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Claudia Daigler: Biografie und sozialpädagogische Profession

Rezensiert von Prof. Dr. Esther Forrer, 29.05.2009

Cover Claudia Daigler: Biografie und sozialpädagogische Profession ISBN 978-3-7799-1225-5

Claudia Daigler: Biografie und sozialpädagogische Profession. Eine Studie zur Entwicklung beruflicher Selbstverständnisse am Beispiel der Arbeit mit Mädchen und jungen Frauen. Juventa Verlag (Weinheim) 2008. 268 Seiten. ISBN 978-3-7799-1225-5. 26,00 EUR. CH: 45,60 sFr.
Reihe: Edition Soziale Arbeit.

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Thema

In der Publikation „Biografie und sozialpädagogische Profession“ werden im Rahmen einer empirischen Studie zwei bislang noch kaum zusammen gedachte Ansätze – die Professionalisierungsdebatte auf der einen Seite und die Biographieforschung auf der anderen Seite – zueinander in Beziehung gesetzt. Hierzu werden Biographien von ostdeutschen Frauen, die als Professionelle im Arbeitsfeld der Mädchenarbeit tätig sind, ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Von Interesse ist dabei, wie und an welcher Stelle Professionelle aus der Retrospektive Zusammenhänge zwischen eigenen biographischen Erfahrungen und ihrem beruflichen Selbstverständnis herstellen. Der methodische Zugriff erfolgte über eine lebensgeschichtliche Erzählung. Dadurch, dass ostdeutsche Frauen befragt wurden, bewegt sich die Studie zudem an der Schnittstelle zwischen Geschlechter- und Transformationsforschung.

Die vorliegende Forschungsarbeit zielt auf eine Verbindung von biographieanalytischen Ansätzen mit Professionsfragen der Mädchenarbeit, respektive von Biographieforschung mit praxisforschenden Ansätzen der feministischen Sozialforschung. Ferner will die Studie sowohl eine Lücke in der Mädchenarbeitsforschung in Ostdeutschland schliessen als auch den Ost-West-Dialog in der Jugendhilfe fundieren.

Im Zentrum der Arbeit steht die Frage, „… wie Pädagoginnen Person und Professionalität auf dem Hintergrund der Erfahrung eines gesellschaftlichen Zusammenbruchs und dessen biografischer Bewältigungsnotwendigkeit und bezogen auf die Auseinandersetzung mit Geschlechterverhältnissen und –entwürfen verknüpfen, …“ (S. 68).

Autorin

Claudia Daigler, Dr. rer. soc., ehemals Diplom-Sozialarbeiterin (FH) und Diplom-Pädagogin, arbeitet derzeit als Jugendhilfeplanerin im Jugendamt Stuttgart und ist Lehrbeauftragte am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Tübingen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Geschlechter- und Biographieforschung, chancenarme Jugendliche im beruflichen Übergang, kommunales Übergangsmanagement und Jugendhilfeplanung. Die vorliegende Publikation wurde 2006 an der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaft der Universität Tübingen als Dissertation angenommen.

Aufbau, Inhalte und Gliederung

Das Buch ist in sechs Kapitel gegliedert. In einem ersten Kapitel werden die theoretischen und empirischen Grundlagen des Themas dargelegt. Im zweiten werden methodologische Überlegungen und das methodische Vorgehen erörtert. Daran anschliessend wird im dritten Kapitel die Rekonstruktion von drei Einzelfällen nachgezeichnet. Im vierten Kapitel sind die Fälle im Vergleich dargestellt. Im fünften Kapitel wird eine Zusammenschau der empirischen Ergebnisse unter den leitenden Forschungsfragen präsentiert und im sechsten Kapitel schliesslich eine Bilanz gezogen und ein weiterführender Ausblick formuliert.

