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Hayyîm Ômer, Arist von Schlippe: Autorität ohne Gewalt (Kinder mit Verhaltensproblemen)

Rezensiert von Peter Schröder, 03.12.2002

Cover Hayyîm Ômer, Arist von Schlippe: Autorität ohne Gewalt (Kinder mit Verhaltensproblemen) ISBN 978-3-525-01470-7

Hayyîm Ômer, Arist von Schlippe: Autorität ohne Gewalt. Coaching für Eltern von Kindern mit Verhaltensproblemen. "Elterliche Präsenz" als systemisches Konzept. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2002. 214 Seiten. ISBN 978-3-525-01470-7. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR, CH: 35,90 sFr.

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Thema

Dass Eltern von ihren Kindern an den Rand der Familie gedrängt werden, damit der Weg frei wird, dass Kinder die möglichst uneingeschränkte Macht in der Familie übernehmen können, ist keine neue Erscheinung. Diese Machtübernahme bedient sich der unterschiedlichsten Mittel: Kinder lassen sich nichts sagen und schon gar nichts vorschreiben, sie zeigen eine körperliche Symptomatik, drohen mit Suizid oder üben offen Gewalt aus. Eltern begegnen diesen Machtmitteln oft mit Hilflosigkeit, weil sie in der einen oder anderen Weise verstrickt sind oder aus anderen Gründen ihre Autorität verloren haben. Haim Omer stellt in dem Band sein Konzept der „elterlichen Präsenz“ vor: Eltern versuchen gewaltfrei ihre Position innerhalb der Familie wiederzugewinnen und wirken auf diese Weise den Verhaltensstörungen ihrer Kinder entgegen.

Hintergründe

Haim Omer ist Professor für Psychologie an der Universität von Tel Aviv. Man spürt seinem Buch deutlich die Herkunft aus der Beratungsarbeit ab, es ist kein akademisches Traktat, sondern eher ein Praxisbericht, verbunden mit einer Praxisanleitung. Omers Konzept wird präsentiert von zwei renommierten Fachleuten: der Stuttgarter Kinderpsychiater Reinmar du Bois hat ein umfangreiches Vorwort geschrieben – aus der Sicht eines klinischen Psychiaters, der dem pädagogischen Schwerpunkt des Buches zunächst einmal fachfremd begegnet. Das zweite Vorwort stammt von Arist von Schlippe, der zugleich als Zweitautor fungiert (wenn auch unklar ist, in welchen Teilen!). Von Schlippe ist ein seit Jahren bestens renommierter Psychologe und Familientherapeut mit umfangreicher klinischer Erfahrung und einem dezidiert systemischen Ansatz (Mitautor des Standardwerkes „Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung“).

Aufbau und Inhalt

Die Kapitel bestehen jeweils aus einer Darstellung des Problemkreises und einer oder mehreren Fallschilderungen. Durch diese Verbindung von theoretischer Reflexion und Darstellung an konkreten Fällen gewinnt das Buch hohe Anschaulichkeit. Die Kapitel im Einzelnen:

