Luc Boltanski, Laurent Thévenot: Über die Rechtfertigung
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 19.04.2008

Luc Boltanski, Laurent Thévenot: Über die Rechtfertigung. Eine Soziologie der kritischen Urteilskraft.
Hamburger Edition
(Hamburg) 2007.
493 Seiten.
ISBN 978-3-936096-85-9.
40,00 EUR.
Originaltitel: De la justification. Aus dem Französischen von Andreas Pfeuffer.
Krise als paradoxer Moment
Die Auseinandersetzung zur Urteilsfähigkeit und –kraft von Individuen und Gruppen ist insbesondere ein Aufgabenfeld der Sozialwissenschaften. Kategorisierungen bilden dabei die wichtigsten Kriterien für die Erforschung von Positionen und deren Zuordnung in typische und statistische Größen. Hier setzt die Kritik von zwei französischen Forschern ein: Luc Boltanski ist Soziologe. Laurent Thévenot ist Wirtschaftswissenschaftler und Statistiker. Beide lehren an der ƒcole des Hautes ƒtudes en Sciences Sociales in Paris und sind Mitglieder der Groupe de sociologie politique et morale. Es ist das "... Missverhältnis zwischen einer gegebenen Wirklichkeit und solchen Kategorien…, die entweder nicht angemessen oder zu allgemein sind, um diese Wirklichkeit auch nur annähernd erfassen zu können", das sie bei ihren Forschungen aufgreifen. Am Beispiel der "cadres", der leitenden Angestellten also, haben sie nachgefragt, wie sozioprofessionelle Kategorien bei diesen zustande kommen und, sowohl von ihnen selbst, als auch von anderen Gruppierungen bestätigt bzw. in Frage gestellt werden. Ein zweiter Forschungsstrang orientiert sich an "der Beobachtung und Analyse von Kategorien mit unklaren Abgrenzungen", etwa bei Jugendlichen. Dabei haben sie festgestellt, dass die Kriterienbildung und die von den Personen selbst vorgenommene Zuordnung vielfach abweicht davon, "wie der Forscher völlig verschiedenartige Wesen in ein und dieselbe Kategorie steckt, um ihr Verhalten durch ein und dasselbe Gesetz erklären zu können". Es geht also um eine objektive Ermittlung und Erforschung "nach den Verfahren der Einordnung beziehungsweise Bewertung und der Allgemeinerung".
Grundansatz
Um zu erkennen, wie Menschen bei (politischen und gesellschaftlichen) Konfliktsituationen reagieren und warum sie so handeln, und vor allem, an welchen Rechtfertigungsordnungen sie sich dabei orientieren, gehen die beiden Autoren bei ihren Reflexionen nicht den üblichen Weg, wie er bei den sozialwissenschaftlichen Forschungen üblicherweise gegangen wird. Sie gehen den Umweg über die Theorien der politischen Philosophie. Sie verknüpfen dabei die beiden Wissenschaften: Philosophie und Soziologie. Dadurch entsteht ein "Modell der Fähigkeit…, die man als bei den Akteuren vorhanden voraussetzen muss, um überhaupt begreifen zu können, wie die Angehörigen einer komplexen Gesellschaft Kritik äußern, Situationen infrage stellen, sich streiten oder zu einer Einigung kommen". Damit wird die Theorie dann tatsächlich auch praktikabel; etwa, wenn es darum geht, dabei beziehen Boltanski und Thévenot auch die Rawls'schen Argumentationen zur Rechtfertigung von Ungleichheiten ein, das "Gemeinwohl" in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen zu stellen.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in fünf Kapitel gegliedert.
- Im ersten Teil geht es um die kritische Überprüfung einiger traditioneller Zugangsweisen in den Sozialwissenschaften bei der Frage, wie Einigungen in gesellschaftlichen Prozessen zustande kommen. Die Kritik daran entwickelt sich nicht zu einem unversöhnlichen Verwerfen der scheinbar unvereinbaren soziologischen und wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsansätze, sondern zeigt Ähnlichkeiten bei den Methodologien auf und entwirft damit "Konturen eines neuen Forschungsgegenstandes für die Sozialwissenschaften". Wenn es um das "Zusammenspiel der Begehrlichkeiten", um die Bewertung und Berücksichtigung von Eitelkeiten, von Machtpositionen und Prinzipien geht, müssen die Prinzipien der Marktbeziehungen sowohl aus der Position der betroffenen Individuen, wie auch der "unparteiischen Zuschauer" berücksichtigt werden.
- Im zweiten Teil werden der "Marktordnung" die konkurrierenden Ordnungen gegenüber gestellt, die "politischen Ordnungen und ein Gerechtigkeitsmodell". Der Diskurs beginnt mit der Tradition der Topik, der antiken Rhetoriklehre, die danach befragt wird, wie sich die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Gemeinwohls auf Meinungsverschiedenheiten und Unstimmigkeiten sowohl bei zwischenmenschlichen Beziehungen, als auch auf Spannungen zwischen privaten und öffentlichen Sphären auswirken. Das daraus sich entwickelnde "Modell der Rechtfertigungsordnung" geht von der Grundannahme des "gemeinsamen Menschseins" aus, das dem Prinzip der Verschiedenartigkeit unterliegt und dem die "Würde" anhaftet; das aber gleichzeitig eine "Rangordnung nach der Größe" berücksichtigt, was bedeutet, dass die "Menschheit hierarchisch gegliedert" ist. Diese erst einmal irritierende Modellkonstruktion wird freilich mit dem Schlussstein der Formen des "Gemeinwohls" wieder in das Gerechtigkeitsmodell eingepasst.
