Stephan Baumgartner: Kindersprachtherapie
Rezensiert von Tobias Schubert, 04.05.2009

Stephan Baumgartner: Kindersprachtherapie. Eine integrative Grundlegung. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2008. 360 Seiten. ISBN 978-3-497-01954-0. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 50,50 sFr.
Thema
Stephan Baumgartner legt mit dieser Veröffentlichung ein neues Grundlagenwerk vor, in dem er die bislang äußerst heterogenen Ansätze zu einem neuen einheitlichen und eigenständigen Fachgebiet „Kindersprachtherapie“ zusammenführt. Er dokumentiert damit, wie es in Volker Maihacks Vorwort heißt, „auf höchstem fachlichem Kenntnisstand eindringlich die Notwendigkeit eines ideologiefreien, schulenübergreifenden, integrativen Verständnisses der Sprachtherapie mit dem Klienten Kind“ (10). Baumgartners Postulat ist engagiert, vielleicht sogar gewagt, auf jeden Fall aber auf 350 Seiten äußerst umfangreich mit ausgeprägt wissenschaftlichem Anspruch begründet: Es geht ihm um die Etablierung einer einheitlichen akademischen Kindersprachtherapie im deutschsprachigen Raum, die das aktuelle Wissen über das Fachgebiet bündelt und zugleich ihre Grundlagen neu ordnet.
Autor und Entstehungshintergrund
Mittlerweile etliche Generationen von Sprachtherapeutinnen und Sprachtherapeuten verbinden mit dem Namen Stephan Baumgartner das bereits in 5. Auflage gemeinsam mit Iris Füssenich herausgegebene Standardwerk „Sprachtherapie mit Kindern“. So erscheint es schlüssig, zu diesem jahrzehntelangen Arbeitsschwerpunkt nun eine wissenschaftliche Grundlegung vorzulegen, die Baumgartner einmal mehr als vernetzt denkenden und im Rahmen des Forschungsinstituts für Sprachtherapie und Rehabilitation (FSR) am Lehrstuhl für Sprachheilpädagogik der Universität München interdisziplinär forschenden und lehrenden Wissenschaftler ausweist.
Aufbau und Inhalt
Baumgartner spannt in seinem Grundlagenwerk einen weiten Bogen über zwei wesentliche, sich zu einem Gesamtentwurf ergänzende Schwerpunktbereiche. Die ersten sechs Kapitel widmet der Autor einer Spezifizierung dessen, was unter Kindersprachtherapie als Wissenschaft verstanden werden soll. Alle weiteren der insgesamt 16 Kapitel umfassen die unterschiedlichen „Orientierungen“ einer Kindersprachtherapie, hier zugleich verstanden als Orientierung an wissenschaftlichen Grundlagen, Teil- und Nachbardisziplinen, wie auch als Orientierung für denjenigen, der einen wissenschaftlich fundierten Überblick über dieses Fachgebiet gewinnen möchte.
Baumgartner leitet ein mit einem Überblick über die Situation der Sprachtherapie in deutschsprachigen Ländern. Die Vielfalt der sprachtherapeutischen Berufsgruppen mit sehr unterschiedlichen Ausbildungsgängen und Qualifikationsprofilen führte zu einer Pluralisierung, an der bislang auch die Harmonisierung europäischer Hochschulabschlüsse im Rahmen der Bachelor-/Master-Studiengänge nichts Grundlegendes geändert hat.
Mit Kapitel 1 (Kindersprachtherapie: Begriff und Gegenstand) eröffnet der Autor das Feld für die sukzessive begriffliche Eingrenzung und interdisziplinäre Vernetzung einer Kindersprachtherapie, in deren Fokus der „Kindklient“ mit seinen sprachlichen Interaktionen und Lernprozessen (22) steht.
Als Ausgangspunkt wählt Baumgartner die Therapieleitende und –begleitende Diagnostik (Kap. 2), die nach seinem Verständnis polyfaktoriell ausgerichtet sein und „auf einem störungsübergreifenden Diagnostiksystem“ (27) basieren muss. Mit der Unterscheidung von Prozess- und Zieldiagnostik präzisiert Baumgartner die Wege zu einer „konstruktiv verhandelten Zielformulierung“ (31) in bewusster Abgrenzung zu typischen Fehlern bei der Definition von sprachtherapeutischen Zielen (32).
