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Sigrid Scheifele (Hrsg.): Migration und Psyche

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 15.04.2008

Cover Sigrid Scheifele (Hrsg.): Migration und Psyche ISBN 978-3-89806-864-2

Sigrid Scheifele (Hrsg.): Migration und Psyche. Aufbrüche und Erschütterungen. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2008. 160 Seiten. ISBN 978-3-89806-864-2. D: 22,90 EUR, A: 23,60 EUR, CH: 41,00 sFr.
Reihe: Psychologie & Gesellschaftskritik.

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Migration – Tabu und Multikulturalismus

Das "Jahrhundert der Flüchtlinge" hat auch in der Migrationsforschung zahlreiche Fragestellungen über Ursachen, Folgen und Auswirkungen der Migrationsbewegungen in Deutschland, Europa und Übersee veranlasst. Den Aktionen der Wanderungen, wie wir wissen aus vielfachen individuellen, gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen, demografischen und ökologischen Gründen, die bei den Betroffenen, ob jung oder alt und aus allen Regionen und Kulturen der Welt, nicht selten, wie die Psychoanalytiker Leon und Rebecca Grinberg feststellten, zu einem "Ich-Beben" führen – bewirken bei den Mehrheitsgesellschaften oft genug ein "Fremd-Beben", das sich in Ablehnung der Angekommenen, Fremdenfeindlichkeit, Ethnozentrismus und Rassismus ausdrückt. Als 1994, aus Sorge vor dem mangelnden und allzu zögerlichen politischen Gestaltungswillen, auf die globale Herausforderung der Migration in Deutschland zu agieren und zu reagieren, 60 Wissenschaftler aus den verschiedenen Fachrichtungen das "Manifest der 60 – Deutschland und die Einwanderung" vorlegten, veränderte sich erst langsam die bisherige Auffassung, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei. "Die wachsende Fremdenfeindlichkeit in Deutschland ist weder allein pathologischer Ausdruck einer allgemeinen Zivilisationskrise am Vorabend der Jahrtausendwende noch ’natürliche’ Reaktion auf Zuwanderungsdruck. Sie ist auch eine aggressive Antwort auf fehlende Konzepte in der Migrationspolitik". Seitdem liegen zahlreiche Forschungsergebnisse, Analysen, Prognosen und Programme vor, wie dem Dilemma begegnet werden kann.

Die Bedeutung der Migration wird von den  Migrantinnen und Migranten in unterschiedlicher Weise erlebt. Kulturelle und gesellschaftliche Verunsicherungen und Kränkungen werden dabei von den Betroffenen in je individueller Form bewältigt, aber auch eingegraben in die hintersten Winkel der Psyche. Nicht selten erleben die nachfolgenden Generationen der ursprünglich Eingewanderten in noch stärkerem Maße, dass sie zwischen zwei Stühlen sitzen. Die dabei entstehenden Polarisierungen und Spaltungen können Verunsicherungen, Persönlichkeitsstörungen und Aggressionen bewirken, die das Zusammenleben sowohl in der herkunftskulturellen Umgebung gefährden, als auch Integration in die mehrheitskulturelle Gesellschaft unmöglich machen. In dieser Situation hilft die interkulturelle Psychotherapie, um die Anpassungsanforderungen und die Integrationsbereitschaft in ein adäquates Verhältnis zueinander zu bringen.

Herausgeberin, Entstehungshintergrund und Thema

Die Soziologin, Psychologin und Psychoanalytikerin von der Johann-Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt/M., Sigrid Scheifele, bringt als Herausgeberin die bei zwei Tagungen des Frankfurter Psychoanalytischen Instituts zum Thema "Migration und interkulturelle Psychoanalyse" diskutierten interdisziplinären Beiträge in dem Buch zusammen. Dabei wird sowohl der Frage nachgegangen, "welche Voraussetzungen eine interkulturelle Psychoanalyse oder Psychotherapie begünstigen oder überhaupt erst in Gang kommen lassen", als auch danach Ausschau gehalten, wie "eine progressive Überwindung der Erschütterung durch Migration und Exil" möglich wird.

