Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V (ISS): Vernachlässigte Kinder besser schützen
Rezensiert von Martina Huxoll-von Ahn, 06.03.2009
Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V (ISS): Vernachlässigte Kinder besser schützen. Sozialpädagogisches Handeln bei Kindeswohlgefährdung. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2008. 158 Seiten. ISBN 978-3-497-01945-8. D: 16,90 EUR, A: 17,40 EUR, CH: 29,70 sFr.
Themen und Anliegen
Mit Einführung des § 8a SGB VIII im Oktober 2005 in das Kinder- und Jugendhilfegesetz ist eine schier unübersichtliche Fülle von Veröffentlichungen zur Wahrnehmung des Schutzauftrages bei Kindeswohlgefährdung erfolgt. Inwieweit sowohl die Quantität wie die Qualität vieler dieser Veröffentlichungen für den Praktiker/die Praktikerin hilfreich ist, sei dahin gestellt. Auf jeden Fall dürfte es schwierig sein, diese Fülle zu sichten und das für den eigenen Arbeitsbereich relevante Material zu finden.
Gleichzeitig ist die Umsetzungspraxis des § 8a SGB VIII vor Ort sehr unterschiedlich, was die Qualität, das Tempo, das Verständnis und den Entwicklungsstand betrifft. Diese Unterschiedlichkeit bezieht sich sowohl auf Organisationsprozesse in den Jugendämtern als auch auf die Aushandlung von Vereinbarungen mit freien Trägern und die für diese damit wiederum verbundenen notwendigen Organisationsprozesse. So positiv mancherorts die mit der Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben erfolgten Entwicklungen sind, die tatsächlich zu einer verbesserten Praxis in Fällen von Kindeswohlgefährdung geführt haben, so sind andernorts oftmals die Fachkräfte die Leidtragenden einer nicht ausreichenden Qualifizierung, die in Fällen von Kindeswohlgefährdung tatsächlich angemessen handeln zu können. Fehlende Informationen und ausbleibende Qualifizierungsmaßnahmen, gepaart mit einseitigen Dienstanweisungen führen infolgedessen zu großen Unsicherheiten in der Praxis. Dies betrifft vor allem die Fachkräfte, die in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten, von ihrem Auftrag und Leistungskatalog her aber nicht im engeren Sinne im Bereich der Kindeswohlsicherung tätig waren bzw. sind. Parallel zu diesen Entwicklungen steigt angesichts der öffentlichkeitswirksamen spektakulären Fälle von Kindesmisshandlung und –vernachlässigung, zumeist mit Todesfolge, der Druck auf die Fachkräfte, auf jeden Fall das Kindeswohl sicherstellen zu müssen. Und es ist festzustellen, dass – so hilfreich die Orientierung der gesetzlichen Grundlagen des Schutzauftrages ist – viele Fragen und Aspekte offen bleiben. Es ist sicherlich Absicht des Gesetzgebers gewesen, nicht alle Details über ein Gesetz zu regeln. Vielmehr ist der § 8a SGB VIII als Aufforderung an alle Akteure zu verstehen, sich fachlich und inhaltlich verstärkt mit der Frage auseinanderzusetzen, wie der Kinderschutz qualitativ und interdisziplinär verbessert werden kann. Gerade die spektakulären Fälle bieten die Möglichkeit sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob und welche Fehler an welchen Stellen und zu welchen Zeitpunkten gemacht wurden und aufgrund dieser Analyse die eigene Praxis entsprechend zu verändern.
Aufgrund der geschilderten Situation wollen die Herausgeber mit diesem Band „eine lehrbuchgemäße einführende Darstellung in das fachlich angemessene sozialpädagogische Handeln bei Kindeswohlgefährdung“ bieten, wie sie ihrem Erachten nach in dieser Form bis heute nicht vorliegt. Als Anspruch wird auch formuliert, mit diesem Buch sowohl Fachkräften als all jenen, denen das Wohl der Kinder am Herzen liegt, mehr Sicherheit für Fälle von Kindesmisshandlung und Kindesvernachlässigung zu geben. Gleichzeitig soll die Veröffentlichung aber auch Studierenden im Bereich des Sozialwesens Vorbereitung für das schwierige Arbeitsfeld des Kinderschutzes bieten.
Um diesem Anspruch gerecht zu werden, wurden von den Herausgebern vier Autoren gewonnen, die das Themenfeld aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten.
Aufbau und Inhalt
Das Buch gliedert sich insgesamt in 4 Kapitel.
Das erste Kapitel „Das Recht zum Schutz von Kindern“ (I) von Thomas Meysen bietet einen Überblick auf die im Kontext von Kindesvernachlässigung und –misshandlung relevanten gesetzlichen Grundlagen. Hierzu gehören sowohl verfassungsrechtliche Vorgaben wie solche aus dem BGB bezüglich der Themen: Elternrecht, staatliches Wächteramt (1) und Kindeswohl zwischen Entwicklungsförderung und Gefährdung (2). Ausführlich dargestellt wird § 8a SGB VIII (Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung) (3), auch bezüglich der Konsequenzen weiterer Aspekte wie dem Datenschutz oder der Inobhutnahme, die ebenfalls im Kinder- und Jugendhilfegesetz geregelt sind. Sodann werden die Möglichkeiten, die durch das erst kürzlich in Kraft getretene Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen (4) Bedeutung für die Praxis haben, vorgestellt. Weitere rechtliche Ausführungen beziehen sich auf die Kooperation im Kinderschutz (5) mit der Gesundheitshilfe, der Schule und der Polizei. Ausführungen zur Haftung und strafrechtlichen Verantwortung (6) runden die relevanten gesetzlichen und rechtlichen Grundlagen ab. Der Autor gibt zum Ende des Kapitels noch einen Ausblick auf die Rechtsentwicklung (7) und zieht ein Fazit (8).
