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Alexandra König: Kleider schaffen Ordnung

Rezensiert von Prof. Dr. Uwe Rabe, 17.12.2008

Cover Alexandra König: Kleider schaffen Ordnung ISBN 978-3-89669-623-6

Alexandra König: Kleider schaffen Ordnung. Regeln und Mythen jugendlicher Selbst-Präsentation. UVK Verlagsgesellschaft mbH (Konstanz) 2007. 329 Seiten. ISBN 978-3-89669-623-6. 34,00 EUR. CH: 57,00 sFr.
Reihe: Sozialwissenschaften.

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Thema

Weil das Leben eine Bühne ist, werden dort Rollen gespielt. Nachdem die festgeschriebenen Rollen der festgeschriebe­nen Gesellschaften früherer Zeiten nach deren Auflösungen diffundiert scheinen, müssen neue Regisseure her: In Erman­gelung einer höheren Macht wollen wir uns selber inszenie­ren. Wir sehen uns als die Regisseure unserer eigenen Stücke, in denen wir auch selber die Hauptrollen spielen. Als „Spiele der Er­wachsenen“ sind diese Phänomene hinreichend beleuchtet und unter den Überschriften Individuali­sierung und Pluralisierung subsumiert.

Ob das bei den zukünftigen Erwachsenen genau so aussieht, ist schwer zu sagen, weil die Jugend dem Forschungsspektrum der Erwachsenen  entglitten scheint: Wir Älteren erhalten allenfalls gut gemeinte Antworten auf unsere Fra­gen, ungeachtet der Tatsache, dass diese Fragestellungen den Interessenshorizont und womöglich auch den  Rollenrah­men der Befragten allenfalls tangieren, aber nicht umfassen.

Wenn wir mehr wissen wollen, sollten wir uns, plakativ ausgedrückt, mit der „Jugend als dem unbekannten Wesen“ beschäftigen, weil unsere Erfah­rungen mit Jugend nicht mehr einschlägig sind: die Tatsache, dass wir selber einmal Jugendliche waren, bedeutet nicht, dass wir über heutige Jugendliche relevante Aussagen ma­chen können, weil die Parameter, nach denen sich Jugend generiert, aufgelöst zu haben scheinen: Es ist nicht mehr so, dass wir Erwachsenen öffentlich festlegen dürften, wie sich Jugend entwickeln würde. Statt dessen müssen wir feststellen, dass sich Jugend selber zu inszenieren scheint – und ohne einen geeigneten Zugang wissen wir  nicht, nach welchen Kriterien. Das ist mit Sicherheit schmerzlich, weil das zumindest  parti­ell die  Anerkenntnis ist, dass  uns die Jugend nicht nur als Forschungsgegenstand entgleitet.

Weil wir aber zumindest wissen wollen, wie sich Jugend ent­wickelt, müssen wir nach Anhaltspunkten suchen, die uns zeigen, dass sich in der Jugend etwas entwickelt. Und auch wollen wir wissen, nach welchen Kriterien diese Inszenierung sich vollzieht. Dazu müssen wir „ins Feld“ und den Jugendlichen „aufs Maul schauen„: Sie selber zu Wort kommen lassen und ihre  Gespräche analysieren.  Vielleicht kommen wir dann ja zu dem Ergebnis, dass Individualisierungen und Pluralisierungen  in engen gesellschaftlichen Korridoren stecken,  dass die  scheinbar grenzenlosen Freiheiten einer offenen Gesellschaft von  Strukturen sozialen Zwangs eingefasst sind.

Das zumindest ist das zentrale Ergebnis des zur Rezension anstehenden Buches.

Sein programmatischer Titel spielt mit den Konnotationen zur Kleiderordnung und zu Gottfried Kellers Roman „Kleider machen Leute“. Womöglich spielen auch des Königs neue Kleider noch mit hinein. Es geht um die Entdeckung und Be­schreibung methodischer Züge der (Selbst-)Identifikation von Jugendlichen. Nach der Lektüre wird man erfahren ha­ben, dass die Inszenierung von Jugendlichen auch über die Kleidung geht, über den Geschmack. Und man wird erfahren haben, dass diese Inszenierung entgegen aller Zuschreibung von Individualisierung in einer offenen Gesellschaft be­stimmten Zwängen unterliege: Die Aneignung eines spezifi­schen Habitus sei eine Frage von Klassenzugehörigkeit.