  1. Einführung: Die elterliche Stimme. „Das Konzept der elterlichen Präsenz“ soll Eltern helfen, eine elterliche Stimme wiederzufinden. Es geht um ein „Elterncoaching“ (hätte es nicht „Elternberatung“ auch getan…?), um Umgang und in der Auseinandersetzung mit verhaltenauffälligen Kindern.
  2. Was ist unter „Elterlicher Präsenz“ zu verstehen? Das Kapitel führt in das Konzept ein, stellt die „praktischen, konzeptuellen und ethischen Ebenen der elterlichen Präsenz“ sowie unterschiedliche Aspekte dar und illustriert das Dargestellte mit drei Fällen.
  3. Elterliche Präsenz und gewaltfreier Widerstand. Ein Problem in Familien, in denen das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern tief gestört ist, ist häufig die Eskalationsdynamik des Konfliktes, die nicht selten zu gewaltsamen Auseinandersetzungen führt. Mit den Methoden des gewaltfreien Widerstandes in der Tradition Gandhis versucht Omer, die Eskalation in den Griff zu bekommen. Dazu stellt er in diesem Kapitel erste Methoden vor.
  4. Elterliche Präsenz als schulenübergreifendes Konzept. Kaum ein therapeutisches Konzept hat eine Chance auf breite Resonanz, das sich einer einzigen psychologischen Theorietradition verschreibt. Omer verortet sein Konzept deshalb im Dreieck von Verhaltenstherapie, systemischer Therapie und humanistischer Psychologie.
  5. Für Handeln gibt es keinen Ersatz – Coaching für Eltern. Omers Konzept soll Eltern helfen, die Handlungsfähigkeit gegenüber ihren Kindern wiederzugewinnen. Dabei verzichtet er bewusst auf jegliche, auch unterschwellige Schuldzuweisung: „Respekt vor den Eltern“ ist eine wichtige Maxime seiner Beratungsarbeit. Weiter werden die bestimmenden Faktoren möglichen Elternhandelns reflektiert: körperliche Präsenz, Präsenz im Territorium der Kinder, Zeitfaktor etc.
  6. Ein Gespräch. Das Kapitel enthält ein Beratungsinterview, das Haim Omer im Rahmen eines Workshops in Süddeutschland geführt hat.
  7. Systemische Präsenz. Das Kapitel eröffnet die systemische Perspektive: Wer ist, außer Eltern und Kindern, noch an dem Problem beteiligt? Wer könnte zur Lösung des Problems beteiligt werden?
  8. Persönliche Präsenz. Es gibt zahlreiche lähmende Faktoren, die die Eltern ihre Präsenz in der Familie verlieren lassen. Der erste, den Omer nennt, ist die Definition des Problems als „Krankheit“, die zur Folge hat, dass nun nur noch Fachleute, aber nicht mehr die Eltern. Mitleid, Schuld und Ängstlichkeit bilden eine weitere Melange zur Verhinderung von Präsenz.
  9. Flexible Autorität. Ziel des Konzeptes „elterliche Präsenz“ ist lediglich die Wiedererlangung von Präsenz, „auf keinen Fall die bedingungslose Kapitulation der Kinder. Elterliche Präsenz ist grundsätzlich ein dialogisches Konzept.“ (S. 177)
  10. Die Einbeziehung des Kindes in den Beratungsprozess der Eltern. Häufig geht es in gestörten Familienbeziehungen darum, das Gemeinsame wieder zu entdecken, seien es gemeinsame Ziele oder auch gemeinsame Feinde. Beides illustriert Omer mit Fallbeschreibungen.

Im Schlussteil des Buches werden die Bewertungskriterien, die zu Beginn entwickelt wurden, einer kritischen Würdigung unterzogen.

Zielgruppen

Das Buch richtet sich nicht an Eltern, denn bei Verstrickungen der beschriebenen Art hilft nicht die Lektüre eines Buches, sondern nur Hilfe durch einen kompetenten Familienberater oder -therapeuten. Das ist dann auch die erste Lesergruppe, an die sich das Werk richtet. Darüber hinaus aber auch gewiss alle, die sich in der Praxis oder in Lehre oder Studium mit pädagogischen Fragen befassen. Man muss nicht fachkompetent in Psychologie sein, um den Band zu verstehen, er ist konkret genug, dass ihn auch jemand mit einem vorrangigen Praxisinteresse mit Gewinn lesen wird.

Einschätzung der Tauglichkeit, Lesbarkeit und Nützlichkeit

Natürlich ist das Buch tauglich, lesbar und nützlich, keine Frage. Wer es nicht für tauglich hält, muss erst einmal mit stringenteren Konzepten aufwarten. Wer es nicht für lesbar hält, liebt vermutlich Fachliteratur ohnehin nicht besonders. Und wer es nicht für nützlich hält, hat noch nie Eltern beraten oder mit verhaltensauffälligen Kindern gearbeitet.

Die Stärke des Buches liegt in seiner Schlichtheit: alle vorgestellten Methoden von „Sit-in“ im Kinderzimmer bis zur „Bärenumarmung“ dienen der Herstellung spürbarer, greifbarer Präsenz. Die, kombiniert mit Prägnanz im Ausdruck der elterlichen Gefühle und Wünsche, lässt Eltern ihren Kindern ein Gegenüber bleiben und liefert sie nicht dem Risiko aus, „ohne Eltern“ aufwachsen zu müssen.