Baumgartners Anspruch einer Kindersprachtherapie als Wissenschaft (Kap. 3) nimmt Bezug auf die Teildisziplinen der Linguistik, Psychologie, Pädagogik und Medizin, stellt aber gleichzeitig heraus, dass es bis heute keinen befriedigenden Informations- und Wissenstransfer innerhalb eines gemeinsamen Forschungs- und Praxisfeldes gibt (33). Die Antwort hierauf kann dem Autor zufolge nur die Etablierung einer neuen crosskategorialen Therapiewissenschaft sein, deren Aufgabe die Entwicklung integrativer Theorien für die kindersprachtherapeutische Praxis ist. Ausgehend von diesem Prinzip der Polyintegrativität postuliert der Autor eine neue, einheitliche, wissenschaftliche Kindersprachtherapie mit einer autonomen Identität, jenseits aller trennenden bisherigen Berufsbezeichnungen und Ausbildungsgänge, die Grundlagen- und Praxiswissenschaft zugleich sein soll.Sie bedient sich dabei sowohl quantitativer als auch qualitativer Forschungsmethoden, wohl wissend, dass der „empirisch-analytische Zugang zu kindersprachtherapeutischen Fragestellungen […] Einschränkungen (unterliegt)“ (44). Was kennzeichnet die Person des Kindersprachtherapeuten?
Dieser Frage geht der Autor in Kap. 4 (Der Kindersprachtherapeut) nach. Er benennt grundlegende Prinzipien der Kindersprachtherapie, mit denen der Therapeut auf der Grundlage seines polyintegrativen Expertenwissens (48) und berufsspezifischer persönlicher Kompetenzen und Handlungsrepertoires therapeutische Settings unter Rückgriff auf unterschiedliche therapeutische Stile und Haltungen gestaltet (54). Dabei geht es um die Entwicklung effektiver Gesprächs- und Handlungsstrategien (55) in der Kombination von hard skills und soft skills.
Die Ausbildung zum Kindersprachtherapeuten (Kap. 5) ist Baumgartner ein sichtlich bedeutsames Anliegen. Im Kontext der neuen BA-/MA-Studiengänge kritisiert er das gründliche Versagen der klassischen Vermittlungsstrategien der Hochschulen (58), deren Absolventen die Generalisierung ihres Fachwissens nicht gelinge. Baumgartner postuliert hier ein problembasiertes Lernen im Rahmen einer projektorientierten Lehre, die sich einem aufwendigen – wenn auch momentan wohl kaum realisierbaren – Anerkennungsverfahren zu stellen habe (60).
Mit seinen Ausführungen zu den Prinzipien und Besonderheiten der Kindersprachtherapie (Kap. 6) leitet Baumgartner über zu den übergreifenden Orientierungen, die traditionelle und reduktionistische Orientierungen relativieren und erweitern. Ausgehend von der ernüchternden Feststellung „Was therapieentscheidende oder therapiemitentscheidende Wirkfaktoren in der Kindersprachtherapie sind, kann die Wissenschaft derzeit nicht beantworten“ (62), überträgt Baumgartner Erkenntnisse der Psychotherapieforschung auf die Kindersprachtherapie und formuliert die besonderen Anforderungen, die sich aus der Arbeit mit Kindern ergeben. Die hierfür relevanten grundlegenden Orientierungen sind ausführlicher Gegenstand der weiteren zehn Kapitel:
- Spracherwerbsorientierung (Kap. 7) Der Rückbezug auf Spracherwerbstheorien ist ein wesentlicher Ansatzpunkt zum Verständnis von kindlichen Sprachstörungen. Baumgartner fordert hier die Verknüpfung der „Parallelwelten von Lernpsychologie, Pädagogischer Psychologie und Entwicklungspsychologie einerseits und Entwicklungspsycholinguistik andererseits“ (68), um konservierende Grenzen zu überschreiten, Gemeinsamkeiten offen zu legen und Erkenntnisse zu bündeln (68). Zum Verständnis der Komplexität des Spracherwerbs sind integrative Theorien notwendig, die Baumgartner unter den Stichworten „Integration“, „Konnektion“, „Kognition“ und „Interaktion“ mit ausgeprägt wissenschaftlichem Duktus fachlich fundiert beschreibt und in Beziehung setzt zu Aspekten der genetischen Anlage und Reifung (78).
