Maria von Salisch, Astrid Kristen et al.: Computerspiele mit und ohne Gewalt
Rezensiert von Dr. Maik Philipp, 15.04.2008
Maria von Salisch, Astrid Kristen, Caroline Oppl: Computerspiele mit und ohne Gewalt. Auswahl und Wirkung bei Kindern. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2007. 212 Seiten. ISBN 978-3-17-019403-8. 28,00 EUR.
Thema
Neue Medien bringen es mit sich, dass sie kritisch beäugt, ihre Aneignung durch Heranwachsende besorgt wahrgenommen und die Folgen ihrer Nutzung in höchst normativen Debatten diskutiert werden. Solche aufgeregten Debatten fanden sich auch seinerzeit im 18. Jahrhundert in der Anfeindung der "Lesewut" beim heute höchst geschätzten Lesen. Wir haben sie in den 1980er Jahren in den kulturpessimistischen Texten von Neil Postman über das Fernsehen wieder gefunden. Und gegenwärtig wird nahezu demagogisch im Zusammenhang mit Computerspielen von "Medienverwahrlosung" gesprochen. Das schürt Ängste der Mittelschicht-Eltern und verhindert einen unverstellten und unaufgeregten Blick auf die Medienpraxen von Kindern und Jugendlichen, der für medienpädagogische Maßnahmen aber dringend erforderlich ist.
Die KUHL-Studie
Davon sind gerade gewalthaltige Computerspiele betroffen. Ihnen wird unterstellt, sie führten zu Störungen der Persönlichkeitsentwicklung oder begünstigten gar gewalttätige Handlungen. Empirisch gesichert ist das freilich längst nicht, und auch die Frage, warum sich Heranwachsende Computerspielen mit und ohne Gewalt widmen, ist bislang vernachlässigt. Hier setzt die KUHL-Studie (Kinder, CompUter, Hobby, Lernen) der Psychologinnen Maria von Salisch, Astrid Kristen und Caroline Oppl an. Sie wollten eruieren, welche Spiele aus welchen Gründen von Kindern ausgewählt werden und welche Folgen das auf die Persönlichkeit, speziell das aggressive Verhalten hat. Befragt wurden dazu in dieser Längsschnittstudie zu drei Zeitpunkten Kinder aus Berlin, und zwar 2002 in der dritten bzw. vierten Klassenstufe (N = 414), zwölf Monate später im Herbst 2003 (N = 324) und schließlich in der sechsten Klassenstufe im Herbst 2005 (N = 117). Die Wahl für dieses Sample ergab sich aus der Überlegung, dass Kinder der dritten, vierten Klasse am Beginn der Computerspielkarriere stehen.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist insgesamt zehn Kapitel eingeteilt.
- Nach einer Einleitung wird im ersten Kapitel knapp vor allem anhand der KIM-Studien dargelegt, wie sich der Zugang von Heranwachsenden zu Computer(spiele)n und dem Internet von 1990 bis 2006 verändert hat, wie sich die Computernutzung um die Jahrtausendwende alterspezifisch verändert hat und welche geschlechtsspezifische Nutzungsverhalten es gibt.
- In Kapitel 2 stellen die Autorinnen theoretische Überlegungen zur Zuwendung zu den Computerspielen an. Sie berufen sich auf den uses-and-gratification-Ansatz zum einen und die mood management-Theorie zum anderen, mithin auf Theorien, die von aktiven Mediennutzern ausgehen, die mehr oder minder bewusst passende Medien auswählen (im Gegensatz zu Theorien, die die Wirkungsrichtung umkehren). Ergänzend werden die Rolle des Spielens in der kindlichen Entwicklung – leider nur sehr knapp – vorgestellt, das Computerspielen zur Bewältigung von (drei ausgewählten) Entwicklungsaufgaben und die Verschränkung von Entwicklungsstand und Spielwahl und -verarbeitung beschrieben. Hervorzuheben ist an diesem Kapitel, dass sich in dem Computerspiel-Spezifikum Spielbeherrschung oder auch Meisterschaft (mastery) auffallende Parallelen zwischen Computerspielen zu den Prinzipien finden lassen, die hervorragende Lehrkräfte nutzen, um Schüler zum Lernen zu motivieren. Computerspiele könnten demnach so etwas wie vorbildliche Pädagogen sein – ein spannender Gedanke in Zeiten von Verwahrlosungsdiskursen.