Das zweite Kapitel „Kinder vor Gefahren für ihr Wohl schützen – Methodische Überlegungen zur Kinderschutzarbeit sozialpädagogischer Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe“ (II) ist von Christian Schrapper verfasst. Hier finden sich Ausführungen zu den Gefahren für das Wohl des Kindes (1), die Möglichkeiten des Kinderschutzes (2), zu Verfahren und Instrumenten für sozialpädagogische Fachkräfte zur Gefahrenerkennung und –abkehr (3) und zu sozialpädagogischer Intervention in akuten Gefährdungs- und Krisensituationen und ihre methodische Gestaltung (4).
Joachim Merchel ist der Autor des dritten Kapitels (III) und stellt „Kinderschutz: die Anforderungen an die Organisationsgestaltung im Jugendamt“ vor. Ausgeführt wird, dass effektiver Kinderschutz mehr ist als nur das Ergebnis individuellen kompetenten Handelns (1) und dass hinderliche Organisationsbedingungen einen effektiven Kinderschutz im Jugendamt erschweren können (2). Sodann werden die organisationsbezogenen Anforderungen zur Realisierung eines „guten Kinderschutzes“ im Jugendamt (3) aufgezeigt, eine Organisationskultur und Kinderschutz im Jugendamt als Teil einer lernfähigen Organisation (4) dargestellt sowie eine reflexive Organisationsstruktur im Jugendamt als günstige Voraussetzung für effektiven Kinderschutz (5) dargelegt. Weitere Ausführungen sind den Vereinbarungen zum Kinderschutz mit Trägern von Einrichtungen und Diensten (6) gewidmet. Das Kapitel schließt mit einer Zusammenfassung (7) mit dem Titel: „Effektiver Kinderschutz als Zusammenspiel von individueller Kompetenz und Organisationsgestaltung“.
Im vierten Kapitel (IV) stellt Christoph Hoppensack „Kevins Tod - Ein Fallbeispiel für missratene Kindeswohlsicherung“ aus Bremen dar. Zunächst wird die Organisation der Jugendhilfe im Bremen (1) skizziert, gefolgt von Ausführungen zu Kevin und seinen Eltern (2). Die Chronologie einer versäumten Sicherung des Kindeswohls (3) wird ergänzt mit der Beantwortung der Frage, warum Kevin nicht zu seinem Wohl gekommen ist und was man daraus lernen muss (4).
Hinweise zu den Autoren sowie Literaturangaben schließen die Veröffentlichung ab.
Fazit
Da ein qualitativ guter Kinderschutz nur interdisziplinär zu verwirklichen ist, ist es, wie in der vorliegenden Veröffentlichung geschehen notwendig, die Umsetzungserfordernisse aus den unterschiedlichen fachlichen Perspektiven zu beleuchten. Hilfreich ist dieser Band angesichts der Fülle an Veröffentlichungen zum Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung deshalb, weil er ausführliche rechtliche Informationen bietet, beispielsweise auch zu den Aspekten Haftung und Strafrecht und dies für Nicht-Juristen in sehr verständlicher Form. Darüber hinaus finden sich konkrete Anregungen und methodische Ideen für die Praxis sozialpädagogischer Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe im Kontext des Kinderschutzes im Allgemeinen sowie Anforderungen an die Organisationsgestaltung des Jugendamtes im Besonderen. Auch wenn mancherorts die Organisationsstrukturen und Praxis weit entfernt von den in diesem Band gemachten Rahmenbedingungen sind, können dennoch Aspekte der Beiträge in die fachlichen Diskussionen vor Ort eingebracht werden und wertvolle Argumente liefern. Die gut übersichtliche Darstellung des Fallbeispiels Kevin liefert der Praxis eine Fülle von notwendigen Informationen, diesen Fall rekonstruieren und reflektieren zu können und Folgen für die eigene Arbeit daraus ziehen zu können. Insbesondere Praktikern sei dieses Buch empfohlen, da es eine hohe Relevanz für die soziale Arbeit im Bereich des Kinderschutzes hat und gleichzeitig gut gegliedert und verständlich geschrieben ist. Aber auch der Anspruch, Studierende auf ihre mögliche Praxis damit vorbereiten zu können, ist eingelöst.
Rezension von
Martina Huxoll-von Ahn
Der Kinderschutzbund Bundesverband e.V.
stellv. Geschäftsführerin und fachliche Leitung
Website
Mailformular
Es gibt 27 Rezensionen von Martina Huxoll-von Ahn.
Zitiervorschlag
Martina Huxoll-von Ahn. Rezension vom 06.03.2009 zu:
Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V (ISS): Vernachlässigte Kinder besser schützen. Sozialpädagogisches Handeln bei Kindeswohlgefährdung. Ernst Reinhardt Verlag
(München) 2008.
ISBN 978-3-497-01945-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/6129.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.