- Störungsorientierung (Kap. 8) Ausgehend vom Störungsbegriff und einem Überblick über Klassifikationssysteme problematisiert Baumgartner „erhebliche Differenzen zwischen der Diagnose der Ärzte und der der Sprachtherapeuten“ (89), die er auf den weiten Interpretationsspielraum der Diagnosekriterien zurückführt. Auch sei festzustellen, dass gerade bei multiplen Störungen nicht befriedigend geklärt ist, welche Intervention die beste ist (89). Große Bedeutung für die Sprachtherapie misst der Autor der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) bei, deren ressourcenorientierte Prinzipien einer Orientierung an bio-psycho-sozialen Aspekten „den sprachtherapeutischen Fokus weg vom Krankheitszustand auf den Gesundheitszustand eines Kindes mit Sprachstörung“ lenkt (91) und somit seine lebensweltliche Gesamtsituation berücksichtigt. Daraus ergibt sich nach Ansicht Baumgartners, dass die wissenschaftliche Kindersprachtherapie „ihr Störungs- und Veränderungswissen noch deutlicher als bisher auf die Aktivitäts- und Partizipationsebene hin entwickeln“ (94) und die ICF als gemeinsame Planungsgrundlage für Interventionen unterschiedlicher Disziplinen nutzen muss. Baumgartner erörtert in diesem Zusammenhang sehr kritisch die Rolle der Medizin, der eine „Definition des erlebenden Körpers“ fehle (98), und beleuchtet kurz die „Lehren aus der Geschichte“ der Sprachheilpädagogik, in deren Verlauf die „Vorstellung von der Relationalität einer sprachlichen Störung wuchs“ (100).
- Methodenorientierung (Kap. 9) Ausgehend von einer therapeutischen Methodik als „Teildisziplin der Kindersprachtherapiedidaktik“ (103) konstatiert Baumgartner eine „eher lockere Wechselbeziehung zwischen theoretischen Konzepten und methodischen Strategien“ (103) bei einer eher polymethodischen Ausrichtung der Praktiker (104). Anhand von Beispielen aus der Stottertherapie, der Therapie phonetisch-phonologischer Störungen und der Stimmtherapie verdeutlicht der Autor die Praxis der Methodenkombination in Abhängigkeit von der sprachlichen Symptomatik, der Persönlichkeit des Kindes sowie seinen kognitiven, sozialen und emotionalen Voraussetzungen (109). Sehr dezidiert stellt Baumgartner die Methodenvielfalt am Beispiel der Sprachentwicklungsstörung dar, die sich in naturalistische, programmatische und Sprachentwicklungsansätze auffächert. Die Unterscheidung spezifischer von unspezifischen, direkten und indirekten Methoden sowie die Gegenüberstellung individueller Therapie und übender Programmtherapie vertiefen das Kapitel. Als wesentliche methodische Prinzipien beschreibt der Autor das Strukturieren sprachlicher Lerninhalte auf der einen und das Adaptieren auf der anderen Seite als Ausdruck einer „starken Orientierung an der aktuellen Lehr- und Lernsituation und am Prinzip des mehrmethodischen Vorgehens“ (131). Abschließend nimmt Baumgartner deutlich Stellung zum Aspekt der Gruppen- versus Einzelintervention: „Man wünscht sich hierzulande manchmal mehr Mut zum humanen Experiment mit Sprache lernenden Gruppen“ (138).
- Entwicklungsorientierung (Kap. 10) Die Stimulierung sprachlicher Entwicklung bedarf eines entwicklungsorientierten Vorgehens wie z. B. der entwicklungsproximalen Sprachtherapie nach Dannenbauer. Ausgehend vom Kind als kompetentem und selbstaktivem Lerner betont Baumgartner die „hohe autonome Leistung des Kindes“ (143) in der Sprachtherapie, die ihrerseits auch „erhebliche Anforderungen an die (sprach-)erzieherischen Kompetenzen von Eltern“ stellt (144). Im Spannungsfeld von sensibler Entwicklungsphase und Entwicklungsplastizität verweist Baumgartner auf die Bedeutung der mehr oder weniger sprachanregenden Umwelt und einer Sprachtherapie, die Zeit investiert, um mehr in die Tiefe statt in die Breite zu gehen und Eltern „bewusster für achtsame Spracherziehung“ werden lässt (149).
- Orientierung an Person und Diversität (Kap. 11) Die Bedeutung einer Personenzentrierung in der Kindersprachtherapie ergibt sich für Baumgartner aus Erkenntnissen der Psychotherapieforschung, die die Bedeutung der Person des Klienten und der therapeutischen Beziehung für den Therapieerfolg betonen: „Ist Lernen erfolgreich, überlagert die Beziehungsebene die Inhaltsebene“ (153). Erkenntnisse zum Selbstkonzept machen es notwendig, therapeutische Rollen zu reflektieren, um Selbstwirksamkeit des Kindes, Selbstwertgefühl, Resilienz und damit letztlich Compliance zu fördern. Die grundlegende Gefahr einer Reduktion der Personorientierung ergibt sich dabei aus einer zu starken Verpflichtung zur evidenzbasierten Qualitätssicherung sprachtherapeutischen Handelns. Die zunehmende Diversität der kindersprachtherapeutischen Klientel in Form sozialer, kultureller und ökonomischer Ungleichheit fordert Sprachtherapeuten in ihrer „kulturellen Responsivität“ (162) und (methodischen) Anpassungsfähigkeit an sehr unterschiedliche Lebenswelten.
