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Walter Gehres, Bruno Hildenbrand: Identitätsbildung und Lebensverläufe bei Pflegekindern

Rezensiert von Prof. Dr. Daniela Reimer, 02.04.2009

Cover Walter Gehres, Bruno Hildenbrand: Identitätsbildung und Lebensverläufe bei Pflegekindern ISBN 978-3-531-15400-8

Walter Gehres, Bruno Hildenbrand: Identitätsbildung und Lebensverläufe bei Pflegekindern. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2008. 148 Seiten. ISBN 978-3-531-15400-8. 29,90 EUR.

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Thema

Die Entwicklung von Identität findet bei Kindern, die aus den verschiedensten Gründen nicht über die gesamte Kindheit und Jugend bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen können und zu Pflegekindern in Pflegefamilien werden, im Spannungsverhältnis zwischen der Suche nach Zugehörigkeit zur und Geborgenheit bei der Pflegefamilie statt und dem Bedürfnis der Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft, insbesondere mit den leiblichen Eltern.

Darüber wie Identitätsentwicklung bei Menschen, die einst Pflegekinder waren, erfolgt, war vor dem Erscheinen der vorliegenden Studie kaum empirisch fundiertes Wissen vorhanden. Es lagen lediglich zwei theoretische Konzepte über die Funktion der Pflegefamilie vor – das sogenannte Ersatzfamilienkonzepte, das die Bindung zu den Herkunftseltern hochhält, und das Ergänzungsfamilienkonzept, das allein die neuen Bindungen in der Pflegefamilie wertschätzt – die stark miteinander konkurrierten, und Theorie und Praxis des Pflegekinderwesens über viele Jahre gespalten haben.

Den Autoren gelingt es durch die Untersuchung diese beiden Theorien als Ideologien aufzudecken (z.B. S. 126). Durch den in der Untersuchung neuen, empirisch fundierten Ansatz soll anstatt polarisierender Konzepte eine differenzierte Position ermöglicht werden, denn „die Wirklichkeit von Pflegefamilien […] ist nicht schwarz oder weiß, sondern in differenzierten Grautönen gehalten“ (S. 126).

Autoren

Dr. Walter Gehres hat Soziologie, Psychologie und Politikwissenschaften studiert. Er hat praktische Erfahrungen im Bereich der Jugendhilfe gesammelt, hat über Wirkungen in der Heimerziehung promoviert und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter an der Friedrich Schiller-Universität Jena, wo er an verschiedenen Projekten zur Jugendhilfe, insbesondere zum Thema Pflegekinder und Pflegefamilien mitwirkt.

Dr. Bruno Hildenbrand ist Professor für Sozialisationstheorie und Mikrosoziologie an der Friedrich Schiller – Universität Jena. Seit vielen Jahren erstreckt sich sein Arbeitsgebiet auf die Bereiche Sozialisationstheorie, Professionalisierungstheorie, Psychiatrische Soziologie als Klinische Soziologie, Qualitative Forschungsverfahren und Familientherapie.

Entstehungshintergrund und Fragestellung

Grundlage der Publikation bilden zwei von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte Forschungsprojekte: "Öffentliche Sozialisation. Ein Beitrag zur Entwicklung einer Theorie der Identitätsbildung und gelingender Lebenspraxis unter den Bedingungen öffentlicher Erziehung am Beispiel des Sozialisationsmilieus Pflegefamilie" und "Die Genese von sozialisatorischen Kernkompetenzen in der Pflegefamilie: Salutogenese und Resilienz", die von den beiden Autoren und anderen Mitarbeitern von 2001- 2006 durchgeführt wurden.

Die Projekte beinhalteten sowohl grundlagentheoretisch bezogene Fragestellungen als auch anwendungsbezogene.

