Oliver Marchart: Cultural studies
Rezensiert von Prof. Dr. Thomas Münch, 31.03.2009
Oliver Marchart: Cultural studies.
UVK Verlagsgesellschaft mbH
(Konstanz) 2008.
277 Seiten.
ISBN 978-3-8252-2883-5.
D: 17,90 EUR,
A: 18,40 EUR,
CH: 31,70 sFr.
Reihe: UTB - 2883.
Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-8252-4996-0 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.
Thema
Woody Allen paraphrasierend könnte man dieses Buch auch mit „was Sie immer schon über Cultural Studies wissen wollten, aber nie zu fragen wagten“ betiteln und bei der Lektüre fühlt man sich oft in den „Stadtneurotiker“ versetzt: Sie kennen ja alle die Stelle, wo sich Allen und Diane Keaton in der Kinokassenschlange von einem Klugschwätzer belästigt fühlen, der kenntnislos über den amerikanischen Kommunikationstheoretiker Marshall McLuhan schwafelt, um – es kann bei Allen ja nicht anders sein – seine weibliche Begleitung zu beeindrucken. Schließlich erträgt Allen die Schwafelei nicht mehr und bezichtigt den Vielredner der völligen Unwissenheit; der wehrt sich mit dem unschlagbaren Argument, er wäre schließlich Dozent für Kommunikationswissenschaft und Spezialist für eben diesen Marshall McLuhan. Eine Pattsituation. Doch Woody Allen wäre nicht Woody Allen, hätte er nicht auch hier eine Lösung: er greift in die Kulisse und der leibhaftige Marshall McLuhan steht gleichfalls an der Kinokasse und erklärt was er wirklich wirklich sagt und meint mit seiner Medientheorie. Völliger Sieg für Woody Allen und grenzenlose Niederlage für den Vielschwätzer!
Und so auch hier: Von redundanten Geschwätz über „Cultural Studies“ gequält; genervt von unverständlichem Derridada und lautem Lancancan, tritt Oliver Marchart aus den Kulissen und legt einen schmalen Band vor, der fast keine Fragen zum Thema mehr offen lässt.
Aufbau und Inhalt
Eingefasst ist der Text mit einer deutlichen politischen Verortung der Cultural Studies: „Die Wissenspraxis der Cultural Studies ist als eine Form der – mittelbaren – politischen Intervention zu verstehen“(252) und dieser Darstellung der politischen Perspektive der Cultural Studies als „Machtanalyse“ gilt auch sein ganzes Augenmerk. „Cultural Studies betreiben in letzter Instanz keine Kulturanalyse, sondern sie betreiben Machtanalyse anhand popularkultureller Phänomene und Formationen“(251); so fasst er diese seine Verortung präzise und klar und setzt sich das Ziel, „ein systematisches Modell einer oft als unübersichtlich wahrgenommenen Disziplin“(16) zu entwickeln.
In sechs Kapiteln entwickelt er dieses Modell; er beginnt beim„Cultural Turn“ den er systematisch, zeitlich und inhaltlich verortet im Kontext einer eingreifendes Wissenspraxis. Der folgende historische Abriss bindet die Theorieentwicklung an die Entwicklung der britischen Arbeiterklasse der sechziger und siebziger Jahre und ihre diversen Fraktionen der neuen Linken, er skizziert die unterschiedlichen Theoriefelder zwischen Strukturalismus und Kulturalismus, wobei er hier den prägenden und entscheidenden Einfluss der Hegemonietheorie von Gramsci betont. Prägend und entscheidend, weil gerade an dieser Stelle sehr deutlich wird, wie sich hier das politische Denken nach Marx aus der Dichotomie von „Basis und Überbau“ bzw. der Determination des letzteren durch die erste befreit.
Es folgen faktengesättigte Abrisse der Organisationsentwicklung im Umfeld des „Centre for Contemporary Cultural Studies“ (CCCS) in Birmingham und der dort in den „Subcultural Studies“ realisierten „Entdeckung der Jugend“, sowie der „Media Studies“ und der ihnen zu Grunde liegenden Kommunikationstheorien.
Kapitel 5 klärt auf über das „Mantra“ der Cultural Studies aus „race, class, gender, etcetera“, wobei dem „etcetera“ ein eigenes Kapitel gewidmet ist; ein Kapitel welches nochmals die prinzipielle und konstitutive Offenheit der Studies deutlich macht. „Dieses ‚usw.‘ ist das supplément, der Überschuß, der zwangsläufig jeden Versuch, die Identität ein für allemal zu setzen, begleitet“(210) so zitiert er Judith Butler in diesem Kapitel und Stuart Hall lässt er mit dem schönen Zitat, dass „der symbolischen Gefangenschaft im Stereotyp in der Regel niemand völlig ausgeliefert ist“ (211) zu Worte kommen.
Im letzten Kapitel entwickelt Marchart einen Begriff der Cultural Studies als Gesellschaftstheorie und politische Analyse; auch hier wieder - wie im gesamten Text - faktengestützt durch die langjährige Praxis des CCCS, wie zum Beispiel Stuart Halls 1988 vorgelegte Thatcherismus Analyse.
Fazit
Mit „Cultural Studies“ hat Oliver Marchart eine Einführung in die Thematik vorgelegt, die aus mehreren Gründen erfreulich ist: In guter angelsächsischer Wissenschaftstradition (Marchart hat in England promoviert) wird ein komplexes Feld durchschaubar und überschaubar gemacht, indem in klarer und deutlicher Sprache Begriffe und Begriffsentwicklungen, Theorieansätze und Theorieentwicklungen, politische Komplexe in ihrer Verschränkung mit Wissenschaft und die Entwicklung einer „eingreifenden Wissenschaft“ in ihrer Zeit deutlich gemacht werden. Alle wesentlichen Theorieansätze werden eingeführt und erläutert, alle wesentlichen Persönlichkeiten des Feldes dargestellt – dies durchgängig im Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis.
Als Einführung für Studierende bietet dieser Band einen konzisen und breiten Einstieg in das Feld der Cultural Studies, als Lektüre für Fortgeschrittene rekapituliert er alle, wirklich alle wesentlichen Entwicklungsstränge und in der deutlichen Verortung der „Studies“ als „eingreifende“, als interventionistische Praxis wird die Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart auf hohem wissenschaftlichen und politischen Niveau geleistet.
Im oftmals unüberschaubaren und undurchschaubaren Publikationsfeld zum Thema ragt der Band solitär heraus; selten wird ein dem Gegenstand angemessenes theoretisches Niveau mit einem solch hohen Lesevergnügen und einer luziden Sprachverwendung gekoppelt.
Und wenn Ihnen in der nächsten Kinowarteschlange ein redundanter Vielschwätzer mit inkompetenten Gerede über Cultural Studies die Nerven raubt, geben Sie doch einfach folgendes Zitat von Stuart Hall zum Besten: “Cultural Studies gehen davon aus, daß es einer Menge an theoretischer Arbeit bedarf, um die Dunkelheit des Offensichtlichen zu erhellen“(5) – Woody Allen könnte es nicht besser machen!
Rezension von
Prof. Dr. Thomas Münch
Hochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
Fach Verwaltung und Organisation
Es gibt 15 Rezensionen von Thomas Münch.
Zitiervorschlag
Thomas Münch. Rezension vom 31.03.2009 zu:
Oliver Marchart: Cultural studies. UVK Verlagsgesellschaft mbH
(Konstanz) 2008.
ISBN 978-3-8252-2883-5.
Reihe: UTB - 2883.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/6326.php, Datum des Zugriffs 06.12.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.