Zygmunt Bauman: Flüchtige Zeiten. Leben in der Ungewissheit
Rezensiert von Prof. Dr. Yolanda Koller-Tejeiro, 30.07.2008

Zygmunt Bauman: Flüchtige Zeiten. Leben in der Ungewissheit.
Hamburger Edition
(Hamburg) 2008.
167 Seiten.
ISBN 978-3-936096-92-7.
12,00 EUR.
Originaltitel: Liquid times.
Autor und Thema
Der Autor, renommierter Soziologe polnischer Herkunft, der lange Jahre an der Universität Leeds/ England gelehrt hat und jetzt emeritiert ist, ist einer der wichtigsten zeitgenössischen Kritiker der gesellschaftlichen Entwicklung in der Postmoderne. Die Hamburger Edition, der Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung, hat das umfangreiche Werk Baumanns neben dem Suhrkamp-Verlag auf Deutsch veröffentlicht und führt auch immer wieder Diskussionsveranstaltungen mit ihm durch, die auf großes Publikumsinteresse stoßen.
Zygmunt Baumann nimmt in dem schmalen Band eine Thematik auf, mit der sich u.a. der bekannte US-amerikanische Soziologe Richard Sennett ("Der flexible Mensch", 2000) und auch die deutsche Soziologie seit der Veröffentlichung von Ulrich Becks Risikogesellschaft, 1986 auseinandersetzt (u.a. Ulrich Beck und Heinz Bude): Die sozialen Auswirkungen, Risiken und Ängste der ökonomischen Globalisierung, die schrumpfende Bedeutung des Nationalstaates und die Gefährdung der Demokratie.
Inhalt
Der Titel der deutschen Ausgabe stellt die zentrale Aussage heraus – den schnellen sozialen Wandel und das Leben in der Ungewissheit. Baumann skizziert in seiner Einleitung fünf zentrale Herausforderungen der westlichen Demokratien, die er in den folgenden fünf Kapiteln bearbeitet:
- Strukturen und Institutionen – inklusive soziale Normen - sind kurzlebig, sozusagen flüchtig geworden und damit unzuverlässig, so dass die Menschen ihre Lebensplanung kaum mehr daran ausrichten können.
- Die Macht verlagert sich von der lokal ausgerichteten Politik der Nationalstaaten in einen "politisch unkontrollierbaren globalen Raum".
- Der Staat trägt zu Verunsicherung der Menschen bei, indem er soziale Sicherungssysteme abbaut und so die sozialen Grundlagen kollektiven Handelns untergräbt, was wiederum zwischenmenschliche Beziehungen brüchiger werden lässt.
- Das Leben der Individuen gestaltet sich episodenhaft in kurzfristigen Projekten, ist fragmentiert, und die Nützlichkeit von Wissen und Erfahrungen wird fragwürdig.
- Sich schnell wandelnde Umstände zwingen Menschen dazu, laufend Entscheidungen zu treffen und auch die Verantwortung dafür zu übernehmen, ohne dass sie Voraussetzungen und Risiken irgendwie beeinflussen können.
Im
ersten Kapitel befasst sich Baumann
mit den subjektiven und kollektiven
Ängsten, ihren Ursachen und
Konsequenzen. Er beginnt mit einer Weisheit aus der Antike, die
Gerechtigkeit als notwendige Bedingung für Frieden nennt. Festzustellen sei
demgegenüber eine wachsende
Ungerechtigkeit und eine immer ungleichere Verteilung des Reichtums. Märkte
ohne Grenzen, auf denen sich "Handel und Kapital, Überwachung und
Informationen, Waffen und Gewalt, Verbrechen und Terrorismus" ohne Kontrolle
entfalten, führen zu einer Weltwirtschafts(un)ordnung zugunsten der reichen
Länder und Eliten. Diese "negative Globalisierung" pervertiert die "offene Gesellschaft" der
demokratischen westlichen Staaten: Menschen werden schutzlos politisch nicht zu
kontrollierenden Kräften ausgesetzt, mit der Folge wachsender Unsicherheit und
Angst. Die Demontage staatlicher
und kollektiver Schutzmechanismen – vor allem der Abbau des Sozialstaats
– zwingt die Menschen,
"individuelle Lösungen für gesellschaftlich erzeugte Probleme" zu
suchen. Dies bringt einen neuen
Individualismus hervor, Solidarität verschwindet, zwischenmenschliche Beziehungen werden prekärer.
Die
fortschreitende Deregulierung und Individualisierung hat In Europa und anderen
entwickelten Ländern eine Spirale der Angst und geradezu eine
"Sicherheits-Obsession" hervorgebracht. Am Beispiel des Irak-Krieges zeigt Baumann, dass als Kollateralschaden in
den USA nicht nur das Gefühl der Sicherheit abnimmt, sondern auch Demokratie
und persönliche Freiheit gefährdet sind. Angst – der "hinterhältigste
Dämon in der offenen Gesellschaft" entwickelt eine eigene Dynamik und führt zu
noch mehr Unsicherheit, aus der wirtschaftlich Kapital geschlagen wird, vor
allem zum Nutzen der Waffenindustrie und den Herstellern von
Selbstverteidigungsausrüstung.