Zielsetzung und Entstehungshintergrund

Das Ziel der Arbeit ist es, herauszufinden, wie denn das von Jugendlichen praktizierte „vestimentäre Handeln“ – so nennt die Autorin den Erwerb  von Regeln und Vorlieben bei der Kleidung - gleichzeitig die Übernahme gesellschaftlicher Normen und damit die Klassenzugehörigkeit des Trägers dokumen­tiert, festlegt und verfestigt. 

Die vorliegende Arbeit ist die Druckfassung einer Dissertati­on  an der FernUniversität Hagen und trägt   als eine Insignie der Wissenschaftlichkeit die klassische Fußnotenlastigkeit auf den Markt.

Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fernu­niversität Hagen. Sie beschreibt ihren Forschungsgegen­stand in den Schlussbetrachtungen des Buches: " Das Hauptaugenmerk … richtet sich … auf die Realisierun­gen  … und belegt so die Positionsgebundenheit der Realisie­rungen." (301) Als Ergebnis ihrer Forschungsarbeit stellt die Autorin fest: "Der Geschmack, die Selbst-Präsentation sind Merkmale so­zialer Ungleichheit – gebunden an Kapital…" (307)

Aufbau

Nach einer Einleitung erläutert die Autorin im ersten Teil die theoretische Grundlegung  ihres Forschungsvorhabens. Im zweiten Teil (es handelt sich um eine empirisch angelegte Arbeit) lässt sie Jugendliche zu Wort kommen, die sie nach ihren Kleidungsvorlieben befragt hat und an deren Antworten sie zu Grunde liegende soziale Rituale  erkennt. Im Abschluss resümiert sie die Ergebnisse in den „Schlussbetrachtungen“.

Einleitung

Geschmack wird als soziale Kategorie beschrieben und Klei­dung als Element sozialer Ordnung. Jugendliche übernehmen klassenspezifische Kleiderordnungen  und transformieren diese in scheinbar bloß individuelle Selbstpräsentation. In Wahrheit leben sie so ihre Klasse. König orientiert sich an Bourdieus Kulturtheorie. Weil diese aber nicht mehr das „Wie“ beleuchtet, benutzt die Autorin Goffmans doch schon etwas angejahrte Theorie der „Selbstpräsentation im Alltag“ um aus der Beschreibung des Vollzugs und des Prozesses eine wissenschaftlich tragbare Erklärung abzuleiten.   

Teil 1 Theoretische Grundlegung des Forschungsvorhabens

Kapitel 1: Jugend wird als richtig als gesellschaftliche Konstruktion ge­sehen. Die Bedeutung von „Mode“ wird an Hand von „Bravo„-Untersuchungen herausgearbeitet.

Kapitel 2: In der Jugendsoziologie findet die Autorin keinen handhabba­ren Ansatz, um die von ihr vermuteten unterschiedlichen sozialen Wertigkeiten unterschiedlicher Modestile zu klassifizieren. Den sucht sie woanders. 

Kapitel 3: Sie bezieht sich  auf  Bourdieus Kulturtheorie und arbei­tet im Anschluss an diesen in der Unterscheidung von legiti­mem und populärem Geschmack den Geschmack als Klas­senschranke aus. Das „Wie“ dieses Aneignungsprozesses entwickelt sie im Anschluss an Goffman als gemeinsamen Auftritt einer Gruppe aus.

Kapitel 4: Sie diskutiert die Auswahl ihrer empirischen Verfahren, mit denen sie das implizite Wissen von Jugendlichen erforschen will, um den Strukturen dieser klassenspezifischen Aneig­nungsprozesse auf den Grund  zu gehen.

