Birgit Lattschar, Irmela Wiemann: Mädchen und Jungen entdecken ihre Geschichte
Rezensiert von Prof. C. Dorothee Roer, 13.08.2009
Birgit Lattschar, Irmela Wiemann: Mädchen und Jungen entdecken ihre Geschichte. Grundlagen und Praxis der Biografiearbeit.
Juventa Verlag
(Weinheim) 2008.
2. Auflage.
240 Seiten.
ISBN 978-3-7799-1777-9.
16,50 EUR.
CH: 29,90 sFr.
Reihe: Basistexte Erziehungshilfen.
Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-7799-2683-2 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.
Thema
Biografiearbeit: das Thema boomt. In Zeiten so rasanten gesellschaftlichen Wandels, der Enttraditionalisierung und Individualisierung mit ungeahnter Geschwindigkeit vorantreibt, ist die Beschäftigung mit individuellen Lebenswegen, Lebensentwürfen, biografischen Perspektiven fast ein Muß. Das Thema ist im soziokulturellen Alltag ebenso präsent wie in subjekt-, sozial- und geisteswissenschaftlicher Theoriebildung und professioneller Praxis.
Birgit Lattschars und Irmela Wiemanns Buch „Mädchen und Jungen entdecken ihre Geschichte“ liegt in diesem Trend; bereits ein Jahr nach seinem Erscheinen 2007 erfuhr es eine zweite (korrigierte) Auflage, die im folgenden besprochen wird.
Autorinnen
Die Autorinnen, Heilpädagogin und systemische Beraterin die eine, Diplompsychologin, Psychologische Psychotherapeutin und Familientherapeutin die andere, arbeiten seit Jahren in unterschiedlichen Bereichen stationärer und ambulanter Kinder- und Jugendhilfe, u. a. mit dem Schwerpunkt Adoptiv- und Pflegekinderwesen. Sie sind zudem spezialisiert auf Beratung und Fortbildung von Pflege-, Adoptiv- und Herkunftsfamilien sowie die Weiterbildung und Supervision von Fachkräften, die in diesem Feld tätig sind.
Aufbau und Inhalte
Das Buch gliedert sich in zwei Teile:
- Teil I „Grundlagen und Voraussetzungen“ und
- Teil II „Praxis der Biografiearbeit“;
Um es vorweg zu nehmen: nicht zu seinem Vorteil. Wie die Autorinnen im Vorwort selber bemerken, gibt es zwischen den beiden Teilen erhebliche Überschneidungen, was gelegentlich irritiert und das Lesen mühsam macht.
Teil I Grundlagen und Voraussetzungen beginnt mit einer knappen, etwas verkürzten Darstellung des Verständnisses von Biografiearbeit, das die Autorinnen ihrem Text zugrunde legen: Biografiearbeit als subjektive Rekonstruktion der individuellen Lebensgeschichte. Damit wird die psychohygienische Funktion biografischen Forschens hervorgehoben (vgl. z.B. S.15ff). Biografiearbeit als persönliche Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Dimension des Gewordenseins der AkteurInnen, eine Perspektive, die sich gerade zur Selbstdeutung für fremdplatzierte Kinder und Jugendliche anbietet, liegt demnach nicht im Horizont der Autorinnen.
Kap. 2. untersucht die Frage, für welche Kinder Biografiearbeit geeignet sei und kommt zu dem Schluß: für (fast) alle. Sollten etwa Findelkinder wirklich die gleichen Bedürfnisse und beraterischen Bedarfe haben wie Kinder aus relativ unverstörten Patchwork-Familien? Mir scheint, daß solche Universalisierungen dem Ansatz nicht wirklich gut tun; dessen gezielte Wirksamkeit so aus dem Blick geraten kann.
In Kap. 3. wird Biografiearbeit aus entwicklungspsychologischer Perspektive dargestellt, auch hier mit der Tendenz, sie als unversalistisch, als entwicklungsunabhängige Interventionsform zu präsentieren. Leicht modifiziert könne sie in allen Altersstufen angewendet werden, eine Position, die nur um den Preis einer Bagatellisierung der Methode zu haben ist. Zum Beispiel: „Bereits auf dem Wickeltisch, beim Zubettgehen oder auf dem Schoßsitzen kann dem Säugling oder Kleinkind seine Geschichte erzählt werden“ (S.46) sprich: Biografiearbeit gemacht werden.
Kap. 4. „Zentrale Themen in der Biografiearbeit“ konzentriert sich ganz auf fremdplatzierte Kinder und Jugendliche. Hier schöpfen die Autorinnen aus dem Vollen ihrer praktischen Erfahrungen, werden wohltuend konkret, vermitteln interessante Perspektiven und Informationen durchaus hilfreich für Fachkräfte, die in die Biografiearbeit mit Adoptiv- und Pflegekindern einsteigen wollen,
Auch Kap. 5. „Kontexte und Rahmenbedingungen“ überzeugt durch Praxisrelevanz, nimmt aber, wie sich in der Folge zeigt, etliche Argumentationen aus Teil II vorweg und erscheint insofern im Teil „Grundlagen …“ fehl platziert.