Die Kapitel 3 bis 9 stellen die empirischen Ergebnisse vor.
- Die Spielepräferenzen der Befragten decken sich überwiegend mit den aus der Sekundärliteratur bekannten. Der Längsschnitt zeigte außerdem, dass sich zwischen der ersten und zweiten Befragung der Anteil der Spielenutzer und -nutzerinnen erhöhte, aber die Treue gegenüber einzelnen Genres war nur bei Lernspielen besonders ausgeprägt (Grundlagen waren die Lieblingsspiele). Für die Befragten war das Jahr zwischen den Befragungen offenbar eine Phase des Experimentierens und Orientierens, und zwar für Jungen und Mädchen gleichermaßen.
- Die Frage ist nur: Wer bevorzugt gewalthaltige Spiele? Dieser Frage widmet sich das vierte Kapitel, das gleich zu Beginn klarstellt, dass eine aggressive Form des Spiels (rough-and-tumble-play) nicht genuin ein Merkmal von Computerspielen ist und dass es diverse Formen der Gewaltdarstellungen in Computerspielen gibt – die Spannbreite liegt zwischen akzeptierten Formen in Sport- und Wettkampf und exzessiven Splatter-Szenen. Gewalthaltiges Spielen ist also weder neu noch lässt sich seriös von der Gewalt in Computerspielen sprechen. Wie verbreitet gewalthaltige Computerspiele im KUHL-Sample waren, wurde anhand der von den Kindern angegebenen Computerspieltitel ermittelt. Diese Titel ließen die Autorinnen von Experten hinsichtlich ihrer Gewalthaltigkeit und als Ego-Shooter einstufen und ermittelten, ob es sich um ein nicht altersangemessenes Spiel laut USK handelt. Mädchen neigen deutlich weniger als Jungen zu Spielen mit Gewalt. Zwar streuten die Werte der Jungen stärker, dennoch gab jeder fünfte im Jahr 2002 einen Titel an, der laut USK erst ab 16 bzw. 18 Jahre freigegeben ist – ein Jahr später waren es doppelt so viele. Trotz einer Zunahme der brutalen Spiele sind die Zusammenhänge über die Zeitspanne von einem Jahr moderat. Anders gesagt: Wer 2002 ein Computerspiel mit Gewalt als Lieblingsspiel angab, tut das nicht unbedingt auch ein Jahr später, sondern kann – s.o. – nach einer Experimentierphase solchen Spielen wieder den Rücken gekehrt haben.
- Da es bei Jungen eine stärkere Zuwendung zu gewalthaltigen Computerspielen gibt, stellt sich die Frage, wie diese Spiele wirken können, d.h. ob es einen Transfer der Spielinhalte auf die reale Welt gibt. Die Fragestellung ändert sich nun also, es geht nicht um die aktive Zuwendung zu, sondern um die Wirkung von Medien. Von Salisch, Kristen und Oppl stellen im Kapitel 5 zunächst mehrere theoretische Zugänge zu den kurzfristigen und langfristigen Wirkungen vor und fragen auch nach der Bedeutung von Persönlichkeitsmerkmalen. Die in Kapitel 6 präsentierten empirischen Ergebnisse zum Zusammenhang von offen aggressivem körperlichen und verbalen Verhalten basieren v.a. auf Fremdberichten von Mitschülern und Lehrern. Die Befunde zeigten einen stabilen, aber nur recht mäßigen Zusammenhang zwischen Spielen mit Gewalt und offen aggressivem Verhalten. Das heißt auch, dass gewalthaltige Computerspiele sich nur bedingt als Ursache devianten Verhaltens benennen lassen. Das ergaben auch die Regressionsberechnungen für den ersten Querschnitt, in denen z.B. die mangelnde Beliebtheit bei den Gleichaltrigen einen viel größeren Stellenwert hatte; allerdings wurden einige als einschlägig identifizierte (z.B. in der Familie liegenden) Ursachen von aggressivem Verhalten nicht abgefragt, wie die Autorinnen selbst einräumen. Und nicht zuletzt sagt eine Regressionsanalyse mit Daten aus einem Querschnitt auch wenig über tatsächliche Ursache-Wirkungs-Relationen aus.
