Liane Pluto, Nicola Gragert et al.: Kinder- und Jugendhilfe im Wandel
Rezensiert von Prof. Dr. Titus Simon, 28.06.2008

Liane Pluto, Nicola Gragert, Eric van Santen, Mike Seckinger: Kinder- und Jugendhilfe im Wandel. Eine empirische Strukturanalyse.
Verlag Deutsches Jugendinstitut
(München) 2007.
680 Seiten.
ISBN 978-3-87966-416-0.
26,00 EUR.
Auslieferung durch den VS Verlag Wiesbade.
Thema und erste Einschätzung
Kinder- und Jugendhilfe befindet sich, seit diese über JWG, KJHG und SGB VIII systematisiert wurde, in ständigem Wandel. Ein Band, der sich zur Aufgabe gestellt hat, die aktuellen Bedingungen, Verläufe und Prozesse dieses Wandels empirisch auszuleuchten, zieht besondere Aufmerksamkeit der Fachöffentlichkeit auf sich. Die Autorinnen und Autoren des deutschen Jugendinstituts legen nämlich mit ihrem umfangreichen Werk bereits die vierte bundesweite Erhebung vor, die sich der Erfassung des Wandels der Jugendhilfe in Deutschland zuwendet. Es handelt sich dabei um eine Gesamtschau, zu der in den Jahren 2003 und 2004 zuerst die öffentlichen und dann - nachfolgend - freie Träger der Jugendhilfe und die Jugendringe befragt wurden.
Im Alter der herangezogenen Daten liegt ein erstes Problem dieses Bandes: Welche Relevanz haben drei bis vier Jahre alte Daten zum Zeitpunkt der (2007 erfolgten) Veröffentlichung?
Und damit sei auch gleich die zweite notwendige kritische Anmerkung nachgeschoben: Ein Text mit 680 Seiten ist naturgemäß erst einmal eine Herausforderung für PraktikerInnen, Lehrende und Studierende. Wer sich allerdings daran gemacht hat, den Band zu studieren, stößt zwar nicht an jeder Stelle auf völlig Neues, in der Regel aber auf Lohnendes – und sei es auch nur in Form der empirischen Fundierung eigener Überlegungen.
Einige wichtige Ergebnisse
So gelangt das erste bedeutende Fazit zu der Einschätzung, die Kinder- und Jugendhilfe erweise sich als ein System, das im Lauf der Zeit lernt, auf neue Problemlagen zu reagieren. Dies zeige sich etwa an der Entwicklung von brauchbaren Handlungsroutinen im Umgang mit sexuellem Mißbrauch. In hohem Maße informativ sind die Einschätzungen der öffentlichen und der freien Träger zu den einzelnen Segmenten der Jugendhilfe, wenngleich das Material an einzelnen Stellen - etwa die Betrachtungen zur Kindertagesbetreuung - von der Dynamik laufender Debatten bereits wieder überholt wurde.
Ausgehend vom Prozess der demographischen Entwicklung kommt die Gruppe der Autoren und Autorinnen zu der Einschätzung, dass bislang noch keine eindeutige Reaktion der Jugendhilfe auf diese erkennbar sei. Vielmehr erwecken die Antworten den Eindruck, dass die Themen Kostendeckung, Abau der stationären Hilfen, umfassende Sozialraumorientierung und die damit verbundene Schaffung von Sozialraumbudgets die Auseinandersetzung mit den Folgen der demographischen Entwicklung überlagern. Insbesondere bei den Jugendämtern lassen sich - anders als bei Trägern, und hierbei insbesondere bei jenen stationärer Einrichtungen - noch keine Pläne erkennen, wie auf die Auswirkungen demographischer Veränderungen bei der Ausgestaltung der Hilfen zur Erziehung reagiert werden soll. Als dramatisch erscheint die Feststellung, wonach in der Kinder- und Jugendhilfe unverändert eher zögernd zur Kenntnis genommen wird, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Diese zugleich überraschende und provozierende Aussage wird mit harten Fakten unterlegt. Vor allem bei den beratenden, begleitenden und unterstützenden Angeboten sind Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund unterrepräsentiert, eine bedarfsgerechte strukturelle Veränderung der Jugendhilfe ist diesbezüglich nicht weit gediehen.
