John Bowlby: Bindung als sichere Basis
Rezensiert von Prof. Dr. habil. Gisela Thiele, 23.05.2008

John Bowlby: Bindung als sichere Basis. Grundlagen und Anwendung der Bindungstheorie.
Ernst Reinhardt Verlag
(München) 2008.
149 Seiten.
ISBN 978-3-497-01931-1.
D: 24,90 EUR,
A: 25,60 EUR,
CH: 42,70 sFr.
Originaltitel: A secure base.
Zielsetzung und Zielgruppen
Der zunehmenden Bedeutung der Bindungstheorie nicht nur in der Entwicklungspsychologie, sondern ebenso in therapeutischen und pädagogischen Handlungsfeldern trägt die Fachpublikation Bowlbys "Bindung als sichere Basis" Rechnung. John Bowlby, britischer Psychiater und Psychoanalytiker, arbeitete und forschte an der Tavistock Klinik in London und gilt als der Begründer der Bindungstheorie. Das Buch enthält alle bekannten Bowlby – Themen – theoretische, ethologische, methodologische, praktisch – klinische und politische, die das Primat eines geglückten Bindungsverhaltens als Schutz vor Trennung und Verlust begründen helfen und eine Sammlung ausgewählter Vorträge. Zielgruppe sind insbesondere PsychologInnen, PädagogInnen, PsychotherapeutInnen und andere Interessierte.
Aufbau und Themenübersicht
Das Buch ist neben Geleitworten von Oslind und Burkhard Stahl sowie von Jeremy Holmes, einem Vorwort und einer Danksagung in acht Kapitel untergliedert.
Im ersten Kapitel, das mit dem Titel "Elterliches Pflegeverhalten und kindliche Entwicklung" überschrieben ist, stellt Bowlby u. a. die unverzichtbare soziale Funktion der Eltern und das "Einschwingen" der Mutter – Kind - Beziehung heraus. Letztere gehe vom neugierigen Säugling aus, wenn sich die Mutter von ihm leiten ließe (S. 7). Des Weiteren werden die Unterschiede im Bindungsverhalten zwischen Vater und Mutter sowie vor, während und nach der Geburt wirkende Faktoren erörtert. Störend für den Lesefluss sind auf jeder Seite die Nennung umfangreicher Beispiele von Studien und deren Autoren, die auf die entsprechende Thematik verweisen.
Kapitel zwei "Die Entstehung der Bindungstheorie" gibt zunächst einen Überblick, wer wichtige Erkenntnisse zum Thema beigetragen hat, auch hier sind die vielen genannten Autoren weniger aufhellend, sondern lenken eher von der Theorie ab. Unter Bindungsverhalten versteht der Autor "…jegliches Verhalten, das darauf ausgerichtet ist, die Nähe eines vermeintlich kompetenteren Menschen zu suchen oder zu bewahren…" (S. 21). Wenn wir uns auf eine sensible Bindungsfigur verlassen können, fühlten wir uns geborgen, so sein Resümee. Trennungsängste begreift er als menschliche Grunddisposition, wodurch verstehbar würde, warum Kinder bei elterlichen Verlassensdrohungen so beunruhigend reagierten.
Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit der Problematik "Psychoanalyse als Kunst und Wissenschaft". Bowlby unterscheidet hier zwischen der psychoanalytischen Therapie und der psychoanalytisch-psychologischen Wissenschaft (S. 31ff) und versucht Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten, die er an Beispielen illustriert.
Mit der Überschrift "Psychoanalyse als Naturwissenschaft" ist das folgende Kapitel versehen. Freud, der Begründer der Psychoanalyse, hielt an einer naturwissenschaftlichen Ausrichtung fest, wobei er sie als "Wissenschaft vom Unbewusst- Seelischen" (Selbstdarstellung, 1925, GW, Bd. 14, S. 96) bezeichnete. Trotz Freuds Bemühungen sei der Status der Psychoanalyse nach wie vor umstritten. Bowlby versucht im Folgenden seine Sichtweise anhand von ethologischen Mutter-Kind-Studien nachzuweisen.