Kap.6 stellt die für Biografiearbeit notwendigen Kompetenzen vor, ich würde eher von einer biografie-orientierten Haltung sprechen. Dabei kommen die Autorinnen zu verblüffenden Schlussfolgerungen: erstens: Biografiearbeit kann (fast) jeder machen, biologische Väter, Mütter, Pflege-, Adoptiveltern, BezugserzieherInnen, Fachkräfte in Notaufnahmen, um nur einige zu nennen. Zweitens: „Eine therapeutische Ausbildung ist nicht erforderlich“ (S.75); aber offenbar auch sonst keine fundierte Qualifizierung. Guter Wille, Respekt vor dem Kind und eine gewisse Authentizität, die man / frau von Hause aus mitbringt, scheinen zu genügen, um Biografiearbeit anzuwenden, d.h. mit zum Teil sehr schwer belasteten Kindern deren Biografien zu entdecken, zu rekonstruieren und sie in der Aneignung ihrer Lebensgeschichte zu unterstützen. Meine langjährigen Erfahrungen als konzeptionell und praktisch Verantwortliche für unterschiedliche Weiterbildungsangebote zum Thema Biografiearbeit lassen mich an solchem Optimismus zweifeln. Sie haben mich im Gegenteil davon überzeugt, daß nur eine fundierte theoretische Auseinandersetzung mit dem biografie-orientierten Menschenbild einerseits sowie konsequentes, supervidiertes Training andererseits zu der von den Autorinnen skizzierten Haltung führen. Biografiearbeit soll nach dem Verständnis der Autorinnen kompetente Arbeit mit härtesten kindlichen Erfahrungen umfassen (z.B. „Umgang mit traumatischen Erfahrungen des Kindes“, S.82ff; „Trauerarbeit“, S.160ff; Bearbeitung schwerer Themen wie Sucht der Eltern, Prostitution der Mutter, psychische Erkrankungen oder Gefängnisaufenthalte eines Elternteils, erfahrene (sexuelle) Gewalt, Suizid oder früher Tod in der Herkunftsfamilie, S. 179ff). Solche Kompetenzen gibt es nicht zum Nulltarif. Die These „(fast) jede/r kann es“ impliziert aber noch eine andere problematische Vorstellung, nämlich die, Pflege- / Adoptiveltern könnten und / oder sollten mit dem fremdplatzierten Kind ein therapie-analoges Arbeitsbündnis eingehen, quasi als Professionelle agieren. Spätestens im Kapitel über „schwere Themen“ wird deutlich, welche Überforderung einerseits, aber auch, welche Nötigung zu (semi-) professioneller Distanz da vorausgesetzt wird. Pflege- und Adoptiveltern sind ja nicht nur involviert in den Prozess der Integration des „fremden“ Kindes in die neue Familie, sie sind Bestandteil dieses Prozesses, den sie mit allen anderen Betroffenen als biografische AkteurInnen gemeinsam gestalten und nicht als ExpertInnen für das Kind moderieren.
Das letzte (7.) Kapitel betont die Notwendigkeit der Einbeziehung der Herkunftsfamilie in die (biografische) Arbeit mit Pflege- und Adoptivkindern, eine heute immer noch nicht selbstverständliche Forderung. Unter Gesichtspunkten der Systematik wären die hier diskutierten Überlegungen allerdings in Teil II besser aufgehoben.
Teil II widmet sich der Praxis der Biografiearbeit. Die „Vorüberlegungen“ (Kap. 1.) listen auf, welche Vorbereitungen vor der Erstellung von Lebensbüchern getroffen werden müssen. Der eher technisch-pragmatische Duktus, der sich durch den gesamten Teil II zieht, führt schon in diesem Abschnitt immer wieder zu Setzungen, deren Für und Wider nicht diskutiert wird, die zudem zu der eher ergebnisoffeneren, biografischen AkteurInnen Raum gebenden Perspektiven des ersten Teils nicht so recht passen wollen (Beispiel S.97: vor Beginn der Arbeit am Lebensbuch solle der vollständige Lebenslauf des Kindes bereits zusammengestellt sein, damit während der Arbeit nicht auf notwendiges Material gewartet werden müsse. Damit wird dem Kind aber die Möglichkeit genommen, selber zu entscheiden, welche Aspekte seiner Biografie ihm bedeutsam sind).
Kap. 2. „Anfertigen eines Lebensbuchs“ enthält viele konkrete Hilfen zum Thema, das folgende Kapitel „Gruppenarbeit“ illustriert den Prozess am Beispiel einer Gruppe von Jugendlichen aus einem Kinderheim. Schade, daß der Text keine Auswertung des Projekts, weder aus der Sicht der Jugendlichen noch aus der der Professionellen, enthält. Grade für PraktikerInnen wäre es hilfreich und nützlich zu erfahren, welche Entwicklungen bei allen Beteiligten durch dieses Verfahren angestoßen werden (können).
