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Katrin Schirmer: Soziale Sicherung von Strafgefangenen

Rezensiert von Prof. Dr. Heinz Cornel, 15.01.2009

Cover Katrin Schirmer: Soziale Sicherung von Strafgefangenen ISBN 978-3-428-12545-6

Katrin Schirmer: Soziale Sicherung von Strafgefangenen. Duncker & Humblot GmbH (Berlin) 2008. 297 Seiten. ISBN 978-3-428-12545-6. 78,00 EUR. CH: 131,00 sFr.
Reihe: Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht - 265.

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Entstehungshintergrund

Die von Katrin Schirmer vorgelegte Studie zur Sozialen Sicherung von Strafgefangenen wurde im Wintersemester 2006/2007 in Jena als juristische Dissertation angenommen – kurz nachdem die Föderalismusreform die Gesetzgebungskompetenz des Bundes beendet hatte und somit die Grundlage dafür, dass das Strafvollzugsgesetz mit seinen Regelungen zur Sozial- und Arbeitslosenversicherung im siebenten Titel nicht mehr bundesweit gilt. Als der hier zu besprechende Band 2008 im Verlag Duncker & Humblot erschien, galten die Regelungen nicht nur in mehreren Bundesländern nicht mehr, sondern es war auch ein Chaos von Bundes- und Landeszuständigkeiten entstanden, das zukunftsweisenden Lösungen im Wege stehen wird. Darauf wird noch einzugehen sein.

Thema

Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die §§ 190 bis 193 Strafvollzugsgesetz, die nie gemäß § 198 Abs. 3 StVollzG  in Kraft gesetzt wurden und so nun ohne jeweils rechtsbindend geworden zu sein nach 30 Jahren jede Relevanz verlieren. Die Autorin prüft, ob es nicht jenseits des § 198 Abs.3 eine sozialrechtliche Verpflichtung gibt, die Sozialversicherungsnormen in Kraft zu setzen (vgl. S.52ff. und S. 221ff.). Nun jedenfalls ist eine Situation entstanden, in der die Länder nicht die sozialversicherungsrechtlichen Regelungen mangels Gesetzgebungskompetenz ändern können und der Bund nicht die Strafvollzugsregelungen aufgrund fehlender Gesetzgebungskompetenz  für den Strafvollzug. Eine totale Blockade, vor der fast alle Fachleute gewarnt hatten. [1])In einer kleinen – bisher unbeantworteten -  Anfrage zum Thema „Einbeziehung von Strafgefangenen in die Sozialversicherung“ vom 24.11.2008 wird auf die Probleme dieser „Regelungslücke“ hingewiesen und u.a. festgestellt, dass  „viele Gefangene, denen die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung in der Regel nicht geläufig sein dürfte, …… die Pflicht zur Arbeit bei gleichzeitigem Ausschluss aus den Sozialversicherungssystemen als vom Staat veranlasste „Schwarzarbeit“ empfinden.“ Allein diese Anfrage zeigt, wie aktuell die Studie in vielerlei Hinsicht auch dann geblieben ist, wenn sich die Situation strafvollzugsrechtlich geändert hat. Die zu befürchtende Blockade geht zu Lasten der Gefangenen, von deren Integration und der Rechtsstaatlichkeit.

Aufbau und Inhalt

Die Arbeit enthält nach einer Einleitung mit Begriffsbestimmungen drei große Teile, denen sich Thesen und der Anhang anschließen.

Der erste Teil könnte man den historischen nennen, denn es geht in ihm um den sozialrechtlichen Status der Gefangenen vor und nach In-Kraft-treten des Strafvollzugsgesetzes im Jahr 1977. Dazu werden die einzelnen Zweige der Sozialen Sicherung für Gefangene seit der Entstehung des Sozialversicherungssystems im deutschen Kaiserreich untersucht und mit Rechtsquellen vorgestellt. Auf  den Rechtszustand nach dem Strafvollzugsgesetz einschließlich dessen Änderungen bis hin zur Wiedervereinigung wird detailliert eingegangen, wobei auch der Hinweis nicht fehlt, dass sich für Gefangene in der ehemaligen DDR die Situation insofern rechtlich verschlechterte, als sie vorher in die Rentenversicherung einbezogen waren (vgl. S.51).

Schon in diesem Teil weist die Autorin darauf hin, dass die BRD bereits 1963 hinsichtlich des Unfallversicherungsschutzes den Empfehlungen des zweiten Kongresses der Vereinten Nationen über Verbrechensverhütung und Behandlung Straffälliger entsprach, obwohl sie selbst damals noch kein UN-Mitglied war (vgl. S.26). Hinsichtlich der durch § 198 Abs. 3 suspendierten Einbeziehung der Gefangenen in die Kranken- und Rentenversicherung stellt sie fest, dass sich die Gesetzgebungstechnik, nämlich eine Regelung grundsätzlich zu verabschieden aber zunächst zu suspendieren wohl nicht bewährt habe, wenn es über Jahrzehnte bei dieser Außerkraftsetzung bleibe, wie es von Beginn an befürchtet wurde (vgl. S. 41f.).

