BioSkop AutorInnenkollektiv: "Sterbehilfe". Die neue Zivilkultur des Tötens?
Rezensiert von Prof. em. Dr. habil. Hans-Ernst Schiller, 14.01.2003

BioSkop AutorInnenkollektiv: "Sterbehilfe". Die neue Zivilkultur des Tötens? Mabuse-Verlag GmbH (Frankfurt am Main) 2002. 95 Seiten. ISBN 978-3-935964-02-9. 14,90 EUR.
Absicht
Die vorliegende Broschüre ist eine Streitschrift gegen jede Form von Sterbehilfe. Die Autoren wollen nicht diskutieren, sie wünschen sich keine Sterbehilfe-Debatte, weil dabei herauskommen könnte, was sie ablehnen. (S.8) Sie verwerfen jede Differenzierung im Begriff der Sterbehilfe: Begriffe wie Beihilfe zur Selbsttötung, aktive oder indirekte Sterbehilfe, die gewisse Unterschiede zum Ausdruck bringen sollen, "sind beliebig", "bloße Verwirrungen" (S.90). Das "Recht auf Sterben" ist in Wahrheit "das Recht auf Mord"(S.19).
Inhalt und Kritik
Die einer Einleitung folgenden 13, zum Teil sehr kurzen Texte thematisieren: das Autonomieproblem (2), die Geschichte, die Rechtslage und die aktuelle Debatte über Sterbehilfe in verschiedenen europäischen Ländern (3 bis 6), die Rolle der Medien (7 und 8) die Psychologisierung von Sterben und Tod (12 und 13) sowie die Begriffsbildung in der Sterbehilfe-Diskussion.(14)
Das Grundproblem dieser Veröffentlichung besteht in dem erklärten Willen, sich auf keine Debatte einlassen zu wollen und Differenzierungen für überflüssig zu halten. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Argumenten etwa von Charlesworth, Kuitert, Küng oder Eser - und natürlich auch mit Singer - sucht man vergebens. Alles läuft aufs gleiche hinaus - ob die Richtlinien der Bundesärztekammer zum Behandlungsabbruch oder die Rechtsprechung, das Schweigen der "deutschen Politik" oder die Diskussionen in der akademischen Ethik: die Tötung von fremder Hand soll möglich werden. Zugespitzt auf diesen Punkt der aktiven Sterbehilfe als Tötung auf Verlangen wird behauptet, dass deren Legalisierung die Grundfesten des modernen Rechtssystems zerstören würde. Die Voraussetzungen einer solchen Position sind zahlreich, nur zum Teil ausgesprochen und im Hinblick auf das Thema "Sterbehilfe" einfach falsch: Weder steht eine Verpflichtung zur Tötung in Rede noch wird "die vorsätzliche tödliche Gewalt gegen andere der selbst ausgeübten "freien" Verfügung über das eigene Leben gleich gesetzt". (S.18) "Übertragen wird", so die Autoren, "etwas, das bislang durch niemanden vertreten werden kann: die Jemeinigkeit der Disposition über den Tod." (19) Das klingt zwar philosophisch, nämlich nach Heidegger, ist aber vor allem vage. Solange ein Mensch bei Verstand ist und um die Tötung bittet, überträgt er keineswegs eine Disposition; dies ist nur für den Fall möglich, dass er die eigene Entscheidungskompetenz verloren hat, gilt dann aber nicht nur für die direkte Tötung, sondern auch für Behandlungsabbruch und Unterlassung.
Wie an dieser Stelle, so zeichnet sich die Broschüre generell dadurch aus, dass sie die Problemlage, von der viele Befürworter einer Liberalisierung der Sterbehilfe (im umfassenden Sinne) ausgehen, souverän ignoriert. Diese Problemlage wird bestimmt durch die - oft segensreichen - Möglichkeiten der industrialisierten Medizin, die Menschen, ob bewußtseinsfähig oder komatös, am Leben erhalten, die vor wenigen Jahrzehnten längst tot gewesen wären. Archetyp ist jene Szene in Ariés' Studien zur Geschichte des Todes wo sich der Intensivpatient, ein Pater, von den Schläuchen befreit und ruft: Man betrügt mich um meinen Tod. Solche Erfahrungen sind allerdings älter als die aktuelle Finanzkrise im Gesundheitswesen, welche die Autoren mehr oder weniger suggestiv für die Aktualität des Themas verantwortlich machen. Im übrigen diene "die Sterbehilfe-Agitation"(S.53) auch dem "Sterbehilfe-Geschäft"(S.56).
