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Vera Moser, Ada Sasse: Theorien der Behindertenpädagogik

Rezensiert von Tobias Schubert, 12.12.2008

Cover Vera Moser, Ada Sasse: Theorien der Behindertenpädagogik ISBN 978-3-8252-3057-9

Vera Moser, Ada Sasse: Theorien der Behindertenpädagogik. UTB (Stuttgart) 2008. 131 Seiten. ISBN 978-3-8252-3057-9. D: 14,90 EUR, A: 20,50 EUR, CH: 34,70 sFr.
Reihe: UTB S (Small-Format.

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Thema und Zielsetzung

"Das Interesse der Wahrheit würde verlangen, dass die Denkenden sich endlich dazu herbeilassen, sich mit den Schaffenden zu verbünden" - mit diesem Diderot-Zitat leiten die Autorinnen ihr als Studienbuch konzipiertes Werk zu den wichtigsten Theorien der Behindertenpädagogik der Gegenwart ein. Und in der Tat: Das vorangestellte Zitat dient als Motto für die gesamte Darstellung, mit der es sich die Autorinnen zur Aufgabe machen, die in den letzten drei Jahrzehnten entstandene breite Vielfalt innerhalb der Behindertenpädagogik darzustellen unter Bezug auf die sechs in der Gegenwart einflussreichsten Theorieansätze.

Ihr erklärtes Ziel ist es dabei, einen einführenden Überblick über die aktuelle Theoriebildung des Faches zu geben, da pädagogische Praxis gleichermaßen Aspekte des "Wissens" (Denkens) und des "Könnens" (Schaffens) beinhalte (S. 8). Moser und Sasse leisten mit dem vorliegenden Buch gleichzeitig auch einen Beitrag zur Kompensation der Entwicklung der letzten 50 Jahre, in denen sich die starke Ausdifferenzierung der behindertenpädagogischen Theoriebildung vor allem in ihrem Fachrichtungsbezug und eben weniger in Entwürfen einer gemeinsamen Behinderten- bzw. Heilpädagogik niederschlug.

Die Autorinnen gehen aus von der Feststellung, dass im behindertenpädagogischen Bereich tätige Professionelle "solide sozialwissenschaftliche, erziehungswissenschaftliche sowie entwicklungspsychologische Wissensbestände" benötigen (10), die ihnen "als professioneller Orientierungsrahmen in den komplexen Situationen des pädagogischen Alltags zur Verfügung" stehen (ebd.).

Aufbau und Inhalt

  • Im ersten Kapitel Wozu brauchen wir Theorie? Zum Theorie-Praxis-Verhältnis in der Erziehungswissenschaft legen die Autorinnen mit Ausführungen zum Verhältnis von Wahrnehmung, Realität und Theorie sowie zur Alltagssprache und Fachsprache die Grundlagen für ein differenziertes Theorieverständnis und betonen damit gleichzeitig die Verwendung des Fachbegriffs "Behinderung", der als solcher frei von einer stigmatisierenden Bedeutung sei. Die Autorinnen plädieren dafür, unter Rückbezug auf Objekt- und Metatheorie Fachtexte kontextbewusst zu lesen (14) und damit zu einem ausgewogenen Verhältnis von Theorie und Praxis zu finden: Einerseits fließen in jede praktische Handlung theoretische Erwägungen bewusst oder unbewusst ein (17) und ermöglichen so Strukturierung, andererseits gehen trotz dieser Wechselwirkung Theorie und Praxis nicht ineinander auf, da der Theoriebildung ein Erkenntnis- und kein praktisches Wirksamkeitsinteresse zugrunde liegt (18).
  • Mit Kap. 2 Der Behinderungsbegriff als Konstitutionsproblem nehmen Moser und Sasse Bezug auf den Behinderungsbegriff als zentrale Kategorie innerhalb der Behindertenpädagogik. Als Paradigma gewährleistet er "auf der Basis eines gemeinsam geteilten Erklärungsmodells innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft Kommunikation" (21), allerdings epochenspezifisch und damit nicht unabhängig von gesellschaftlichen Prozessen. Verstanden als "gemeinsame Problematik" unterschiedlicher körperlicher, geistiger und seelischer Abweichungen wird er als Kernstück der behindertenpädagogischen Theoriebildung verstanden, die sich über lange Zeiträume historisch ausdifferenziert hat. Beginnend im 18. Jahrhundert beschreiben die Autorinnen in einem Exkurs diese Entwicklung bis ins beginnende 21. Jahrhundert, so dass die "Verschränkung von gesellschaftlichen Prozessen, professionellen Interessen und institutionellen Entwicklungen" (33) deutlich und der Behinderungsbegriff als "durchaus wandlungsfähige Kategorie" (35) erkennbar wird. Die innerhalb dieser Entwicklung geäußerte Kritik am Behinderungsbegriff mündete in die so genannte Paradigmendebatte des ausgehenden 20. Jahrhunderts, die von den Autorinnen sehr prägnant im Kontext der allgemeinen Demokratisierung der Lebensverhältnisse dargestellt wird.