Im zweiten Teil geht es um die soziale Sicherung der Strafgefangenen und ihrer Angehörigen nach dem geltenden Recht (bezogen auf das Jahr 2006). Da die Versicherungspflicht zentral an die Frage der entgeltpflichtigen Beschäftigungsverhältnisse gekoppelt ist, geht es zunächst ausführlich um Arbeitspflicht und Zwangsarbeit mit seinen verfassungsrechtlichen Konsequenzen, die hier nicht ausgebreitet werden können – eine Rezension soll ja auch Interesse wecken und nicht die Lektüre ersetzen. Die Autorin verfolgt auch hier mit großer Konsequenz alle Argumentationslinien, indem sie sich hinsichtlich der Folgen der Suspendierung durch § 198 Abs. 3 StVollzG auch auf die Familienangehörigen bezieht, die möglicherweise sozialrechtliche  Nachteile erdulden müssen, obwohl sie an der Straftat nicht beteiligt waren und unter dem Schutz von Ehe und Familie durch Artikel 6 Grundgesetz stehen. Überzeugend weist sie nach, dass die Arbeitspflicht im Strafvollzug zwar mit Artikel 12 Abs.3GG vereinbar und dieser verfassungsgemäß ist (vgl. S. 60ff.), aber gegen Artikel 2 Abs.2 lit.c des Übereinkommens Nr.29 der Internationalen Arbeitsorganisation widerspricht (vgl. S. 70ff.). Es besteht eine unzulässige Zwangs- und Pflichtarbeit (vgl.S.81) und Deutschland handelt völkerrechtswidrig (vgl. S. 82) – die innerstaatliche Rechtsordnung bleibt davon aber nicht direkt berührt.

Im dritten Teil werden dann eigene Reformvorschläge zur sozialen Sicherung der Gefangenen entwickelt. Dabei beginnt sie – wie schon oben genannt – mit gesetzlichen Regelungen zur Inkraftsetzung der §§ 190ff. StVollzG – heute müsste man die entsprechenden Landesgesetze hinzusetzen. Darüber hinaus beschäftigt sie sich in diesem Teil u.a. mit der Anerkennung der Haftstrafe als Anrechnungszeit im Sinne des § 58 SGB VI, mit der Einführung einer Nachzahlungsregelung im SGB VI und alternativer Strafsanktionen.

Die Autorin lässt diesem dritten Teil Thesen folgen, wobei diese teils zusammenfassend, teils programmatisch sind. Von besonderem Interesse sind meines Erachtens die Thesen 5, 9, 11 und 12.

  • In These 5 kommt die Autorin zu dem (auf den S 102ff. entwickelten) Ergebnis, dass Untersuchungsgefangene in allen Sozialversicherungszweigen versicherungspflichtig sind, da sie nicht zur Arbeit verpflichtet sind (vgl. S. 265).
  • In These 9 fordert sie die Erhöhung der Bemessungsgrundlage des Arbeitsentgelts auf mindestens 20% der sozialversicherungsrechtlichen Bezugsgröße,  da die jetzige Höhe nicht die verfassungsrechtlich gebotene Resozialisierung befördere (vgl. S.266).
  • In These 11 fordert die Autorin die baldige Aussetzung des § 198 Abs.3 StVollzG, weil sich der Gesetzgeber einer Selbstbindung unterworfen habe und dies aufgrund des Bestimmtheitsgebots und damit der Rechtsklarheit nicht endlos ignorieren könne (vgl. S. 266f.).
  • In These 12 führt sie aus, dass diese Einbeziehung der Gefangenen in die sozialen Sicherungssysteme nicht nur rechtlich, sondern auch sozialpolitisch notwendig ist (vgl. S. 267).

All dies sind Aussagen, die der kriminalpolitischen und strafvollzugsrechtlichen Debatte auch nach der Föderalismusreform gut tun.

Fazit

Das Buch ist gut recherchiert, argumentiert juristisch seriös und interessant zugleich, ist gut lesbar und engagiert geschrieben. Immer wieder wirft die Autorin sperrige Argumente ein, wo sie es sich hätte leichter machen können – das ist anspruchsvoll zum einen und wird der Lage der Gefangenen gerecht. Dass ein Teil der innovativen Argumente der Autorin aufgrund der Verlagerung der Gesetzgebungskompetenz auf die Länder nun ins Leere läuft, ist ihr nicht vorzuwerfen – kein Praktiker oder wissenschaftlicher Experte hatte auch nur ein Jahr vor der Parlamentsentscheidung  ein solches Element der Föderalismusreform erahnt oder für möglich gehalten.

Den Argumentationen und Anregungen ist eine breite Prüfung durch Politik und Praxis zu wünschen und deshalb ist die Lektüre dieser Schrift sehr zu empfehlen.


[1] (vgl. Cornel, Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug muss beim Bund bleiben, in: Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe 2005, S. 48ff.; Cornel, Lässt sich die Verlagerung der Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug auf die Länder noch stoppen? in: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe 2005, S.72ff.; Cornel, Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug – Föderalismuskommission wünscht Übertragung auf Länder, in: Neue Kriminalpolitik 2005, S. 2f. und Cornel,  Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug – eine Nachlese, in: Neue Kriminalpolitik 2005, S. 42f.).

Rezension von
Prof. Dr. Heinz Cornel
Jurist, Pädagoge und Kriminologe und seit 1988 Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Er ist Mitglied des Redaktionsbeirats der Zeitschrift Bewährungshilfe und war von 2009-2015 als Präsident des DBH Fachverbandes für soziale Arbeit, Strafrecht und Kriminalpolitik verantwortlicher Herausgeber. Seit 2019 ist er im Ruhestand, lehrt, forscht und publiziert aber weiterhin. Er ist auch Herausgeber und Redaktionsmitglied bei der Fachzeitschrift Neue Kriminalpolitik.
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Es gibt 6 Rezensionen von Heinz Cornel.

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ISSN 2190-9245