Peter K. Schneider: Multiplentherapie
Rezensiert von Prof. Dr. Angelika Franz, 22.01.2009

Peter K. Schneider: Multiplentherapie. Konzepte, Materialien und ernste Spiele für eine integrative Praxis. Asanger Verlag (Kröning) 2007. 296 Seiten. ISBN 978-3-89334-482-6. 29,50 EUR.
Entstehungshintergrund
Der Autor trägt sein in Jahrzehnten in klinischen und ausserklinischen Zusammenhängen gewachsenes Wissen um die Arbeit mit chronisch traumatisierten Menschen zusammen und beschreibt seinen eigenen therapeutischen Weg mit ihnen.
Thema
Multiplentherapie habe die Aufgabe der Integration, der Traumaarbeit und der zweiten Sozialisation zur Individualität angesichts eines fehlenden Selbst. Dieser Weg habe einen breiten Übereinstimmungsbereich mit dem main- stream der Traumabehandlung (hier verweist er u.a. auf Reddemann, Sachsse, und auf Kluft, Ross und Putnam aber nicht auf den feministischen Ansatz von Hilsenbeck), der für alle Therapeuten gleich und doch auch „irgendwie anders“ sei (S. 255). Der main stream erfordere aber eine spezifische Modifikation: so legt der Verfasser Wert auf eine Übungsphase, die der Verarbeitung traumatischer Erinnerungen und der Integration vorauszugehen habe, und er lehnt Hypnose ab. Es brauche zur Nachsozialisation (der einen Person, nicht einer Reihe von Teilpersönlichkeiten) auch ernste Spiele, die im Buch im Einzelnen beschrieben werden.
Das Buch zeigt das diesen Überlegungen entsprechende methodische Handwerkszeug in der Arbeit mit multiplen Persönlichkeiten auf und illustriert das Vorgehen im Einzelnen.
Aufbau und Inhalte
Schon der Titel des Buches drückt aus, dass der Autor die Existenz von Teilpersönlichkeiten als gegeben voraussetzt, die gegenwärtige vorsichtige Klassifikation „multipler Persönlichkeiten“ als Menschen mit dissoziativer Identitätsstörung wird nicht gewählt. Die mit der Begriffswahl im Zusammenhang stehenden Debatten werden von dem Verfasser thematisiert (z.B. um die mögliche „false memory“, um die rekonstruierende Gedächtnisarbeit, um die Bedeutung und das Nicht-Erreichen der historischen Wahrheit, um die inflationäre Benennung von Teilpersönlichkeiten sowie um die mediale Verwertung des Themas). Da nie sicher entschieden werden könne, ob diagnostische Fragen einen Sachverhalt generieren oder lediglich ins Bewusstsein heben (S. 19), verzichtet er darauf, die Diagnose „Multiple Persönlichkeit“ zuzuschreiben. Letztere bewähre sich am Verschwinden der Symptome (S. 17). Die Behandlung von „Multiplen“ im Rahmen psychiatrischer Versorgung kritisiert er als nicht fachgerecht (S.3).
Teil I des Buches
setzt sich mit der Klärung
von Multiplizität,
allgemeinen und spezifischen therapeutischen Behandlungsprinzipien
und der notwendigen therapeutischen Haltung
auseinander. Die Situation erfordert eine parentisierende liebevolle
Einstellung, eine beinahe immer bestehende telefonische
Erreichbarkeit, eine planvolle Vielfalt von Methoden (ein
Eklektizismus auf Basis von gesichertem psychologischem Wissen,
situativer Logik und therapeutischer Notwendigkeit) sowie eine
Ko-therapeutin. Während der Verfasser an manchen Stellen
edukativ, ordnend und strukturierend arbeitet und Kontinuität
und Disziplin fordert, räumt er der Patientin bezüglich der
Fragen darüber, welchen Inhalten man sich nähert,
symmetrische Mitsprache ein. Durchgehend steht im Zentrum eine
Empathie für die Patientin, ihr Erleben und Leiden und die
existentielle Leere. Übertragung solle nur dann thematisiert
werden, wenn dadurch Angst und bedrohliche Verkennung zu korrigieren
seien. Ein nach jeder Sitzung erneuerter Vertrag verpflichte die
Patientin, nichts zu unternehmen, was ihr Leben und ihre Gesundheit
gefährde. Körperliche Berührung als Integrationshilfe
geschehe nur nach Klärung ihrer Grundlage und der Einwilligung
der Patientin. Diese reale, nicht lediglich symbolische
Wunscherfüllung sei von verbotener Nähe zu unterscheiden.