Kapitel 5: Dazu greift sie in einem an Elias angelehnten historischen Rekurs auf die Entwicklung vestimentärens Handeln vergan­gener Gesellschaften   zurück und zeigt einen Entwicklungs­prozess auf, an dessen Ende der uns nur zu bekannte Wunsch der Darstellung von Authentizität steht – die schein­bare Auflösung von Klassenschranken und Barrieren.

Teil 2: Kleidungsverhalten aus der Sicht der befragten Jugendlichen

Die Autorin versteht den zweiten Teil ihrer Arbeit als Kern ih­res Vorhabens. Hier beschreibt sie – gestützt auf die Auswer­tung der Interviews – die jugendliche Praxis der Aneignung eines bestimmten Kleidungsbildes, das ein ebenso bestimmtes Gesellschaftsbild reproduziert.

Kapitel 6: Gezeigt wird mit Bezug auf Simmel die verdeckte Nachahmung, die die scheinbar originäre Sebstprä­sentationen reguliert.

Kapitel 7: Eine kurze Entwicklungsgeschichte des jugendlichen Geschmacks: Die unterschiedlichen Vorstellungen vom „Ich“ zwi­schen Wandel und Konstanz werden beschrieben. Das sind die Vorüberlegungen zu einer Typologie der Selbstprä­sentation, auf die das Ganze zu läuft .

Kapitel 8: Unterschiedliche sozialen Orte zwi­schen Elternhaus, Schule und Clique begleiten und determinieren die Entwicklung des vestimentären Handelns: Welche Möglichkeiten und Widerstände rahmen den Prozess?.

Kapitel 9: Langsam geraten die Ordnungsprinzipien der Selbstdar­stellung durch Kleidung in den Blick: Generation, Geschlecht und Klasse. Kapital wird im Anschluss an Bourdieu als „Transformation ökonomischen Kapitals in kulturelles, in soziales, in symbolisches und in  Körperkapital“. (238ff.)

Kapitel 10: Während die Selbstdarstellung der anderen als Zusammenspiel zwischen Aussehen und sozialer Position begriffen wird, scheint sich dieser Prozess hinter den Rücken des einzelnen abzuspielen als informeller Sozialisationsprozess über die Kleidung und über den Geschmack, dessen Klassencharakter die Autorin mit Bourdieu gegen alle Einwände für evident hält, auch wenn sie den Auswahlprozess letztlich für unerklärbar hält und auf  die in solchen Fällen häufig benannte „black box“ verweist.

Kapitel 11: Fünf typische Muster des vestimentären Handelns seien durch die Diskussion der Literatur erkennbar geworden und könnten durch die Analyse der Interviews belegt werden:

Zwei typische Hochschulklassen-Strategien (Geschmacksadel und Selbstfinder), zwei noch indifferente (souveräne Bastler und ängstlich Bemühte) und einer Loser-Kategorie (Desinteressierte), die in ihrer Kleidungsauswahl und in ihren Vorlieben den Strukturen des 18 Jahrhunderts folgen, einer Zeit der „wachsenden Bedeutung der Kleidung als Ordnungselement einer unübersichtlich erscheinenden sozialen Welt“ (302).

Schlussbetrachtungen

Als Ergebnis betont sie „die Bedeutung der Kleidung als Ordnungselement einer unübersichtlich erscheinenden Welt“ auch und besonders für Jugendliche (302).

Diskussion

Das große Verdienst der vorliegenden Arbeit ist der Nachweis von Beschränkungen des vestimentären Handelns durch die soziale Schichtung. Das „Ich ziehe an, was ich will“ wird als ideologische Überformung von spezifischen Determinanten entlarvt. Das ist eine mutige Position, die von der Autorin konsequent durchgehalten wird und für die sie theoretische Absicherung unter anderem bei Bourdieu, Simmel, Elias und Goffman findet. Damit führt sie unterschiedlichste soziologische Positionen geschickt zusammen. Gleichzeitig kann sie diese Positionen in der Analyse der Gespräche und Interviews von Jugendlichen belegenuntermauern. 