- Beziehungsorientierung (Kap. 12) „Sprachtherapie ist Beziehungstherapie“ (167), andererseits gilt auch: „Der Beziehungsbegriff ist in der Kindersprachtherapie unscharf“ (169). Ausgehend von diesen Feststellungen präzisiert Baumgartner den Beziehungsbegriff und benennt zentrale erfolgsvermittelnde Kategorien (173) der Beziehungsgestaltung. Differenzierte Ausführungen zum Bindungsbegriff und –verhalten bieten wertvolle vertiefende Hinweise im Hinblick auf die Förderung einer Bindungssicherheit in der Therapie.
- Ressourcenorientierung (Kap.
13)
Zu einem Wissen um die Störung muss ein Wissen um die Veränderungsmöglichkeiten, die Ressourcen einer Person, hinzutreten. Baumgartner benennt die unterschiedlichen Ressourcen-Kategorien und setzt diese in Beziehung zum Bedürfnis des Klienten nach Kontrolle und Wirksamkeit, das sich bei einer gelungenen Ressourcenaktivierung wirkungsvoll verwirklichen lässt. - Lehr- und Lernorientierung (Kap. 14) In diesem umfangreichsten Kapitel entwirft Baumgartner eine moderne Didaktik der Sprachtherapie, die verhaltensorientierte Perspektiven mit kognitivistischen, systemischen, konstruktivistischen und neurobiologischen Perspektiven verbindet. Ausgehend vom Lernbegriff argumentiert der Autor für ein lerntheoretisch fundiertes Vorgehen, das die Grundlage für wichtige und unverzichtbare sprachtherapeutische Techniken (203) legt. Die Gegenüberstellung impliziter und expliziter Lernprozesse verdeutlicht wichtige Aspekte, die in der Kindersprachtherapie zum Tragen kommen und in ihrer Allianz den „Sprachtherapeuten über den Status von Laien“ emporhebt (214 f.). Einen breiten Raum widmet Baumgartner dem konstruktivistischen Paradigma, das als Grundhaltung einer offenen, lern- und lernerorientierten Lernkultur (217) verstanden wird und zu einer Selbstorganisation des Lernens führt: „Sprache wird vom Lerner (re-)konstruiert“ (219). In dem Bewusstsein, „dass es in sprachlichen Interaktionssequenzen keine linearen Kausalitäten gibt“ (219), postuliert Baumgartner die Eigenaktivität des Lerners, der sich im Spannungsfeld von Instruktion und Konstruktion zunehmend selbstregulativ verhält. Als weiteren essenziellen Aspekt der Kindersprachtherapie beschreibt der Autor Emotionalität und Motivation, da sprachliche Lernfortschritte „an die emotionale Qualität der sprachlichen Interaktion gebunden“ sind (231) und diese emotionale Beteiligung hoch mit der Gedächtnisleistung korreliert. Wesentliche Erkenntnisse der Neuropädagogik verdeutlichen die Bedeutung verschiedener Speichersysteme für den Erwerb von Sprache sowie der Ausbildung neuronaler Netze. In Verbindung mit dem emotionalen Gehalt der Lerninhalte erzeugt das Individuum in einem aktiven Prozess Bedeutung, der wiederum konstruktivistische Lerntheorien bestätigt (240 f.). Baumgartner folgert daraus einen notwendigen Gleichschritt von Geistes- und Naturwissenschaft, die sich gegenseitig ergänzen, aber nicht ersetzen können. Diese Grundlagen bezieht Baumgartner in einem nächsten Schritt auf sprachtherapeutischen Unterricht im Spannungsfeld zur Kindersprachtherapie, darüber hinaus auch auf die Kooperation mit Bildungseinrichtungen. Hier ist es das Verdienst des Autors, mit höchtsmöglicher begrifflicher Klarheit Aspekte der „Sprachförderung“, „Sprachtherapie“, „Frühförderung“ und „Prävention“ voneinander abzugrenzen, gerade weil es hierzu noch keinen allgemeinen Konsens gibt.