Im
zweiten Kapitel "Menschen in Bewegung"
nimmt Baumann ein Thema auf, das er
ausführlich in dem 2005 erschienen Buch "Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten
der Moderne" (Hamburger Edition; engl. Original 2004: Wasted Lifes. Modernity
and its Outcasts, vgl. die Rezension) behandelt hat. Der Siegeszug des modernen Kapitalismus weltweit produziert Abfallprodukte, an denen er
bald ersticken könnte: nicht nur giftige Müllberge, sondern zunehmend
"menschlichen Abfall". Ein Teil
der Menschen – vor allem in
den so genannten Entwicklungsländern - ist "überflüssig", denn sie werden weder
als Arbeitskraft gebraucht noch können sie durch mangelnde Kaufkraft teilhaben am Konsum. Anders als in der Zeit der
industriellen Revolution in Europa kann der Bevölkerungsüberschuss der
"Nachzügler der Moderne" nicht in einem "Niemands-Land" abgeladen werden; die
Ventile sind verstopft. Zwar wird ein Teil der Bevölkerung temporär –
abhängig von den Gewinnchancen der global agierenden Unternehmen - als billige
Arbeitskraft genutzt, aber die Flüchtlingsströme obdach- und staatenloser Opfer
der Globalisierung finden auf der Suche nach einem menschenwürdigen Leben keine
neue Heimat. So bleiben vor allem
"pervertierte "lokale Scheinlösungen", um den Bevölkerungsüberschuss
– vor allem Jugendliche ohne Perspektive auf Arbeit - zu absorbieren und
schließlich zu vernichten: Drogenhandel, Verbrecherbanden und Terrorismus.
Der Abbau des Sozialstaats, der die "kollektive Absicherung gegen
individuelles Unglück" organisierte und damit eine wesentliche Säule der
modernen Demokratie darstellte, verändert auch diese. Die Abnahme sozialer
Rechte hat für arme und mittellose Menschen zur Folge, dass sie auch immer
weniger ihre politischen Rechte ausüben können, was wiederum die persönlichen
bürgerlichen Rechte beeinträchtigt. Die Deregulierung treibt die Individualisierung voran, die
Absicherung gegen die Risiken des Lebens muss zunehmend privat geleistet
werden. Im Kampf um die gesellschaftlichen Ressourcen – Bildung, Arbeit, Eigentum -
wird Solidarität durch Konkurrenz ersetzt und kollektive Bande
verwahrlosen. Die Menschen müssen sich zunehmend individuell mit Unsicherheiten
und Ängsten auseinandersetzen. Diejenigen, die den Anforderungen nicht
gewachsen sind, laufen Gefahr,
"überflüssig" und damit dauerhaft ausgegrenzt zu werden. "Die
Unwiderruflichkeit der Exklusion ist eine unmittelbare…Folge des Zerfalls des
Sozialstaats…" und die "Arbeitslosen von heute – und insbesondere die
Langzeitarbeitslosen – sind nur einen kleinen Schritt entfernt vom
Absturz in das schwarze Loch…"
In
der Stadt zeigen sich die Unsicherheiten in komprimierter Form, denn Städte
sind zu "Abladeplätzen für global verursachte…Probleme" geworden und müssen
dafür lokale Lösungen suchen. Dies ist jedoch eine nicht zu bewältigende
Herausforderung, die Angst und Aggressionen vor allem gegenüber Fremden
hervorbringt und die Abschottung in sicheren Territorien mit Gleichartigen
sucht. Eine Strategie der Stadtplanung und Architektur, um diese Gettoisierung aufzubrechen und
Foren der Begegnung zu ermöglichen,
könnte "die vermehrte Gestaltung offener, einladender und freundlicher
öffentlicher Räume" sein.
Das letzte Kapitel ist überschrieben mit "Utopia im Zeitalter der Ungewissheit", in dem Baumann unter Bezug auf historische Auseinandersetzungen von Philosophen und Schriftstellern nach einem doch noch positiven Ausweg aus dem Dilemma von Ungewissheit, Unsicherheit und Angst sucht. Aber auch da überwiegt der Skeptizismus.
Diskussion
Baumann betrachtet die globale ökonomische, politische und soziale Entwicklung und ihre Auswirkungen auf den einzelnen Menschen aus unterschiedlichen – jedoch immer kritischen - Perspektiven. Er bezieht sich dabei auf vielfältige Quellen – historische und aktuelle wissenschaftliche und philosophische sowie literarische Abhandlungen, auf politische Zeitungs- und Zeitschriftenartikel und illustriert seine Ausführungen anschaulich mit Beispielen aus verschiedenen Regionen der Erde.
Das Buch ist eine pointierte Zusammenfassung seiner bisherigen Auseinandersetzung mit Moderne und Postmoderne. In essayistisch-assoziativem Stil breitet er die Kernaussagen seiner - in anderen Veröffentlichungen tiefer ausgeleuchteten - Argumentation aus. Die Sprache ist oft drastisch und apodiktisch, aber - unter Verwendung dramatischer Metaphern - gleichzeitig auch bildhaft-farbig und zuweilen sogar poetisch.
Fazit
Das macht das Buch zu einer spannenden und anspruchsvollen Lektüre, nicht nur für Studierende und Lehrende der Sozialwissenschaften und der Sozialen Arbeit, sondern für alle politisch interessierten Menschen. Das konzentrierte Werk des klassischen Gelehrten bietet eine lehrreiche, nüchtern-desillusionierende Erklärung unserer Welt und zwingt uns geradezu zu einer eigenen Positionierung.
Rezension von
Prof. Dr. Yolanda Koller-Tejeiro
Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW), Fakultät Wirtschaft & Soziales; Lehre in Soziologie mit Schwerpunkt Organisationssoziologie
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