Zusätzlich bietet die Arbeit noch eine interessante Typologie zu fünf unterschiedlichen Formen jugendlicher Selbstdarstel­lung,, mit deren Hilfe spezifische Handlungsmuster aus bestimmten Kleidungsvorlieben herausgelesen werden können. Das ist mit Sicherheit viel mehr als von einer Dissertati­on gemeinhin erwartet werden kann.

In so weit sind Einwände auch cum grano salis zu werten. Dennoch seien einige  stichwortartig genannt:

  • Bei der Analyse der Erkenntnisse der Jugendforschung wird nicht weit genug ausgeholt; der Bezug auf wichtige einschlägige Un­tersuchungen und Erhebungen unterbleibt. Das ist bedauerlich, weil eine Diskussion der letz­ten Shell-Studien (hier wird nur auf die von 1981, 1985 und 1992 zurückgegriffen) und der letzten Kinder- und Jugendbe­richte der Bundesregierung der Arbeit weiteres Daten­material hätten verschafft haben können, mit der die Argumentation noch differen­zierter hätte erfolgen können.
  • Dieser Bezug hätte der im letzten Kapitel vorgestellten Typologie  interessante Parallelisierungen und Gegenüberstellungen ermöglicht.
  • Die von der Autorin bevorzugte Bildsprache verhüllt gelegentlich den Zugang zu Ursache und Wirkung vestimentären Handelns: dokumentiert und veröffentlicht die Kleidung die Schichtzugehörigkeit des Trägers oder wir diese durch die Kleidungsauswahl erst festgelegt? 
  • Der für die Argumentation elementare Kapitalbegriff wird nicht ausreichend entwickelt: In welcher Relation stehen Kapital und Arbeit (im Bezug auf Herrschaft, auf den Zugriff auf gesellschaftliche Ressourcen, auf das allgemeine Äquivalent des Geldes)?
  • Der Klassenbegriff bleibt diffus („die unteren Klassen“ S.267).
  • Die Autorin sieht einen gesellschaftlichen Kampf (S.277). Aber ist  das der Klassenkampf oder doch eher Honneths“ Kampf um Anerkennung“?
  • Ist die Kleidung das Ordnungsprinzip oder ist sie das Äußerliche?
  • Wie repräsentativ sind die Antworten der befragten Jugendlichen? Für wen können Hauptschülerinnen und Hauptschüler auf der einen und Angehörige einer kirchlichen Privatschule auf der anderen Seite sprechen, wenn die Mehrheit der deutschen Jugendlichen ein öffentliches Gymnasium (einer Großstadt) besucht?

Fazit

Die Untersuchung der Hintergründe der Kleidungsrituale von Jugendlichen war tatsächlich ein Desiderat der Jugendsoziologie, eine Lücke, die mit der vorliegenden Arbeit kleiner geworden ist. Man möchte der Autorin wünschen, im größeren Rahmen weiter zu forschen.

Das Buch ist allen zur Lektüre empfohlen, die mit Jugendlichen umgehen müssen und nach Orientierungen suchen, wie denn in einer Gesellschaft der Optionen, der Chancen und Möglichkeiten die  Chancenlosigkeit von Vielen erklärbar ist. sie können hier nachvollziehen: Kleider machen zwar nicht Leute; aber die Kleidungsrituale der Jugendlichen sind nur „a new skin for the old ceremony“ oder -  etwas weniger prägnant -  alter Wein in neuen Schläuchen.    

Rezension von
Prof. Dr. Uwe Rabe
ehemaliger Professor für Erziehungswissenschaft an der FH Münster
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Es gibt 19 Rezensionen von Uwe Rabe.

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Zitiervorschlag
Uwe Rabe. Rezension vom 17.12.2008 zu: Alexandra König: Kleider schaffen Ordnung. Regeln und Mythen jugendlicher Selbst-Präsentation. UVK Verlagsgesellschaft mbH (Konstanz) 2007. ISBN 978-3-89669-623-6. Reihe: Sozialwissenschaften. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/5996.php, Datum des Zugriffs 24.01.2025.


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