Meral Renz: Sexualpädagogik in interkulturellen Gruppen
Rezensiert von Prof. Claudia Roth, 09.07.2008

Meral Renz: Sexualpädagogik in interkulturellen Gruppen. Infos, Methoden und Arbeitsblätter. Verlag an der Ruhr (Mülheim an der Ruhr) 2007. 199 Seiten. ISBN 978-3-8346-0335-7. D: 22,00 EUR, A: 22,60 EUR, CH: 38,50 sFr.
Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-8346-3548-8 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.
Thema
Die vorliegende Publikation nähert sich dem Thema Sexualität aus interkultureller Sicht an und hat folgende Ziele im Blick
- sie will sich dem Thema Sexualität behutsam zuwenden,
- Schamgrenzen nicht überschreiten und
- aufklären, ohne Tabus zu verletzen.
Die Annäherung findet über einen spielerischen Zugang statt: Durch Übungen, Körper- und Sexualaufklärung, schematische Abbildungen, diverse Quizfragen, sachliche Informationen und ansprechende Geschichten. Sexualität und deren Bedeutung für die Identifikationsbildung von Jugendlichen und deren Lebensplanung werden besprochen. Sämtliche Themen werden aus interkultureller Sicht (vorwiegend aus dem des muslimischen Kulturkreises) betrachtet und pädagogisch aufbereitet.
Entstehungshintergrund
Eine Redakteurin des Verlags an der Ruhr wurde durch einen Fachartikel von Frau Renz auf den Bedarf eines Arbeitbuches zum Thema interkulturelle Sexualpädagogik aufmerksam und fragte die Autorin an, diese Lücke zu füllen. In vierjähriger Arbeit entstand ein praxisnahes Arbeitsbuch für Lehrkräfte und Professionelle der Sozialen Arbeit. Der Autorin waren insbesondere die Beachtung der unterschiedlichen kulturellen Lebenswelten und der Einbezug dieser Verschiedenheiten in der sexualpädagogischen Arbeit ein Anliegen.
Aufbau und Überblick
Das 200 Seiten umfassende Werk gliedert sich nach einer kurzen Einleitung in vier Kapitel
- Sexualität, Sprache und Kommunikation
- Begegnungen mit dem Fremden/Anderssein
- Körper- und Sexualaufklärung
- Sexualität und Lebensplanung
In der Einleitung findet eine Erläuterung der Bezeichnung "interkulturelle Sexualpädagogik" statt, insbesondere wird der Begriff "interkulturell" hergeleitet und anhand verschiedener Schnittstellen (Kulturdifferenz, Fremdbilder, Machtasymmetrie und Kollektiv-Erfahrungen) anschaulich verdeutlicht. Interkulturell kompetente Pädagoginnen und Pädagogen weisen sich durch Wissen, Haltungen und Fähigkeiten an diesen vier Schnittstellen aus, wenn sie interkulturelle sexualpädagogische Arbeit anbieten.
Die sexualpädagogischen Materialien werden anhand der oben genannten vier Kapitel vorgestellt. Einige gruppenpädagogische Regeln und konkrete Empfehlungen für die Arbeit mit Eltern mit Migrationshintergrund werden angeboten. Es folgt eine umfangreiche Materialsammlung mit Arbeitsblättern und Übungen zur interkulturellen Sexualpädagogik. Zu Beginn der Kapitel werden wesentliche Überlegungen und interkulturelle Besonderheiten zum jeweiligen Thema komprimiert vorgestellt.
1. Sex und Sprache
Generell ist der sprachliche Umgang in der Sexualpädagogik ein interessantes und wichtiges Thema. In diesem Kapitel wird die Bedeutung der verbalen und nonverbalen Kommunikation besprochen, wobei die Besonderheiten der Jugendlichen mit Migrationshintergrund berücksichtigt werden, z.B. Viel- oder Zweisprachigkeit, Tabuthemen beim Sprechen über Sexualität und Aufklärung, verbale und nonverbale Scripts, verschiedene Sprachbereiche etc. (z.B. die Unterschiedlichkeiten bei sexuellen Themen in der deutschen und türkischen Sprache). Es folgen diverse altersgerechte Übungen, sei es als Rate-, Quiz-, Kennenlernspiele oder Partnerübungen, die einerseits den verbalen Zugang auf unterschiedlichen Ebenen ermöglichen und andererseits die nonverbale Kommunikation thematisieren.
2. Begegnungen mit dem Fremden/Anderssein
Als Hauptziel der interkulturellen Sexualpädagogik wird die Erziehung zur Toleranz benannt. Diese beginnt zunächst mit der Schwierigkeit, sich in einer Gruppe auf eine gemeinsame Definition zu einigen, um sich dann mit gängigen Vorurteilen auseinander zu setzen (die sich in der Kommunikation widerspiegeln). Als geeignete Methode gilt der so genannte Perspektivenwechsel, der die Empathiebildung und somit auch die Toleranz unter Jugendlichen fördern kann. Dieser wird durch unterschiedliche Herangehensweisen (Partnerinterview, Ballonreise, Geschichten, Quizfragen, Biografiearbeit etc.) ermöglicht.