Kapitel fünf ist der "Gewalt in der Familie" gewidmet. Ein Kapitel, das interessant und aufschlussreicher als die bisherigen ist, weil Bowlby hier seine theoretischen Überlegungen nicht mittels vieler anderer Studien, sondern aus eigenen Betrachtungen darstellt. Familiäre Gewalt würde den Boden vieler ernster psychischer Störungen bereiten, da Gewalt zudem Gegengewalt erzeuge, hätte sie in vielen Familien Tradition. Scheinbar unerklärliche Gewalt würde in der Regel Ausdruck eines an sich funktionalen, nur überzogenen Verhaltens sein (S. 63) und aus eigenen psychischen Traumatisierungen der Mütter und Väter resultieren.
"Erlebnisse und Gefühle, zu deren Verdrängung Kinder regelrecht gezwungen werden", ist das Thema des folgenden sechsten Kapitels. Traumatisierte Kindheitserlebnisse, die darauf basieren, quälende Erlebnisse und Szenen mit den Eltern abzuspalten, würden die Entstehung psychischer Störungen maßgeblich beeinflussen und bei nicht wenigen unausweichlich zu Fehlwahrnehmungen bis zu schweren Amnesien oder gar zu multiplen Persönlichkeitsstörungen führen. Ein außerordentlich aufschlussreiches Kapitel, das aufzeigt, wie Eltern ihre Kinder auch durch subtile Druckmittel zwingen, ein durchgängig positives Bild von ihnen aufzubauen und wenig Erfreuliches vergessen zu machen.
Das siebente Kapitel setzt sich mit den Problemen der "Elternbindung und Persönlichkeitsentwicklung" auseinander. Bowlby geht davon aus, dass psychisch stabile Persönlichkeiten von Beginn an eine hohe Bindungsfähigkeit aufweisen würden, die nichts mit infantilen Abhängigkeitsbedürfnissen gemein hat, sondern sie sei ein Streben nach engen emotionalen Beziehungen als spezifisch menschliches Grundelement, das schon beim Neugeborenen angelegt sei und bis ins hohe Alter wirken würde (S. 98). Es werden drei Typen von Bindungsmustern beschrieben ("sichere" Bindung, "unsicher – ambivalent" und "unsicher – vermeidend", die durch je individuelle Verhaltensweisen zwischen Kind und Mutter gekennzeichnet sind und die infolge gleicher oder ähnlicher Reaktionen über den Lebenslauf hinweg recht konstant bleiben. Die Bindungstheorie unterscheidet sich von traditionellen psychoanalytischen Ansätzen durch die Abkehr von mehrphasigen, "Fixierungen" und "Regressionen" postulierenden Entwicklungstheorien hin zu Entwicklungslinien, in deren weiterem Verlauf sich psychische Störungen einstellen können (S. 110).
Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit der Thematik "Bindung, Kommunikation und therapeutischer Prozess". Hier werden zunächst die fünf Hauptaufgaben eines Therapeuten heraus gearbeitet, danach der Einfluss früher Erlebnisse auf das Übertragungsgeschehen sowie frühe pathogene Situationen und Erlebnisse thematisiert.
Fazit
Die vorliegende Publikation hält, zumindest in den Kapiteln eins und fünf bis acht, was sie verspricht. Die Ausführungen der Kapitel zwei bis vier sind m. E. weniger gut strukturiert und konzentrieren sich nur unzureichend auf die angegebene Thematik. Dennoch ist es ein wissenschaftlich empfehlenswertes Büchlein, das verdeutlicht, wie die individuelle Bindungsgeschichte der Eltern ihr Erziehungsverhalten gegenüber den Kindern prägt – damit leidvolle Bindungsbeziehungen nicht unbewusst über Generationen hinweg weitergegeben werden. Es ermutigt, sich den eigenen psychischen Fehlern in der Erziehung zu stellen und Verhalten im späteren Leben verstehen zu können. In verständlicher Sprache und mit anwendungsorientierten Beispielen aus der psychotherapeutischen Praxis vermag es einen möglichen Zugang zum Seelenleben eines jeden zu geben.
Rezension von
Prof. Dr. habil. Gisela Thiele
Hochschule Zittau/Görlitz (FH)
Berufungsgebiete Soziologie, Empirische
Sozialforschung und Gerontologie
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