Es wäre freilich falsch auszuschließen, dass eine Liberalisierung des Sterbehilferechts mit erheblichen Risiken verbunden sein könnte, die vor allem mit ökonomischen Interessen, sei es der Hinterbliebenen, sei es der Kostenträger verbunden sind. Es wäre nicht das erste Mal, dass Freiheitsgewinne durch die kapitalistische Rationalität der Moderne entwertet würden. Zudem unterstehen sie der kulturellen Hegemonie dieser Rationalität. Die Autoren weisen zu Recht darauf hin, dass der Wunsch nach einem schnellen Tod auch im Zusammenhang mit dem kulturellen Ideal des aktiven, jugendlichen, brauchbaren Menschen steht (S. 87ff.) - oder jedenfalls stehen kann. Es wäre, um die trübe Sphäre allgemeiner Verdächtigung zu verlassen, sicher besser gewesen, solche kulturkritischen Überlegungen an bestimmten Fällen zu entfalten, die durch einzelne Reportagen bekannt geworden sind. Dann wäre auch hier deutlich geworden, dass die Problemlage längst nicht so übersichtlich ist, wie es die Generalthese von dem einen Regime, das die Individuen mit Macht durchformt (S.90), wahr haben will. Vor allem ist zu fragen, ob die Kritik an kulturellen Rahmenbedingungen, die man nicht zu ändern vermag, ausreicht, schwer leidenden Menschen einen individuellen Ausweg zu verbauen.
Die finsteren Machenschaften der Sterbehilfe-Befürworter sehen die Autoren mittlerweile auch in der Hospizbewegung am Werk. Manchmal kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als hielten sie ein langes, ohnmächtiges und schmerzvolles Sterben für eine wertvolle Erfahrung, die keinem Menschen vorenthalten werden dürfe. Sicher ist ihnen zuzustimmen, wenn sie eine verharmlosende Anpreisung würdevollen Sterbens kritisieren. (S.71 f.) Es ist nämlich besser, ein würdeloses Sterben zu verhindern, als ein Idealbild würdevollen Sterbens anzupreisen. Auch die Kritik an einer ausschließlichen Ästhetisierung des Würdebegriffs ist berechtigt - er ist vor allem ein moralischer Begriff, wie unter Verweis auf Kant festgestellt wird. Aber es ist befremdlich, dass ausgerechnet Macht-Kritiker die Ethik Kants, der im Hinblick auf den Selbstmord schlecht argumentiert hat, im Sinne einer Durchhalteparole beerben wollen. Im Zentrum der menschlichen Würde steht die Fähigkeit zur Autonomie. Diese kann durch Schmerzen oder verdinglichende Apparaturen ernsthaft eingeschränkt oder negiert werden. Es kann deshalb im Sinne der Wahrung menschlicher Würde sein, durch Patientenverfügung einen Behandlungsabbruch antizipatorisch zu bestimmen oder um Beihilfe zum Suizid zu bitten. Nur in den seltensten Fällen, wo die Handlungsfähigkeit eines selbstbewussten Menschen aufgehoben ist, wird auch das (Fremd)Tötungsverlangen moralisch legitim sein.
Fazit
Zu dieser Broschüre kann greifen, wer eine gesellschaftstheoretisch, namentlich von Foucault inspirierte Kritik einer Liberalisierung des für Sterbehilfe (in seinen verschiedenen Facetten) zuständigen Rechts (namentlich des § 216 StGB) kennenlernen will. Er wird sich vielleicht die Frage stellen, ob die Behauptung einer in allen gesellschaftlichen Bereichen tätigen "Internationale des Tötens" nicht das projektive Resultat der eigenen Unlust ist, zu differenzieren, zu debattieren und die Position des Anderen mitzudenken - in die Stärke des Gegners einzudringen, wie das bei Hegel hieß.
Rezension von
Prof. em. Dr. habil. Hans-Ernst Schiller
Vormals Professor für Sozialphilosophie und -ethik
Fachhochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
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