- Es geht hier letztlich um das Henne-Ei-Problem; und die Frage, was zuerst da war, wird in Kapitel 7 verfolgt. Dazu setzen die Autorinnen ein transaktionales Modell ein, in dem per Kreuzpfadmodell überprüft werden kann, ob die im zweiten Messzeitpunkt ermittelte offene Aggressivität eine Folge der ein Jahr zuvor ermittelten Zuwendung zu Computerspielen ist (Wirkungsrelation) oder ob ohne aggressiv veranlagte Kinder vermehrt zu Spielen greifen (Selektionsrelation). Für ihr Sample wurde nur die letztgenannte Wirkrichtung signifikant (und hier v.a. bei den Jungen, denn für Mädchen funktionierte das Modell nicht). D.h. wer im Herbst 2002 offen aggressiv agierte, der nannte 2003 auch eher Ego-Shooter als Lieblingsspiel. Inwieweit das – speziell in der Jugend – zu einem Teufelskreis führen kann, müsste in weiteren Studien untersucht werden. Kapitel 8 fragt nach der anderen, subtileren, aber nicht minder schädigenden Form der Gewalt: der sog. relationalen Gewalt, also jenen sozialen manipulativen Verhaltensweisen, die Beziehungen und Menschen beeinträchtigen, kontrollieren oder schädigen wollen. Zu dieser Form der Gewalt tendieren Mädchen eher als Jungen, und in einem entsprechenden, methodisch zu relativierenden Kreuzpfadmodell erwies sich besonders für Mädchen wieder der Selektionspfad als bedeutsam: Wer relational aggressiv eingeschätzt wurde, nannte ein Jahr später Rollenspiele als Lieblingsspiele. Dies interpretieren die Forscherinnen einerseits als Elaboration der Perspektivenübernahme, die eine noch effektivere Form relational aggressiver Handlungen erlaubt; andererseits seien auch List und Tücke in Rollenspielen gefragt, sodass die im Spiel geforderten Verhaltensweisen zu denen im realen Leben (mehr oder minder gut) beobachtbaren passen.
- Da sich Mädchen häufig in der Jugend wieder vom Computerspielen abwenden, haben die Forscherinnen im neunten Kapitel Faktoren der Gewohnheitsbildung des Spielens von Computerspielen im allgemeinen und gewalthaltigen Spielen im besonderen ermittelt und verwenden dafür erstmalig die Daten des dritten Erhebungszeitpunkts, also von Sechstklässlern. Sie legen dazu ein Modell vor, das sie empirisch überprüfen. Erwähnt seien nur Einflussfaktoren wie das männliche Geschlecht, mangelnde Kontrolle durch die Familie und das offen aggressive Verhalten (für das Interesse an gewalthaltigen Spielen), aber auch die Aussicht darauf, als Experte den peers mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.