Als Untersuchungsfragen wurden im Detail formuliert: „[…] zum einen die Frage, was als Grundeinheit der primären sozialisatorischen Interaktion zu gelten hat, die Dyade oder die Triade. Zum anderen die Frage, ob die Personen innerhalb der Triade austauschbar sind, also die leiblichen Eltern ersetzt werden können durch andere Typen von Eltern […] Daneben behandeln wir die Frage, wie unsere Ergebnisse in der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe nutzbar gemacht werden können. Beispielsweise geht es hier um die Frage, wie es Institutionen, wie z.B. dem Jugendamt gelingen kann, die Möglichkeiten der Pflegefamilie zu unterstützen, um den ihnen anvertrauten Kindern zu ermöglichen, sich zu einem autonomen, mit sich selbst identischen Individuum zu entwickeln. […] In der zweiten Forschungsphase haben wir die Projektfragestellung um die Perspektive der Resilienz erweitert. […] [d.h.] welche Ressourcen in der Herkunftsfamilie, den Pflegefamilien, den diese Familien umgebenden sozialen Milieus sowie der Pflegekinder selbst es ermöglicht haben, dass diese günstigen Entwicklungen zustande kommen konnten.“ (S.101-102).

Aufbau und Inhalt

In Kapitel 1 „Pflegekinder zwischen Herkunftsfamilie und Pflegefamilie“ werden auf zwölf Seiten kurz und bündig zentrale Hintergrundinformationen zum Aufwachsen in Pflegefamilien aus struktureller und rechtlicher Perspektive gegeben und der Forschungsstand zum Pflegekinderwesen beleuchtet, auch unter Bezugnahme auf englischsprachige Studien. Bereits auf den ersten Seiten stellen die Autoren unter Bezugnahme auf die juristische Ausgangslage heraus, dass Pflegeeltern „die leiblichen Eltern nicht ersetzen können und dass ihre zentrale Leistung in einer anderen Gestaltung des familiären Zusammenlebens begründet werden muss“ (S.15).

Das Kapitel 2 „Die Untersuchung: Konzepte und Methodik“ beschäftigt sich mit den theoretischen Grundlagen und den Untersuchungsmethoden. Die Autoren beziehen sich insbesondere auf strukturelle Ansätze der soziologischen Sozialisationstheorie (Bezüge zu: Parsons, Oevermann, Allert) und arbeiten auf dieser Basis strukturelle Widersprüche, durch die Pflegefamilien gekennzeichnet sind, heraus. Das methodische Repertoire für die Untersuchung setzt sich aus qualitativen, interpretativen und rekonstruktiven Methoden, insbesondere biografischen Interviews und familiengeschichtlichen Gesprächen inklusive Familiengenogrammen und Beobachtungsprotokollen, zusammen. Die Autoren stellen die Methoden ausführlich vor. Darüber hinaus begründen sie diese qualitativen Methoden gründlich in einem längeren Exkurs gegen die Kritik quantitativ und vor allem psychologisch orientierter Forscher. Die Datenerhebung fand anknüpfend an das Vorgehen des theoretical sampling der Grounded Theory statt. Nach der Erhebung eines Falls wurde dieser intensiv analysiert, dann erst wurde gedankenexperimentell ein weiterer, zum Ersten bzw. den Bisherigen maximal kontrastierender Fall konstruiert und ein dazu passender realer Fall gesucht, bei diesem die Daten erhoben und wiederum ausführlich analysiert. Dieses Verfahren wurde so lange durchgeführt, bis eine Sättigung der sich entwickelnden Theorie eintrat.

Kapitel 3 „Formen von Pflegeverhältnissen: Die Fallmonographien“ beinhaltet auf über 60 Seiten die spannenden und umfassenden Fallmonographien von sechs erwachsenen Menschen und ihren Herkunftsfamilien sowie ihren (soweit es mehrere gab: jeweils letzten) Pflegefamilien. Die Fälle sind, wie bereits beschrieben, so gewählt worden, dass ein maximaler Kontrast zwischen ihnen wiederfindbar ist:

