange in Deutschland vorherrschenden pädagogischen und didaktischen Auffassung, dass eine Eingliederung von Minderheiten in eine Mehrheitsgesellschaft ausschließlich über den Erwerb der deutschen Sprache gelingt, relativiert die Autorin diesen Standpunkt: "Die sprachliche Lebenswelt der Zwei- und Mehrsprachigkeit ist … nicht hinderlich für das sprachliche Lernen". Vielmehr werden, so eine Studie von Ingrid Gogolin, durch die Mehrsprachigkeit Potentiale eröffnet, die beim Lernen des Deutschen in der Schule nicht ausgeschöpft werden.
- Die Marburger Soziologin und Gruppenanalytikerin Beatrice Kustor-Hüttl berichtet über Bildungserfolge von Migrantinnen in Deutschland: "Die erfolgreichen Töchter der 2. Generation". Trotz Benachteiligungen und Diskriminierungen gelingt es den Mädchen und jungen Frauen, sich im Bildungssystem zu behaupten und weitergehende Schulabschlüsse zu erwerben. Dass dieser Prozess nicht ohne familiäre und Gruppenkonflikte abläuft, liegt auf der Hand. Auch bei diesem Komplex vermisst die Autorin in der Bildungsforschung akzentuierte Schwerpunktsetzungen.
- Die Aufsatzsammlung wird abgeschlossen mit den "Ansichten eines deutsch-türkischen Rappers" (Steryo C.E.M.); ein für analytisches, reflexives, individuelles und kollektives (kollegiales) Nachdenken interessanter Text darüber, wie im "interkulturellen Klassenzimmer" Bildungs- und Erziehungsprozesse realisiert werden können.
Fazit
Die Kultusministerkonferenz der Länder (KMK) hat, in Kooperation mit dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) im Juni 2007 den "Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung im Rahmen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung" vorgelegt. Dort wird der Bildungsauftrag "Interkulturelles Lernen" weiter entwickelt zum Konzept "Globale Bildung und nachhaltige Entwicklung". Kinder und Jugendliche sollen "zukunftsorientierte Kompetenzen für ihre eigene Lebenswelt und ihre beruflichen und gesellschaftlichen Perspektiven erwerben. Dazu gehören Weltoffenheit, Sprachkenntnisse, Verständnis fremder Kulturen und Mobilitätsfähigkeit. Es ist zu hoffen, dass diese KMK-Empfehlung erfolgreicher in den deutschen Bildungseinrichtungen ankommt als die vorausgegangenen. Der (schulische und außerschulische) interkulturelle Blick ist auch ein psychologischer und psychoanalytischer. Deshalb ist auch der Sammelband "Das interkulturelle Klassenzimmer" ein Baustein für das gemeinsame Haus "Eine Welt" und die Fähigkeit, dass die Menschen sich darin gemeinsam sicher, kompetent und friedlich fühlen können.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 28.05.2008 zu:
Beate Schnabel, Mariagrazia Bianchi Schaeffer (Hrsg.): Das interkulturelle Klassenzimmer. Potentiale entdecken. Anregungen für Lehrerinnen und Lehrer. Brandes & Apsel
(Frankfurt) 2008.
ISBN 978-3-86099-203-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/5937.php, Datum des Zugriffs 09.12.2023.
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