In diesem Teil I.
werden zudem Materialien vorgestellt, wie u. a. das Morenosche
Soziogramm, um das notwendige „mapping“, das Kartieren
der Bewusstseinslandschaft zu erreichen. Eine zu praktizierende
Schule der Gefühle mit emotional-kognitiver Technik sowie das -
durch die Forderung, es zu Papier zu bringen - begrenzte
Visualisieren werden beschrieben und erläutert.
Im Teil II wird die traumaneutrale Integration konkretisiert und begründet. Mit dem ersten Teil des Buches gibt es inhaltliche Teilüberlappungen. Für die Art des jeweiligen Gebrauchs und den Zeitpunkt des Einsatzes der Methoden (und zwar des - ersten und des zweiten korrigierenden - mapping und der Metakommunikation, der Arbeit mit Teilen und Ganzem sowie der kognitiv- emotionalen Übungen) werden sorgfältig Indikationskriterien angegeben. Der Verfasser bietet insgesamt eine Fülle von methodischen Einzel-Vorschlägen und Einfällen; so werden z.B. in abgewandelter Weise der TAT und der HAWIE benutzt.
Teil III., ebenfalls mit inhaltlichen Überschneidungen zu den vorherigen Teilen, beschreibt die, auf Basis der vorher stattgefundenen Ertüchtigung, notwendige Traumakonfrontation unter Beachtung der Deaktivierung der emotionalen Erregung. Das Vorgehen grenzt sich, wie bereits beschrieben, punktuell von herkömmlicher Traumatherapie ab. Erfahrungen emotionaler Entlastungen seien nicht per se positiv zu bewerten, sondern werden auf ihre zugrunde liegende Dynamik hin untersucht. Obwohl strukturiert und sequentiell aufgebaut, wird der Ablauf der Therapie je individuell anzupassen sein. Die in diesem Zusammenhang vorgenommenen Bezüge zur Rolle der Traumata in der Genese von Menschen mit Borderlinesymptomatik greifen aber neuere Überlegungen nicht auf.
Das Buch endet mit der Reflexion der Grenzen der Therapie, über die die Patientin auch aufzuklären sei: Heilung sei nicht zu erreichen, wohl aber eine stabile, gute Remission.
Prozessevaluation empfiehlt der Verfasser als vergnüglich. Nachsorge sei angeraten und sie entspricht der persönlichen Verbundenheit, die während der gemeinsamen Arbeit gewachsen sei.
Diskussion
Beim Leser wird ein Wissen um Therapeutische Schulen und innerschulische Richtungen und um therapeutische Einzeltechniken wie EMDR oder katathymes Bilderleben sowie um psychodiagnostische Verfahren vorausgesetzt. Relevante theoretische Linien dagegen, besonders die der Gestalttheorie und der Selbstpsychologie, werden benannt bzw. erläutert.
Im Buch werden Formalia relativ sorglos behandelt, Zitaten fehlen Jahres- und Seitenangaben, innerhalb der Kapitel werden Absätze lediglich durchnummeriert.
Fazit
Das Buch lebt von einem thematisch reichhaltigen Hintergrundwissen um Theorie und von einem umfassenden Fundus an praktischen Erfahrungen. Mögliche Irrtümer, Gefahren und Chancen methodischer Vorgehensweisen werden jeweils mitbedacht. Damit kann das Buch Therapeuten als gute Reflexionshilfe dienen und bietet vielseitiges, nützliches therapeutisches Handwerkszeug an.
Rezension von
Prof. Dr. Angelika Franz
Evangelische Hochschule für Soziale Arbeit Dresden
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