  • Zunächst wird der Fall „Dieter Werner“ vorgestellt. Dieter Werner fand nach einer seine Kindheit durchziehenden Jugendhilfekarriere mit vielen verschiedenen Lebensorten in der am Ersatzfamilienkonzept orientierten Pflegefamilie Hoffmann/Pauly ein Zuhause, von der er sich zum Ende der Untersuchung, als weit über 30jähriger erst langsam lösen konnte.
  • Danach wird der Fall „Gabriele Schubert“ vorgestellt. Gabrieles Pflegefamilie, eine im ländlichen Raum ansässige aus Osteuropa stammende Vertriebenenfamilie, nahm das Pflegekind bereits als Kleinstkind auf, ursprünglich geprägt von einem Ersatzfamilienkonzept, hat dann über die Jahre jedoch die Herkunftsmutter stark in die Familie mit integriert - soweit, dass diese Gabriele in der Kindheit täglich in der Pflegefamilie ins Bett gebracht hat. Gabriele konnte in der ständigen Verfügbarkeit der leiblichen Mutter und der Pflegeeltern eine Zugehörigkeit zu beiden Familien entwickeln.
  • In der Folge erfahren LeserInnen über den Fall „Pia Altdorf“, die im Alter von neun Jahren Vollwaise wurde, nachdem der Vater bereits mehrere Jahre vorher verstorben und auch vor seinem Tod kaum verfügbar war. Pia wohnte mehrere Jahre als Pflegekind bei der Familie ihres deutlich älteren leiblichen Bruders (=Verwandtenpflege), bis dieses Pflegeverhältnis im Jugendalter scheiterte und sie auf eigenen Wunsch Pflegekind der mit der Familie seit langem verbundenen Pfarrfamilie Steinbach wurde.
  • Danach folgt die Darstellung des Falls „Jakob Altdorf“. Jakob ist Pias leiblicher Bruder und wurde direkt nach dem Tod beider Eltern Pflegekind der Pfarrfamilie Steinbach, die die Autoren als ein halböffentliches Milieu, das einen minimalistischen Umgang mit Regeln pflegt, charakterisieren.
  • „Christoph Wilhelm“, Sohn eines Akademikerpaares, das mit der Geburt eines Kindes überfordert war, da es sich selbst noch nicht als autonomes Paar in der Abgrenzung zur Herkunftsfamilie konstituieren konnte, ist die nächste Fallmonographie gewidmet. Er lebte in seiner Kindheit in einem Kinderheim, und kam dann im Jugendalter in die „fachlich informierte Pflegefamilie Strauch“ (Kleinstheim/ Erziehungsstelle), wo er wesentliche Unterstützungsleistungen erhielt für seine positive Identitätsentwicklung.
  • In der selben fachlich informierten Pflegefamilie lebte „Lukas Lohe“ ab dem 14. Lebensjahr, nachdem er seine Kindheit größtenteils mit der leiblichen Mutter und einigen anderen Frauen in einer unkonventionellen, experimentierfreudigen Wohngemeinschaft im Stil der Studentenbewegung verbracht hatte.

In Kapitel 4 „Identitätsbildung von Kindern und Jugendlichen zwischen Herkunftsfamilie, Pflegefamilie und Jugendamt“ stellen die Autoren ausführlich die aus den Fallmonographien herausgearbeiteten Untersuchungsergebnisse dar. Zentrale Ergebnisse sind: Sozialisation verläuft immer triadisch - wenn eine Person der Triade ausfällt, werden immer die Bemühungen darauf fokussiert, diesen Ausfall zu kompensieren; Pflegefamilien zeichnen sich durch ein ständiges Ringen um Normalisierung aus und agieren als Familien im „als – ob – Modus“, d.h. die Pflegefamilie „handelt, als ob das Pflegekind ein eigenes sei, das einen unbedingten Anspruch auf Dauer, Verlässlichkeit und affektive Zuwendung hat, auch wenn diese Beziehung nur eine vorläufige ist und damit rechnen muss, dass das Pflegekind eine Beziehung zu seiner Herkunftsfamilie aufrecht erhalten will“ (S. 105); Pflegeeltern weisen häufig in den eigenen Biografien Erfahrungen von sozialer Desintegration, Entwurzelung und Ringen um Normalität auf – diese Erfahrung kann eine Ressource für die Bewältigung der Herausforderungen des Pflegeverhältnis sein; es gibt verschiedene Typen von Pflegeverhältnissen, die unterschiedliche Bindungsformen aufweisen – diese bergen spezifische Ressourcen, jedoch meist auch spezifische Risiken; die Biografieverläufe der Pflegekinder unterscheiden sich stark und lassen sich nicht einfach typisieren – „der Aufenthalt in der Pflegefamilie [ist] kein isolierbarer, monokausal bestimmbarer Einflussfaktor auf den Identitätsbildungsprozess“ (S. 113), sondern vielmehr ein Faktor unter vielen anderen – insbesondere außerfamiliale Einflüsse stellen einen weiteren wichtigen Faktor dar.