3. Körper- und Sexualaufklärung
In diesem Kapitel wird auf die Bedeutung der geschlechtergetrennten Aufklärung hingewiesen. Themen, die Jugendliche mit muslimischem Hintergrund insbesondere interessieren, sind: Sexualnormen (die muslimischen – die deutschen), Aufklärung (klassische Sexualaufklärung; Bedeutung des Hymen, der Beschneidung; Verhütung; HIV/Aids etc.). Im Übungsteil wird diverses Hintergrundwissen aufbereitet und jugendlichengerecht angeboten. Diverse Quizfragen am Ende des Kapitels dienen zum Abschluss dieses Themenkreises.
4. Sexualität und Lebensplanung
Im vierten und letzten Kapitel werden die Teile der Lebenswelten der jungen Migrantinnen und Migranten vorgestellt und beschrieben. Es geht zunächst um Verständnis seitens der Pädagoginnen und Pädagogen, da sich diese Lebenswelten in den Einstellungen der Jugendlichen im Hinblick auf Sexualität und Lebensplanung widerspiegeln. Die Bedeutung des Familienzusammenhaltes und die emotionale Bindung an die Herkunftsfamilie spielt für Jugendliche mit Migrationshintergrund eine grosse Rolle, so dass die Orientierungen an familialistischen Werten zuweilen in Widerspruch stehen mit den gesellschaftlichen (eher individualistisch geprägten) Werten. Das Phänomen des Familialismus beschreibt das hohe Mass an familiärem Zusammenhalt und eine Orientierung an familiären und weniger an individuellen Interessen. Die interkulturelle Sexualpädagogik soll Jugendlichen mit Migrationshintergrund Möglichkeiten anbieten, sich eine Meinung bilden zu können zu Themen wie Heirat, Identität, Partnerschaft und Geschlechtsrollen (wohl wissend, dass unter Umständen bereits diese Auseinandersetzung als zu individualistisch wahrgenommen wird).
Die Arbeitsblätter beginnen mit der Auseinandersetzung zu Traummann, Traumfrau und mit Heirat. Der Themenkreis "Heiraten" wird mit Hintergrundwissen zu Heiratsritualen aus verschiedenen Kulturkreisen angereichert. Lebensplanung erfolgt aus verschiedenen Perspektiven, wobei auch Homosexualität thematisiert wird (Interview mit einem schwulen jungen Erwachsenen, Memduh A. – aus Geschlechterperspektive wäre ein lesbisches Pendant angebracht gewesen).
Zielgruppen
Das vorliegende Werk "Sexualpädagogik in interkulturellen Gruppen" ist ein Arbeitsbuch mit komprimiertem Fachwissen und schliesst tatsächlich eine Lücke im Bereich der sexualpädagogischen Materialien und dies sehr kompetent. Ein anregendes, praxisnahes Arbeitsbuch für (Sozial-)Pädagoginnen und Pädagogen sowie Lehrpersonen, die Sexualpädagogik anbieten und zugleich dem Anspruch der interkulturellen Lebensweltorientierung gerecht werden wollen. Es wird beiden Themenkreisen Migration und Sexualität durchgängig gerecht.
Fazit
Es liegt ein umfassendes praktisches Übungsbuch mit sexualpädagogischen Anregungen vor, das sehr dem Anspruch der Interkulturalität gerecht wird. Die Übungen und Angebote sind thematisch strukturiert und sofort anwendbar. Im Anhang findet man diverse Kopiervorlagen und Lösungen der verschiedenen Aufgabenstellungen und Quizversionen. Die Literaturliste verweist auf weiterführendes interkulturelles Wissen, auf Filme, die das Thema der Migration und/oder Sexualität aufgreifen und auf diverse Internetadressen.
Wer sich mehr interkulturelles Hintergrundwissen wünscht (denn gerade dieses Wissen hebt ja den interkulturellen Charakter hervor und betont den besonderen Fokus für die sexualpädagogischen Arbeit) wird fündig bei der mehrfach zitierten Forschungsarbeit von Boos-Nünning, Ursula/Karakasoglu, Yasemin (2004): Viele Welten leben. Lebenslage von Mädchen und jungen Frauen mit griechischen, italienischem, jugoslawischem, türkischem und Aussiedlerhintergrund. Hg. vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Rezension von
Prof. Claudia Roth
Website
Mailformular
Es gibt 4 Rezensionen von Claudia Roth.
Zitiervorschlag
Claudia Roth. Rezension vom 09.07.2008 zu:
Meral Renz: Sexualpädagogik in interkulturellen Gruppen. Infos, Methoden und Arbeitsblätter. Verlag an der Ruhr
(Mülheim an der Ruhr) 2007.
ISBN 978-3-8346-0335-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/5987.php, Datum des Zugriffs 28.03.2023.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.