Inhalt

  • Der Soziologe und Mediziner, der Frankfurter Lehranalytiker Alf Gerlach setzt sich in seinem Beitrag "Faszination und Befremdung in der interkulturellen Psychotherapie" damit auseinander, in welcher Weise Formen und Verhaltensweisen des Unbewussten bei interkulturellen Begegnungen, bei der Wahrnehmung des Fremden und Fremdem in der psychoanalytisch-klinischen Arbeit mit Analysanden aus fremden Kulturen wirken und welche kulturellen und sprachlichen Möglichkeiten es gibt, therapeutisch zu arbeiten.
  • Die Berliner Psychoanalytikerin Irmhild Kohte-Meyer beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit Gedanken, Beobachtungen und Erfahrungen aus der psychoanalytischen Arbeit im transkulturellen Raum. Sie betrachtet dabei Migration als traumatisches und Konfliktgeschehen und reflektiert die von ihr angewandten Methoden und den psychoanalytischen Blickwinkel. In einem Fallbeispiel konkretisiert sie diese Thesen.
  • Die in Frankreich lebende Psychologin und Psychotherapeutin Gesine Sturm reflektiert die in Frankreich entwickelte und überwiegend in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, der Eltern-Kind-Therapie, der Psychiatrie im Rahmen von humanitären Einsätzen und in der transkulturellen Psychotherapie eingesetzte "transkulturelle Psychotherapie nach Marie Rose Moro".
  • Die Bremer Psychoanalytikerin Isabel Bataller Bautista berichtet über ihre Erfahrungen bei Forschungsinterviews und Gruppendiskussionen zwischen deutschen Studenten und Jugendlichen aus islamischen Kulturen während eines Forschungsprojektes: "Ambiguität, Angst und Fantasien im Kontakt mit Ausländern".
  • Der Göttinger Facharzt für Psychiatrie, Neurologie und Psychoanalyse, Mohammad Ebrahim Ardjomandi thematisiert die "Spezifität des ödipalen Konflikts der Muslime im Vorderen Orient am Beispiel Irans". Bei der Frage danach, ob "der Ödipuskomplex universelle Gültigkeit besitze", oder welche Verarbeitungsmodalitäten bei den einzelnen Kulturen festgestellt werden können, verweist er anhand von historischen und literarischen Quellen auf eine Reihe von mystischen Fantasien, die er in seiner psychotherapeutischen Praxis findet.
  • Die Frankfurter Gesellschaftswissenschaftlerin und Genderforscherin Ursula Apitzsch diskutiert die "Dialektik der Familienbeziehungen und … Gender-Differenzen innerhalb der Zweiten Generation" von Migranten in Deutschland. Dabei plädiert sie dafür, den in der Forschungsdiskussion umstrittenen Begriff der "Zweiten Generation" beizubehalten, weil "es gerade dieser Begriff ist, der die besondere Positionierung von Kindern nicht-deutscher Eltern in der Ankunftsgesellschaft zu interpretieren erlaubt".
  • Schließlich spricht der Züricher Psychoanalytiker Mario Erdheim über Beispiele von "Glück und Unglück in der Emigration". Diese als Selbstzeugnis aufgemachte Reflexion bringt zum Schluss des Buches die Ambivalenz zum Ausdruck, die in dem Migrationsgeschehen zwischen dem Gelingen eines Neubeginns und den Wiederholungszwang im Integrationsprozess zu finden ist.

Fazit

Die in dem Buch zusammengefassten und überarbeiteten Beiträge, die bei wissenschaftlichen Symposien diskutiert und in der Zeitschrift "psychosozial" (2003) veröffentlicht wurden, tragen zu einem wichtigen Baustein bei, um die Erkenntnisse über progressive Überwindungen der Erschütterung durch Migration und Exil in den Bau des gemeinsamen Hauses der Einen Welt einfügen zu können. Damit die Ankommenden wie die Einheimischen dort, wo sie leben wollen, heimisch sind!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1683 Rezensionen von Jos Schnurer.

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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 15.04.2008 zu: Sigrid Scheifele (Hrsg.): Migration und Psyche. Aufbrüche und Erschütterungen. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2008. ISBN 978-3-89806-864-2. Reihe: Psychologie & Gesellschaftskritik. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/6112.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.


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