Auch in den folgenden Kapiteln (4. „Andere Methoden biografischen Arbeitens“ und 5. „Sachverhalte und Geschichten“), in denen weitere Arbeitshilfen und –techniken vorgestellt werden, bleibt die spannende Frage der Wirkungen auf die Betroffen en unthematisiert.
In Kap.6., wird vorgestellt, wie die Autorinnen „schwere Themen“ angehen; hier verdichtet sich die eigentliche Zielsetzung ihres biografischen Arbeitens zur Maxime: „Kinder besitzen die Fähigkeit, schwere Fakten des Lebens als gegeben hinzunehmen, wenn Erwachsene sie dabei unterstützen“(S.179). Das ist die Botschaft: erstens. Kinder können und sollen schwere Lebensereignisse hinnehmen lernen, keine Auflehnung dagegen, kein Protest, keine ergebnisoffene Auseinandersetzung, die ja auch das Scheitern als Chance (ein im biografischen Denken verbreitetes Konstrukt) einschlösse. Zweitens: Kinder werden durch Erwachsene zu dieser Akzeptanz geführt und zwar vermittels rationaler Aufklärung „Kinder fühlen sich befreit …, wenn sie die Ereignisse bewusst erfassen und einordnen können“ (S.179).Dazu ein Beispiel: die Vermittlung von Akzeptanz für die suchtbedingte Prostitution der Mutter : „Um das viele Geld, das die Drogen kosten , zu verdienen, geht Deine Mama der Prostitution nach. Sie wird von Männern bezahlt, daß sie diese sexuell befriedigt“ (S.183). Das in solchen „Erklärungen“ implizierte Bild vom Kind / vom Menschen allgemein finde ich ebenso inakzeptabel wie die darin aufscheinenden sozialethischen Implikationen.
Die den Band abschließenden „Berichte aus der Praxis“ (Kap.7.) illustrieren Biografiearbeit fallbezogen und aus der Sicht von Fachkräften.
Diskussion
Zusammenfassend lässt sich sagen, daß sich in „Mädchen und Jungen entdecken ihre Geschichte“ zwei nicht optimal auf einander abgestimmte Positionen gelegentlich gegeneinander zu verselbständigen scheinen. Teil I präsentiert Biografiearbeit eher als einen Beratungs- und Unterstützungsansatz, innerhalb dessen biografische AkteurInnen als ExpertInnen ihres Lebens, wenn auch nicht expliziert sind, so doch denkbar werden. Demgegenüber beschränkt sich Teil II wesentlich auf die Vorstellung von Arbeitsmitteln. Die Zielgruppen, mit denen Biografiearbeit durchgeführt wird, geraten aus dieser Perspektive zu Objekten der Anwendung dieser Arbeitsmittel. Biografiearbeit als Handhabung von Techniken zur professionell angeleiteten Aufarbeitung von Lebensgeschichten kann aber auch nicht zu Entdeckungen führen, wie sie, dem Titel des Buches folgend, ja intendiert sind. Wer könnte, so stringent angeleitet, wie was entdecken?
Beiden Teilen (beiden Autorinnen?) gemeinsam ist die Sicht auf Lebensgeschichte und Biografiearbeit als Prozesse rein subjektiver Relevanz. Die gesellschaftliche Dimension biografischer Erfahrungen, die den Blick öffnet für Themen wie Krieg, Flucht, Verfolgung, Armut, Exklusion, Rassismus in ihren (Aus-) Wirkungen auf das individuelle Schicksal, scheint ganz ausgeklammert. Dies ist bedauerlich, weil der Ansatz nach dem Verständnis der Autorinnen auf „klassische“ Zielgruppen Sozialer Arbeit Anwendung finden soll, hier auf Kinder und Jugendliche, deren Leben ja in ganz besonderem Maße durch gesellschaftliche Belastungen bestimmt ist.
Fazit
„Mädchen und Jungen entdecken ihre Geschichte“ kann als eine erste Einführung in die Biografiearbeit gelesen werden, die allerdings durch systematischere Arbeiten ergänzt werden sollte. Für Fachkräfte, die sich bereits theoretisch mit dem biografischen Ansatz auseinander gesetzt haben und in der Kinder- und Jugendhilfe biografische Projekte starten wollen, stellt die Arbeit von Birgit Lattschar und Irmela Wiemann allerdings praktisch eine wahre Fundgrube dar.
Rezension von
Prof. C. Dorothee Roer
Dipl.-Psych., Fachpsychologin für Klinische Psychologie (BDP), Prof. (emer.) FB4 Soziale Arbeit und Gesundheit FH Frankfurt/M.
Arbeitsschwerpunkte: Psychosoziale Versorgung, Psychiatrie im Faschismus, Biografie-Arbeit und Rekonstruktive Soziale Arbeit
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Zitiervorschlag
C. Dorothee Roer. Rezension vom 13.08.2009 zu:
Birgit Lattschar, Irmela Wiemann: Mädchen und Jungen entdecken ihre Geschichte. Grundlagen und Praxis der Biografiearbeit. Juventa Verlag
(Weinheim) 2008. 2. Auflage.
ISBN 978-3-7799-1777-9.
Reihe: Basistexte Erziehungshilfen.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/6251.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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