- Was heißt das nun für die Medienpädagogik? Laut von Salisch, Kristen und Oppl sind Interventionen gerade in der frühen Computerspielkarriere angesagt und fruchtbar, in der sich Gewohnheiten auszubilden beginnen (wie die Präferenz gewalthaltiger Spiele bei aggressiven Kids). Es geht also um die pädagogische Förderung von Medienkompetenz. Zwar berufen sich die Autorinnen auf das Bielefelder Modell der Medienkompetenz und die Aufgaben der Medienpädagogik, doch wirken diese abstrakt anmutenden Teile unverbunden mit der KUHL-Empirie. Das hat sicher auch damit zu tun, dass pädagogische Konzepte für 8-12-Jährige jenseits der Einschränkung und des Verbots Mangelware sind. Ein paar stellt das Autorinnen-Team vor, wobei die zwei Beispiele Integration von Jump"n"Run-Spielelementen in den Sportunterricht und das Programmieren von Spielen am meisten versprechen dürften. Explizit an Eltern richtet sich jener Teil des letzten Kapitels, in dem Regeln der Initiative SCHAU HIN und eine Linkliste präsentiert werden und der zeigt, dass Eltern durchaus Einfluss auf die Computerspielkarrieren nehmen können.
Zielgruppe
Die Studie richtet sich vor allem an Wissenschaftler aus dem Bereich der (Medien- und Entwicklungs-)Psychologie, Kommunikations- und Erziehungswissenschaft sowie der Medienpädagogik.
Fazit
Es war ein Anliegen der KUHL-Studie, die mitunter hitzig und einseitig geführte Debatte über die Frage zum Zusammenhang von Computerspielen (v.a. mit Gewalt) und aggressivem Verhalten zu versachlichen, statt Vorurteile besorgter Eltern und prominenter Kriminologen weiter zu perpetuieren. Dieses Anliegen erreicht die vorliegende Studie. Besonders hervorzuheben sind neben den Ergebnissen (s.u.) die präzisen Fragestellungen, ein angenehmer Duktus, der wahrnehmbare Blick auf die Kommunikationswissenschaft (Ergebnisse der Fernsehforschung) und die hilfreichen Zusammenfassungen, die auch Laien verständlich sind. Angenehm und überdies sachlich ist der stets kritische Blick auf die eigenen Befunde, deren Grenzen und Eigenheiten erfreulich transparent dargestellt werden. Dies ist umso erfreulicher, als hier endlich eine Längsschnitt-Studie vorliegt, die Substanzielles zur Debatte um Computerspiele beiträgt. Drei Ergebnisse der Studie erscheinen zentral:
- Es gibt im Alter von 8/9 bis
9/10-Jahren eine Experimentierphase. Nicht jede/r bleibt bei bedenklichen
Spielen, aber der Anteil von Jungen mit Hang zu gewalthaltigen Spielen ist
unerfreulich hoch.
- Dennoch zeigen die Analysen, dass sowohl fürs gesamte Sample als auch für die Jungen als Teilgruppe nicht die gewalthaltigen Spiele offenes aggressives Verhalten vorhersagen. Statt der populären und verkürzten Sicht, dass Computerspiele mit Gewalt Kinder "verderben", ist wohl eher von der anderen Wirkungsrichtung auszugehen: Aggressive Kinder suchen sich gewalthaltige Spiele aus. Und das heißt, dass eine Pfeiffer'sche Pädagogik des Verschließens und Verbietens von falschen Prämissen ausgeht und andere Maßnahmen erfordert.
- Es gibt also Interventionsmöglichkeiten, zumal in dieser frühen Experimentierphase, auch wenn es an Konzepten noch mangelt.
Es bleibt daher zu hoffen, dass die vorliegende Studie breit rezipiert wird, um so weitere Forschungsaktivitäten und die Entwicklung von bedachten medienpädagogischen Interventionen nach sich zu ziehen.
Rezension von
Dr. Maik Philipp
Wissenschaftlicher Mitarbeiter
Fachhochschule Nordwestschweiz
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Zitiervorschlag
Maik Philipp. Rezension vom 15.04.2008 zu:
Maria von Salisch, Astrid Kristen, Caroline Oppl: Computerspiele mit und ohne Gewalt. Auswahl und Wirkung bei Kindern. Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2007.
ISBN 978-3-17-019403-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/6111.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.
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