Im Fazit stellen die Autoren deutlich heraus, dass in allen (!) Fällen die Identitätsbildung angesichts extrem schwieriger Ausgangsbedingungen „insofern gelungen [ist], als die Pflegeeltern Beachtliches bei der Entwicklung lebenspraktischer Autonomie der Pflegekinder geleistet haben“ (S. 122). Gleichzeitig konstatieren sie, dass nicht jeder Pflegefamilientypus gleichermaßen dafür geeignet ist, gute Entwicklungsbedingungen für Kinder herzustellen und unterscheiden hier vor allem zwischen Laienpflegefamilien und ihrem spezifischen Konzept einer fachlich informierten Pflegefamilie.

Zielgruppe

Das Buch bietet weit über das Thema Pflegekinder und Pflegefamilien hinaus einen spannenden Einblick in die familienrekonstruktive Forschung, die Bruno Hildenbrand seit vielen Jahren betreibt.

Da es im Grundton theoretisch ist, wird es überwiegend wissenschaftlich interessierte LeserInnen ansprechen sowie theorieinteressierte und –orientierte PraktikerInnen aus dem Pflegekinderwesen und der Jugendhilfe.

Fazit

Die Untersuchung bietet wie die oben erfolgte Darstellung bereits andeutet einen reichhaltigen Fundus von neuen Ideen und Zugängen – die in sich keinen Abschluss darstellen, sondern vielmehr neue Fragestellungen aufwerfen und zu weiterer Forschung anregen.

Auf sehr eindrückliche Weise wird durch die Untersuchung der Streit um Ersatz – und Ergänzungsfamilie als Scheindiskussion enthüllt, die der Realität von Pflegeverhältnissen nicht entspricht. Die herausgearbeiteten Differenzierungen von Pflegefamilientypen mit spezifischen Ressourcen und Risiken eröffnen einen neuen Blick auf Pflegeverhältnisse, der sicherlich auch in der Praxis neue Handlungsoptionen eröffnen kann.

Durch die intensive familienrekonstruktive Analyse des Pflegekindes und seiner jeweils beiden Familien in jedem einzelnen Falle wird auf sehr anschauliche Weise deutlich, welch vielschichtigen Einflüssen Pflegeverhältnisse ausgesetzt sind und wie stark die biografischen Erfahrungen ALLER Akteure das Arrangement beeinflussen. An manchen Stellen kann es jedoch vorkommen, dass die dargestellten Zusammenhänge für LeserInnen nicht vollständig nachvollziehbar sind und konstruiert erscheinen: So werden teilweise recht gewagte, eindimensionale Hypothesen – beispielsweise über die Gründe der Partnerwahl einzelner Akteure oder die Motivation zur Aufnahme eines Pflegekindes (Stichwort: Wiedergutmachung) – aufgestellt, ohne diese weiter zu begründen oder deutlich als Hypothesen zu markieren.

In Bezug auf die Fragestellung nach Ressourcen bleibt die Untersuchung noch etwas blass, hier scheint noch weiterer Forschungsbedarf vorzuliegen.

Auch die Frage des Ringens um Normalität wirft weitere interessante Forschungsfragen auf.

Die Anforderungen, die gegen Ende der Darstellung an Pflegefamilien im Sinne der fachlich orientierten Pflegefamilie gestellt werden, sind sehr hoch und entsprechen weitgehend in der Praxis unerreichbaren Idealen. Dies wird von den Autoren leider nicht reflektiert. Aus sozialpädagogischer Sicht wäre es wichtiger, die Ressourcen und Schwächen der jeweiligen Pflegefamilie zu erkennen und angemessene professionelle Unterstützungsformen zu entwickeln.

Rezension von
Prof. Dr. Daniela Reimer
HAW Dep. Soziale Arbeit, Institut für Kindheit,Jugend und Familie
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Es gibt 3 Rezensionen von Daniela Reimer.

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Zitiervorschlag
Daniela Reimer. Rezension vom 02.04.2009 zu: Walter Gehres, Bruno Hildenbrand: Identitätsbildung und Lebensverläufe bei Pflegekindern. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2008. ISBN 978-3-531-15400-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/6310.php, Datum des Zugriffs 11.11.2024.


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