  1. Im ersten Kapitel legt Claudia Daigler die theoretische Basis ihrer Forschungsarbeit dar, indem sie theoretische Ansätze und Erkenntnisse der Professionalisierungsforschung, Geschlechterforschung, Biographieforschung und Transformationsforschung darlegt und daraus Desiderate bzw. Forschungsfragen ableitet. Es sind dies etwa folgende Fragestellungen: Wie und zu welchem Zeitpunkt wird die Kategorie “Wende“ erwähnt und welche Biographie strukturierende Bedeutung kommt dieser zu? Wie werden Entwicklungs-, Wandlungs- und Brucherfahrungen beschrieben und wie werden die Kategorien „Ost“, „Geschlecht“ und „professionelles Verständnis“ miteinander verbunden? Wie und wann wird der eigene ostdeutsche Hintergrund erwähnt? Welches Verständnis von Frau-Sein und Frauenpolitiken wird erwähnt und inwiefern wurde dieses durch die sozialistische Tradition beeinflusst? Wie wird die Mädchenarbeit beschrieben und welche Handlungsprobleme werden thematisiert?
  2. Das zweite Kapitel gliedert sich in methodologische Überlegungen und methodisches Vorgehen sowie in die Dokumentation des Forschungsprozesses. Methodologischer Rahmen der Studie bildet die biographieanalytisch-rekonstruktive Forschungsperspektive, welche dem interpretativen Paradigma Folge leistet. 2003 wurden im Rahmen dieser Studie mit zwölf Interviewpartnerinnen narrative Interviews nach Fritz Schütze durchgeführt. Die Interviews dauerten zwischen zweieinhalb und dreieinhalb Stunden und wurden vollständig auf Tonband aufgezeichnet und transkribiert. Zur Datenauswertung wurde ein mehrstufiges Verfahren angewandt. Dabei wurden die ersten fünf Interviews zur Schärfung des Blickes sowie zur Bestimmung zentraler Themen verwendet. Ausgehend von diesen Erkenntnissen wurden acht weitere Interviews mit Hilfe eines Rasters im Sinne von Globalanalysen ausgewertet. Daran anschliessend wurden drei Interviews zur intensiveren Rekonstruktion ausgewählt. Es sind dies die Fälle Julia Meckler, Mechthild Swobota und Uta Beeskow ─ drei Frauen unterschiedlicher Generationen, welche vor oder nach der Wendezeit ihren Abschluss in Sozialer Arbeit erworben haben und über Berufserfahrungen in der Mädchenarbeit vor und/oder nach der Wendezeit verfügen. Drei weitere Fälle wurden zur Kontrastierung beigezogen.
  3. Im dritten Kapitel werden die empirischen Ergebnisse der drei gewählten „Eckfälle“ dargelegt, mit dem Ziel, die Handlungs-, Deutungs- und Verknüpfungsmuster herauszuarbeiten. Der Analysefokus liegt dabei auf den individuellen Entwicklungsprozessen sowie der Verwobenheit der Kategorien „Ost“, „Geschlecht“ und „Profession“. Jeder Fall wird auf ca. 30 Buchseiten dargelegt, und zwar entlang der Kategorien „Anmerkungen zum Interview“, „biographische Kurzbeschreibung“, „Erzähleröffnung“, „Familien- und geschlechterbiographische Themen“, „Prozessstruktur zu den biographischen Sinn- und Deutungsmustern“, „Professionalisierungspfad und Prozessstruktur zu den Orientierungs- und Deutungsmustern in der sozialpädagogischen Arbeit“ und „fallinterne Zusammenhänge“.
  4. Im vierten Kapitel werden die drei Eckfälle entlang der drei Kategorien „Geschlecht, „Ost“ und „Profession“ miteinander verglichen und daraus drei Verknüpfungsmuster zwischen Biographie und Profession herausgearbeitet. Verdeutlicht werden die Muster durch den Einbezug von Kontrastfällen. Laut Claudia Daigler sind die drei Muster gleichzeitig Wendebewältigungsmuster und Muster der Vermittlung von Vergangenheit und Gegenwart und stellen drei Formen von Biographizität dar. Die Autorin verdichtet sie auf die Muster „Kontinuität bewahren“, „Angekommen in theoretischer und ideeller Verortung“ sowie „Brucherfahrung und Neu-Zusammensetzen“. Bei allen drei Mustern dominieren die Themen der Beheimatung und des Dazugehörens als Sinnfrage. Daraus schliesst die Autorin, dass sich zentrale Aspekte des beruflichen Selbstverständnisses und der Verbindung zwischen Biografie und Profession auf der Hintergrundfolie der Herkunftsfamilie entwickeln. Sowohl die Entwicklung als auch die Ausgestaltung des beruflichen Selbstverständnisses sind eng an die eigenen biographischen Erfahrungen als Mädchen und als Frau gebunden.
  5. Im fünften Kapitel werden die aus dem empirischen Datenmaterial gewonnenen Erkenntnisse mit der theoretischen Heuristik zusammengeführt und diskutiert. Zudem werden die Ergebnisse in die bestehende Forschungslandschaft integriert und vor diesem Hintergrund kritisch diskutiert. Die Ergebnisse werden dabei entlang der Kategorien „Generation“, „Ost“, „Tradierung und Wandel von Frauenbildern“, „Einfluss des sozialpolitischen Rahmens“, „berufliche Zugehörigkeit und Beheimatung“ und „Verhältnis von biographischer Erfahrung und professioneller Wahrnehmung“ dargelegt.
  6. Im sechsten Kapitel werden Schlussbemerkungen formuliert. Für die Autorin haben sich ihre fundierten methodologischen Überlegungen sowie das daraus abgeleitete methodische Vorgehen als sinnvoll erwiesen. Die aus dieser Studie gewonnene Erkenntnis der biographischen Bedeutung der Mütter und der gleichgeschlechtlichen Auseinandersetzung im Generationenverhältnis für die Entwicklung des eigenen Geschlechtsentwurfs erachtet sie für die Mädchenarbeitsforschung sowie die Mädchenarbeit überhaupt als Gewinn bringend. Als weitere zentrale Erkenntnisse dieser Studie streicht die Autorin den Nachweis der Zusammenhänge zwischen familiären Orientierungen, Politikverständnis und beruflichem Selbstverständnis sowie den zentralen Stellenwert der Zugehörigkeit bzw. der Beheimatung im Beruf als treibender Motor in den Professionalisierungsgeschichten heraus.