- Die Diskussion der fünf verschiedenen Formen der "Gemeinwesen" – dem "Gemeinwesen der Inspiration", wie etwa dem Augustinischen Gottesstaat; dem "häuslichen Gemeinwesen", bei dem der Einzelne als Glied einer Kette von Autoritäten in der familiären Ordnung von Vater, Mutter, Kind und den hierarchischen Gegebenheiten seine Existenzberechtigung findet; dem "Gemeinwesen der Meinung", bei dem, im naturrechtlichen Hobbes'schen Sinne von Ehre und Macht und damit eine Rangordnung grundgelegt ist; dem "staatsbürgerlichen Gemeinwesen", wie dies in Rousseaus "Gesellschaftsvertrag" idealisiert wird und bei dem sich "der Gemeinwille nicht auf die Summe der einzelnen Willen reduzieren lässt"; dem "industriellen Gemeinwesen" schließlich, bei dem es, nach Claude-Henri Saint-Simon, dem Erfinder der "sozialen Physiologie", "nicht mehr "um eine Sondierung der Herzen (geht), sondern darum, die Realität zu ergründen und die Gesellschaft zu befragen" – leiten über zum dritten Teil, der Frage nach den "gemeinsamen Welten", die sie als Welt der Inspiration, häusliche Welt, Welt der Meinung, staatsbürgerliche Welt, Welt des Marktes und industrielle Welt kategorisieren. Die Ausweitung einer Rechtfertigungsordnung auf "eine Welt" bedeutet, dass dabei zwei grundlegende Anforderungen als "Moralsinn" geleistet werden müssen, nämlich "das Erfordernis des gemeinsamen Menschseins, was die wechselseitige Anerkennung und das Bewusstsein einer gemeinsamen Identität aller menschlichen Wesen, die untereinander Einvernehmen erzielen wollen, einschließt; zum anderen ein Ordnungserfordernis, was die allgemeine Geltung einer Größe für die Regelung der möglichen Zuordnungen impliziert". Um sich der Frage zu nähern, wie wir in den verschiedenen Welten schließlich doch in einer gemeinsamen Welt leben können, ist es interessant, einige gängige Praxishandbücher zu betrachten, die sich sowohl auf die Prinzipien der "Weltklugheit" berufen, als sich auch an Alltagsansprüchen orientieren; es geht also um ein "Savoir-vivre et promotion", um "Public Relations", um "What they don't teach you at Harvard Business School" und um "Productivité et conditions de travail", ein Ratgeber zum Handeln. Die Analyse der "Ratgeber", die ohne Zweifel Auswirkungen auf das gesellschaftliche, öffentliche und private Handeln von Menschen haben, stellt sich nicht als akademische Spielerei dar, sondern verrät bemerkenswerte Auffassungen und beunruhigende Befunde, etwa der, dass "die für das Menschsein charakterisierte Würde … in der Welt der Industrie in Gefahr (gerät), wenn die Menschen wie Dinge behandelt werden".
- Diesen Gefahren widmet sich der vierte Teil mit der "Kritik" daran, wie die Konflikte zwischen den Welten und der Infragestellung von Urteilen in den sechs aufgezeigten konstitutiven Rechtfertigungsordnungen wirken und behandelt werden.
- Die Autoren titeln den fünften Teil mit "Beschwichtigung der Kritik". Am Beispiel der "Arbeitnehmerrechte" wird der "Kompromiss" als die im allgemeinen übliche Form einer Übereinkunft bei sozialen Rechten diskutiert. Es wird die "Fragilität" von Kompromissen untersucht und die Frage nach der Gültigkeit und Legitimität beantwortet. Um kompromissfähig zu sein, bedarf es der Kenntnis von verschiedenen "Kompromissfiguren", die von den Autoren wiederum aus den aufgezeigten Rechtfertigungsordnungen konstruiert werden und damit durchaus als Modelle für Kompromisshandeln und –politik gelten können. Grundlage dabei bleibt freilich einer Einigung auf das Gemeinwohl.
Fazit
Das in vielfältigen Formen der philosophischen, historischen und politischen Reflexionen diskutierte Modell der Rechtfertigung zeigen einerseits das Dilemma auf, dass "die Koordinierung der Handlungen eines einzelnen Individuums seitens des Akteurs ein Nachdenken über seine Handlungen und eine Überprüfung ihrer Kohärenz" erfordern, andererseits, "dass mehrere Personen ihr Handeln koordinieren können, ohne deshalb Anforderungen hinsichtlich einer gemeinsam ausgeübten Kontrolle der Einigung an den Tag zu legen". Zum anderen aber auch die Herausforderung und die Chance, Humanität beim Urteil walten zu lassen, "dass man sich nicht darauf beschränkt, den Begriff, den man sich von einer Person (oder Institution, JS) macht, an dieser Beurteilung festzumachen". Bei dem von Luc Boltanski und Laurent Thévenot in umfassender Form vorgestellten Entwurf einer "Soziologie der kritischen Urteilskraft" geht es um das Verhältnis von "Personenzuständen" und "Dingzuständen", vom "ewigen Hin und Her der Personen zwischen Wiedergutmachung und Krise, Toleranz und Auseinandersetzung, Urteilen und Vergessen". Das Buch ist nicht als Nachttischlektüre geschrieben. Vielmehr sollte es seinen Platz finden auf den Schreibtischen von Forschern, theoretischen Denkern und praktisch Handelnden in gesellschaftlichen, lokalen und globalen Veränderungsprozessen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
Mailformular
Es gibt 1689 Rezensionen von Jos Schnurer.