Die folgenden 6 Kapitel widmen sich je einem für die Entwicklung der Behindertenpädagogik bedeutsamen Theorieansatz in einem wiederkehrenden und damit den Vergleich erleichternden Aufbau: Ausgehend von den wissenschaftstheoretischen Grundlagen (Kontexte) werden die zentralen Aussagen des jeweiligen Ansatzes zum Behinderungsbegriff dargestellt. Diesen schließen sich Ausführungen zum jeweiligen Entwurf einer Behindertenpädagogik an. Insbesondere die Darstellungen zum jeweiligen Theoriebezug verhelfen dem Leser zur Einordnung des Ansatzes, bevor mit der abschließenden Kritischen Würdigung und jeweils sehr prägnanten stichpunktartigen Zusammenfassung wertvolle Hinweise zur Rezeptionswirkung, Bewertung und zu den jeweiligen Auswirkungen auf didaktische Modelle und die pädagogische Profession gegeben werden.

  • Das Kapitel 3 Behindertenpädagogik im Rahmen der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik widmet sich der geisteswissenschaftlichen Theoriebildung des 20. Jahrhunderts, wie sie vorwiegend in den Arbeiten Paul Moors, Emil E. Kobis und Urs Haeberlins zum Ausdruck kommt. Den Autorinnen gelingt es hierbei, einen auch durch eingeflochtene Zusammenfassungen gut lesbaren Überblick über die Komplexität der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik mit ihren Querbezügen zu existenzphilosophischen und religiösen Zugängen zu geben und damit die beschriebenen "dezidierten heilpädagogischen Werthaltungen" (51) nachvollziehbar werden zu lassen.
  • In Kapitel 4 stellen die Autorinnen die Behindertenpädagogik im Rahmen des Kritischen Rationalismus dar, die maßgeblich durch die Arbeiten Bleidicks geprägt wurde. Moser und Sasse würdigen diesen Ansatz als bedeutenden Schritt "auf dem Weg zu einer Verwissenschaftlichung der Behindertenpädagogik im 20. Jahrhundert" (63), der aufgrund seiner komplexen metatheoretischen  Reflexionen die Behindertenpädagogik bis in die Gegenwart beeinflusst.
  • Die Behindertenpädagogik im Rahmen des Dialektischen Materialismus findet im 5. Kapitel Raum. Ausgehend von einer kurzen Darstellung des naturwissenschaftlichen und gesellschaftstheoretischen Materialismus gehen die Autorinnen insbesondere auf die Arbeiten Jantzens, Feusers und Rödlers ein, deren Behinderungsbegriff sich insbesondere durch den Rückgriff auf die Kulturhistorische Schule der sowjetischen Psychologie herausgebildet hat. Moser und Sasse gelingt es auch hier, die außerordentlich komplexen theoretischen Sachverhalte stringent darzustellen und Auswirkungen auf die Bestimmung einer spezifischen (rehistorisierenden) Diagnostik und (integrativen) Didaktik nachvollziehbar zu beschreiben und angemessen zu würdigen.
  • Kapitel 6 widmet sich der Behindertenpädagogik im Rahmen ökosystemischen Denkens. Die Autorinnen beschreiben die Entwicklung einer ökosystemischen Pädagogik, deren Hauptaugenmerk auf der Verortung des von Behinderung Betroffenen in seinem vielschichtigen Mensch-Umfeld-System liegt. Ausgehend von der "Kind-Umfeld-Analyse" rücken damit wichtige Fragen der Schul- und Systementwicklung in den Mittelpunkt, auch wenn die Autorinnen zu Recht darauf hinweisen, dass sich ökosystemische Denkansätze in der Behindertenpädagogik weniger durch eine stringente Theoriebildung auszeichnen (83) und deutliche Bezüge zur Geisteswissenschaftlichen Pädagogik bestehen. Gerade die Benennung dieser Einschränkungen und weiterer Forschungsdesiderate bildet eine wichtige Grundlage zur Einordnung dieses theoretischen Ansatzes.
  • In Kapitel 7 wenden sich die Autorinnen den jüngeren Theoriemodellen der Behindertenpädagogik im Rahmen des Konstruktivismus zu. Auch hier gelingt ihnen ein überaus fundierter Abriss der sehr komplexen Theoriebezüge und ihrer Auswirkungen auf die Didaktik bis hin zu einer pädagogischen Ethik (96). Die Problematik der Überschneidung mit anderen theoretischen Ansätzen kommt auch hier zur Sprache; auf die Gefahr einer nur formelhaften Übernahme wesentlicher Kerngedanken des Konstruktivismus weisen die Autorinnen zu Recht hin.
  • Mit einer Darstellung der Integrationspädagogischen Ansätze der Behindertenpädagogik schließen Moser und Sasse in Kapitel 7 ihren Überblick ab. Ausgehend von den sozial- und schulpolitischen Kontexten beschreiben sie den sich wandelnden Behinderungsbegriff im Spannungsfeld von Integration und Inklusion, in dem es schließlich zu einer grundlegenden Abkehr vom Behinderungsbegriff kommt (105). Die Auswirkungen auf die Behindertenpädagogik werden sehr konkret beschrieben, so dass die Ablehnung einer "Spezialpädagogik" hin zu einer allgemeinen Pädagogik in einer "Schule für alle Kinder" für den Leser nachvollziehbar ist. Es gelingt den Autorinnen, hier die Verzahnung von Erziehungswissenschaft und Bildungspolitik zu verdeutlichen  und gleichzeitig auf den selbstkritischen Diskurs aufgrund mangelnder bildungspolitischer Erfolge und der Vernachlässigung spezifischer Themen, wie der Problemlage sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher, hinzuweisen (110).
  • Das abschließende Kapitel 9 Theorieperspektiven der Behindertenpädagogik legt ein wichtiges Augenmerk auf die Gemeinsamkeit der dargestellten theoretischen Ansätze, die die Autorinnen in der Wandlung des Behinderungsbegriffs sehen. In einer Zusammenschau der dargestellten theoretischen Ansätze arbeiten Moser und Sasse das Spannungsfeld heraus, in dem sich die behindertenpädagogische Theorieentwicklung befindet: Die Spezifizierung der Behindertenpädagogik auf der einen Seite sowie Vorschläge zu deren Verallgemeinerung auf der anderen Seite mit der Gefahr einer unscharfen Bestimmung des Fachs und der Profession. Die Autorinnen sprechen sich vor diesem Hintergrund für eine zunehmende empirische Erforschung des behindertenpädagogischen Handelns in "riskanten Lebenslagen" aus, die "in Fragen der Herstellung von Gerechtigkeit eingebunden ist" (117).