Dennoch ist mir das Buch zu dünn. Da es sich nicht an Eltern, sondern an Fachleute richtet, fällt umso deutlicher auf, was fehlt. Das ist zum einen eine genauere Ursachenanalyse des Phänomens „Autoritätsverlust“. Denn das hängt nicht damit zusammen, dass Kinder im Laufe der Jahre stärker und mächtiger geworden wären, sondern dass die Selbstverständlichkeit elterlicher Autorität grundlegend erschüttert worden ist. Wenn „elterliche Präsenz“ als „systemisches Konzept“ präsentiert werden soll, würde ich mir auch einen systemischen Blick auf diese Frage wünschen. In systemischer Perspektive macht jedes Verhalten Sinn. Welchen Sinn macht es also, dass Eltern ihre Autoritätsposition in der Familie nicht halten, sondern sie den Kindern überlassen? Welches Problem löst dieses Verhalten? Wenn diese Frage beantwortet wäre, könnten Eltern vielleicht auch wieder eine deutliche Präsenz zeigen, bevor ihre Kinder massive Verhaltensauffälligkeiten zeigen. Und das Konzept „elterliche Präsenz“ könnte werden, was es sich bisher zu sein weigert: ein pädagogisches Konzept – bisher will es lediglich eine „therapeutische Heuristik“ sein (S. 26).

Ein Interesse Haim Omers und Arist von Schlippes ist es, die Eltern von dem Gefühl zu entlasten, sie seien „schuld“ an den Verhaltensproblemen ihrer Kinder. Das würde meines Erachtens noch besser gelingen, wenn er sich deutlicher der Frage widmen würde, welche gesellschaftlichen Agenten Eltern den Autoritätsschneid abkaufen. Und: wirkt da noch die Verunsicherung der späten Sechziger nach? So dass die Balance zwischen autoritär und völlig permissiv schwer zu finden wäre? Es ist, um der erzieherischen Sicherheit der Eltern willen, wichtig, tatsächlich zu einem pädagogischen Konzept elterlicher Präsenz zu finden, dessen Blick über den therapeutischen Rahmen hinausreicht.

Hilfreich finde ich allerdings den Versuch, Eltern angesichts schwerwiegender Verhaltensprobleme ihrer Kinder wieder handlungsfähig zu machen. Die neuerdings sich verbreitende Einstufung solcher Probleme als Krankheit „ADS“ (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) legt Eltern nämlich nahe, da könnten nun nur noch Spezialisten helfen. Dieser Annahme deutlich zu widersprechen, gehört zu den Stärken der Arbeit Omers und von Schlippes.

Die vorgestellten Methoden sind wirkungsvoll, die „Bilder“, die der Band vorstellt, einprägsam. Und das ist beabsichtigt: Das Konzept „ruft in uns eine reichhaltige Galerie von Bildern hervor: der Elternteil, der das Kind in der Bärenumarmung hält; der stundenlang im Zimmer des Kindes im Sit-in sitzt…“ (S. 207). Allerdings darf auch nicht übersehen werden, dass diese und ähnliche Methoden, vor allem aber das Konzept „Präsenz demonstrieren“ seit langem zum Standardrepertoire pädagogischen Handeln z.B. im Bereich der Heimerziehung gehört. Vielleicht ist es dennoch wichtig, diese Methoden für die Arbeit von Familientherapeuten und -beratern noch einmal zu sichern.

Fazit

Ein Buch, das manch eine Fragestellung, die einem in der beraterischen Arbeit mit Familien immer wieder begegnet, deutlich auf den Punkt bringt. Nicht so sehr eine systematische Darstellung als vielmehr ein Arbeitsbericht, den ich mit Interesse gelesen und aus dem ich manch einen Denkanstoß bezogen haben. Gewinnbringend wäre jetzt die eigene Weiterarbeit an den oben markierten Punkten.

Rezension von
Peter Schröder
Pfarrer i.R.
(Lehr-)Supervisor, Coach (DGSv)
Seniorcoach (DGfC) Systemischer Berater (SySt®)
Heilpraktiker für Psychotherapie (VFP)
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Es gibt 136 Rezensionen von Peter Schröder.

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Zitiervorschlag
Peter Schröder. Rezension vom 03.12.2002 zu: Hayyîm Ômer, Arist von Schlippe: Autorität ohne Gewalt. Coaching für Eltern von Kindern mit Verhaltensproblemen. "Elterliche Präsenz" als systemisches Konzept. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2002. ISBN 978-3-525-01470-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/602.php, Datum des Zugriffs 14.12.2024.


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