Zielgruppe

Die vorliegende Studie vermag in erster Linie Sozialwissenschafterinnen und -wissenschafter auf dem Gebiet der Sozialen Arbeit sowohl auf der Ebene methodologischer und methodischer Überlegungen als auch auf der Ebene empirischer Erkenntnisse anzuregen. Ferner können sowohl Dozierende von Hochschulen für Soziale Arbeit als auch Professionelle aus diesem Berufsfeld von den Erkenntnissen zum Zusammenhang zwischen der eigenen Berufsbiographie und dem eigenen Berufsverständnis profitieren, da die Studie dazu motiviert, diesem Zusammenhang genauer auf den Grund zu gehen. Schliesslich bietet die Studie auch interessante Erkenntnisse zum Ost-West-Vergleich, hier am Beispiel der Mädchenarbeit.

Fazit

„Biographie und sozialpädagogische Profession“ – eine empirische Studie, in welcher es gelungen ist, die vier Forschungsrichtungen „Professionsforschung“, „Biographieforschung, Geschlechterforschung und Transformationsforschung“ zusammen zu führen und daraus interessante Erkenntnisse zu den Kategorien „Geschlecht“, „Ost“ und „Profession der Mädchenarbeit“ hervorzubringen. Besonderes Verdienst kommt hierbei den aus dem Datenmaterial herauskristallisierten Verknüpfungsmustern zwischen Biographie und Profession in der Mädchenarbeit zu, zeigen diese doch, dass die Suche nach Zugehörigkeit und (geistiger) Beheimatung treibende Motoren in den Professionalisierungsgeschichten darstellen. Laut Claudia Daigler stellt die Beheimatung in diesem Beruf ein ganzheitlicher Prozess dar, der die Frage nach der Passung auf den Ebenen „geistige Beheimatung“, „biographische Anschluss- oder Weiterentwicklungsfähigkeit“ und „kollegiales Umfeld“ umfasst.

Abschliessend soll an dieser Stelle das Plädoyer der Autorin für eine umfassende Reflexion des Zusammenhangs zwischen der eigenen Biographie und dem professionellen Selbstverständnis explizit aufgegriffen werden. Will die Profession der Sozialen Arbeit der in der Fachliteratur vermehrt geforderten Rolle der reflektierenden Praktikerin tatsächlich gerecht werden, bedarf es sowohl in der Ausbildung als auch im Berufsleben umfassender Reflexionsgefässe, in welchen der genannte Zusammenhang vertieft wird. Interessante Modelle zur Reflexion dieses Verhältnisses finden sich in dieser Publikation.

Rezension von
Prof. Dr. Esther Forrer
Leitung der Abteilung Master an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Departement Soziale Arbeit
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Es gibt 4 Rezensionen von Esther Forrer.

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Zitiervorschlag
Esther Forrer. Rezension vom 29.05.2009 zu: Claudia Daigler: Biografie und sozialpädagogische Profession. Eine Studie zur Entwicklung beruflicher Selbstverständnisse am Beispiel der Arbeit mit Mädchen und jungen Frauen. Juventa Verlag (Weinheim) 2008. ISBN 978-3-7799-1225-5. Reihe: Edition Soziale Arbeit. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/6008.php, Datum des Zugriffs 11.12.2023.


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