- Kollaborationsorientierung (Kap. 15) Für die interprofessionelle Zusammenarbeit benötigen Kindersprachtherapeuten hohe Kompetenzen in Beratung, Anweisung und Koordination (259). Baumgartner beschreibt Beratung und Prävention als wesentliche Unterstützungsformen der Kindersprachtherapie auf der Grundlage eines erweiterten Normalitätsverständnisses und integriert in vielfältige Alltagsbezüge. Dem Prinzip der Vernetzung folgend entwickelt der Autor die Vision einer integrierten therapeutischen Versorgung, z. B. in Form von Praxisnetzen verschiedener Professionen. Einen Schwerpunkt legt Baumgartner dabei auf die viel bewusstere Einbeziehung der Eltern im Sinne einer Elternpartizipation (267), die große Chancen zum Aufbau elterlicher Selbstwirksamkeit birgt. Unter dem Stichwort „Elternexpertise“ geht es dem Autor dabei auch um die Nutzung spezifischer Elterneffekte für die Sprachtherapie, die allgemein noch zu wenig reflektiert werden.
- Qualitätsorientierung (Kap. 16) Baumgartner schließt mit diesem Kapitel den Bogen der Orientierungen einer akademischen Kindersprachtherapie. Er diskutiert sehr differenziert die unterschiedlichen Aspekte einer Therapiequalität sowie die für die Ermittlung erforderlichen Leitlinien. Fragen der Dokumentation und empirischen Überprüfung zur Feststellung der Wirksamkeit einer Kindersprachtherapie treffen auf die Problematik der Begrenzung von Variablen im therapeutischen Setting, das sich damit einer wissenschaftlichen Effektivitätsüberprüfung immer wieder entzieht. Baumgartner problematisiert sehr gut nachvollziehbar die Konsequenzen für eine evidenzbasierte Praxis, die Evidenz und Theorie in ein stimmiges Verhältnis setzen muss, und gewährt auch der notwendigen Kritik an der Evidenzbasierung angemessenen Raum. Er plädiert in der Konsequenz für eine alltagstaugliche Effectiveness-Forschung mit anderen Designs (313) und partizipative Evaluation unter Einbeziehung qualitativer und dialogisch ausgerichteter Methoden, für deren Etablierung eine Koalition aller in der Kindersprachtherapie Tätigen im Sinne von Forscher-Praktiker-Netzwerken erforderlich wäre.
Diskussion
Stephan Baumgartner gelingt mit seiner „Kindersprachtherapie“ ein umfassendes und ausgesprochen sorgfältig recherchiertes Standardwerk. Er beleuchtet mit höchster wissenschaftlicher Sorgfalt die äußerst vielfältigen Bedingungsfelder einer Kindersprachtherapie und bedient sich dabei einer ausgeprägt wissenschaftlichen und damit nicht immer einfach zu lesenden Diktion. Auf der anderen Seite behält er den sprachtherapeutischen „Praktiker“ im Fokus seiner Überlegungen: Aspekte der Ausbildung und Kompetenz des akademischen Kindersprachtherapeuten, dessen Anfragen an eine wissenschaftlich orientiere Erfolgsmessung sowie Aspekte eines berufsgruppenübergreifenden Selbstverständnisses bilden den Rahmen für die dezidierte Darstellung der notwendigen wissenschaftlichen „Orientierungen“. Deren Anliegen ist einerseits die fundierte Darstellung des aktuellen fachlichen Wissensstandes, andererseits immer wieder auch der sehr engagierte Hinweis auf einschlägige Forschungsdesiderata, für deren Bearbeitung Baumgartner konkrete forschungsmethodische Vorschläge liefert. Aufbau und Inhalt des Buches ermöglichen unterschiedliche rezeptive Zugangsweisen und verhelfen zu einer theoretischen Verortung des eigenen therapeutischen Standpunktes auf dem Weg zu einem vernetzten, polyätiologisch und polymethodisch ausgerichteten sprachtherapeutischen Selbstverständnis.
Fazit
Stephan Baumgartner plädiert mit seiner integrativen Grundlegung für eine Zusammenführung der unterschiedlichen Ausbildungsgänge und Berufsverbände hin zum Berufsbild eines akademischen Kindersprachtherapeuten. Er gewährt damit weit mehr als einen aktuellen Überblick über das Fach, sondern entwickelt eine Perspektive mit Tiefgang und Weitblick, deren Umsetzung angesichts des nach wie vor uneinheitlichen Berufsbildes eine wertvolle Vision für das kommende Jahrzehnt offenbart.
Rezension von
Tobias Schubert
Hauptamtlicher Studienleiter im Schulartteam Sonderpädagogik am Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein (IQSH), Systemischer Berater (DGsP), Landesfachrichtungsberater für den Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung in Schleswig-Holstein
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