Die empirischen Befunde belegen darüber hinaus eine andere, weitläufig verbreitete Vermutung: Die Strategie des Gender Mainstreaming wird auf der programmatischen Ebene nahezu unbestritten befürwortet. In Planung und Praxis der Jugendhilfe bleibt die Kategorie Geschlecht noch allzu oft unberücksichtigt. Diese Diskrepanz begründen die Autorinnen und Autoren mit den Defiziten bei der Ausgestaltung des fachlichen Handelns im konkreten Jugendhilfealltag.
Nicht eindeutig sind die Entwicklungen bei der Finanzierung der Jugendhilfe. Die empirischen Befunde lassen keinen systematischen Zusammenhang mit den allgemeinen kommunalen Haushaltsentwicklungen erkennen. Auch innerhalb der Jugendhilfe selbst sind die Trends gegenläufig. Während insbesondere bei der Jugendarbeit gespart wird, steigen die Ausgaben für den Bereich der Hilfen zur Erziehung unverändert an. Dabei hat sich das Entgeltsystem flächenmäßig durchgesetzt. Während die öffentlichen Träger ihre Erfahrungen zunehmend als positiv beschreiben, sinkt die Zustimmung bei den freien und privatwirtschaftlich agierenden Anbietern.
Regional gegenläufige Trends sind bei den Ausgaben für die Kindertagesbetreuung zu beobachten. Bundesweit steigen die Ausgaben, allerdings sind Rückgänge für die Landkreise und die neuen Bundesländer zu konstatieren. Daraus folgt, dass eine Angebotsverdichtung und -verbesserung vor allem in westdeutschen (Groß)Städten erfolgt ist. Jugendhilfe ist traditionell der bedeutendste Arbeitgeber der Sozialen Arbeit. Allerdings konnten die in den Jahren nach 2000 noch erkennbaren Ausbautendenzen für den Erhebungszeitraum nicht mehr nachgewiesen werden. Gestiegen ist ferner der Anteil der Jugendämter, die Planstellen unbesetzt ließen.
Die Studie bestätigt ferner, dass die gesetzlich verankerten Kooperationsstrukturen weiter entwickelt werden konnten. Kooperation hat sich in ihren verschiedenen Formen etabliert. Im Unterschied zu früheren Erhebungsphasen ist die Schule heute der wichtigste Kooperationspartner. Reduziert haben sich die Berührungsängste zur Polizei. Dagegen werden die Kooperationserfahrungen mit der (Kinder- und Jugend)Psychiatrie deutlich negativer bewertet.
Fazit
Der Umstand, dass das empirisch gewonnene Material eines derartiges Forschungsvorhabens bis zur Veröffentlichung aufgrund des Alters der erhobenen Daten bereits wieder an Relevanz verliert, läßt die getroffenen Schlußfolgerungen für die verschiedenen Facetten der Jugendhilfe nicht weniger plausibel erscheinen. Das umfangreiche Werk kann sehr wohl in seinen einzelnen Kapiteln und gezielt zur Bearbeitung einzelner Segmente der Jugendhilfe gelesen werden. Hilfreich sind eine gute Gliederung und eine durch die einzelnen Kapitel konsequent durchgehaltene innere Struktur des Bandes.
Wer sich mit Planung, Entwicklung und Diskursen zur Jugendhilfe befaßt, erhält eine Fülle an Argumentationshilfen. Vielleicht könnten mit einer künftigen "Zerlegung" des Vorhabens in zwei oder drei (Teil)Bände sowohl die Aktualität des zugrundeliegenden Datenmaterials erhöht wie auch die Lesbarkeit verbessert werden.
Rezension von
Prof. Dr. Titus Simon
lebt in Wolfenbrück, einem Weiler mit 140 Einwohnern; lehrt zu ausgesuchten Themen in Magdeburg und St. Gallen und schreibt kritische Heimatromane.
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