Diskussion

Das vorliegende Buch ist ein Lehrbuch, das in nahezu idealer Weise Tiefe und Prägnanz miteinander verbindet. Seine klare Gliederung und stringente Darstellung sehr komplexer theoretischer Sachverhalte gibt einen umfassenden Überblick über die derzeit aktuellen und wesentlichen Theorierichtungen der Allgemeinen Behindertenpädagogik in bewusster Abgrenzung von fachrichtungsspezifischen Theorien.

Es gelingt den Autorinnen dabei, die Komplexität zu entflechten und Querbezüge zu verdeutlichen, ohne unzulässig zu vereinfachen oder zu verkürzen. Das Buch ist damit geeignet, einen ersten Überblick über relevante theoretische Fragestellungen der Disziplin zu bekommen oder aber auch vorhandenes Wissen zu erweitern und zu aktualisieren. Durch seine fachliche Tiefe und seinen umfangreichen Literaturbezug ermöglicht es darüber hinaus, sich für die Lektüre einschlägiger Autoren den notwendigen theoretischen Hintergrund zügig zu erarbeiten und so notwendige Einordnungen vorzunehmen.

Fazit

Die Theorien der Behindertenpädagogik sind damit ein wichtiges Grundlagenwerk für das Studium der allgemeinen und besonderen Erziehungswissenschaft, insbesondere der Sonder-, Heil-, Rehabilitations- bzw. Behindertenpädagogik. Dem "Praktiker" dient es der Auffrischung seiner theoretischen Kenntnisse, indem es Kontexte erhellt, Querbezüge herstellt und Zusammenhänge verdeutlicht. Nicht zuletzt durch visuell abgesetzte präzise Zusammenfassungen ermöglicht es eine schnelle Orientierung innerhalb eines komplexen Lerngegenstandes.

Rezension von
Tobias Schubert
Hauptamtlicher Studienleiter im Schulartteam Sonderpädagogik am Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein (IQSH), Systemischer Berater (DGsP), Landesfachrichtungsberater für den Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung in Schleswig-Holstein
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Es gibt 8 Rezensionen von Tobias Schubert.

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ISSN 2190-9245